| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 29.9.1988 (IV R 217/85) BStBl. 1989 II S. 196

1. Wartet der Erbe den Gewinnfeststellungsbescheid für die Erbengemeinschaft betreffend das Todesjahr des Erblassers ab, ohne sich beim Testamentsvollstrecker über die Einkommens- und Vermögenssituation zu informieren, liegt nach dem Verstreichen der Fristen des § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG und des § 110 Abs. 3 AO 1977 kein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigender Fall höherer Gewalt vor.

2. Ergeht nach Ablauf der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG ein Gewinnfeststellungsbescheid, der bei rechtzeitigem Antrag eine Einkommensteuerveranlagung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b EStG rechtfertigen würde, kann nicht unter Berufung auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 begehrt werden, den bestandskräftigen Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid ungeachtet des Fristablaufs durch Vornahme einer Einkommensteuerveranlagung zu ändern.

EStG 1977 § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b und Satz 2; AO 1977 § 110, § 175 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Schleswig-Holstein

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erzielte im Streitjahr 1977 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Auf ihren Antrag führte das Finanzamt A durch Bescheid vom 10. November 1978 den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1977 durch. Am 12. März 1977 wurde die Klägerin Miterbin nach dem an diesem Tage verstorbenen G. Lt. Mitteilung des Finanzamts B vom 27. April 1984, die an den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt - FA -) gerichtet war, sind der Klägerin aufgrund ihrer Beteiligung an der Erbengemeinschaft nach dem verstorbenen G für das Jahr 1977 lt. Feststellungsbescheid vom 30. Juni 1983 zuzurechnen:

- Einkünfte aus Gewerbebetrieb                                                 ./. 14.889 DM

- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung                             ./.      868 DM

- und Einnahmen aus Kapitalvermögen                                           15.562 DM.

Lt. Mitteilung des Finanzamts C vom 25. März 1983 sind der Klägerin des weiteren aufgrund ihrer Beteiligung an einem Anlage-Fonds für das Jahr 1977 zuzurechnen:

- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung                             ./. 171,94 DM

- Einnahmen aus Kapitalvermögen                                                    2,28 DM.

Die Summe der Einkünfte, die die Klägerin neben ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 19.505 DM erzielt hat, beläuft sich demnach wie folgt:

- Einkünfte aus Gewerbebetrieb                                                 ./. 14.889 DM

- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung                              ./.  1.040 DM

- Einkünfte aus Kapitalvermögen

  (Einnahmen: 15 564 DM ./. 400 DM

   Werbungskostenpauschbetrag und

   Sparerfreibetrag)                                                                   +  15.164 DM

                                                                                                 -----------------

Summe                                                                                   ./.    765 DM.

Mit Schreiben vom 23. März 1984 stellte die Klägerin beim FA den Antrag, eine Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1977 durchzuführen, da sie wegen der Ergebnisse des Feststellungsbescheids vom 30. Juni 1983 mit einer Steuererstattung rechne. Das FA lehnte dieses Begehren mit Bescheid vom 15. Mai 1984 ab und hielt an dieser Auffassung in der Einspruchsentscheidung vom 8. Oktober 1984 fest. Es führte zur Begründung aus, daß es für eine Antragsveranlagung i.S. des § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes (EStG) an der Einhaltung der Zweijahresfrist des § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG fehle. Wiedereinsetzungsgründe i.S. des § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) seien nicht erkennbar. Eine Veranlagung von Amts wegen könne nicht erfolgen, da entgegen der Auffassung der Klägerin die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 die Voraussetzungen für einen Folgebescheid, wie sie in den Einzelsteuergesetzen vorgesehen seien und sich im Streitfall aus § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b i.V.m. Abs. 2 Satz 2 EStG ergäben, nicht verdränge.

Mit der Klage verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter und beantragt, das FA unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen zu verpflichten, die beantragte Veranlagung zur Einkommensteuer 1977 gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b EStG durchzuführen. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Die Klägerin hat in nicht entschuldbarer Weise die in § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG 1977 gesetzte Frist von zwei Jahren, die im Falle der Einkommensteuerveranlagung auf Antrag zu wahren ist, versäumt. Diese Frist ist einzuhalten, wenn - wie im Streitfall - eine Veranlagung zur Berücksichtigung von Verlusten aus einer anderen Einkunftsart als derjenigen aus nichtselbständiger Arbeit begehrt wird (§ 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b EStG 1977). Für solche Verluste, die im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1977 bei der Klägerin hätten berücksichtigt werden können, lief die Antragsfrist am 31. Dezember 1979 ab; die Klägerin hat jedoch den Antrag auf Veranlagung erst mit Schreiben vom 23. März 1984 gestellt. Eine andere, nämlich zeitlich frühere Willensbekundung der Klägerin, der das Begehren auf Durchführung der Veranlagung mit hinreichender Deutlichkeit hätte entnommen werden können (vgl. zuletzt Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. September 1987 III R 235/84, BFHE 151, 384, BStBl II 1988, 249), ist nicht feststellbar.

Die von der Klägerin versäumte Frist ist eine nicht verlängerbare Ausschlußfrist (BFH-Urteile vom 8. Mai 1979 VIII R 78/77, BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676, und vom 3. Juni 1986 IX R 121/83, BFHE 148, 232, BStBl II 1987, 421). Das FG hat demgemäß das Vorbringen der Klägerin, mit dem sie zur Fristversäumnis Stellung nimmt, als Antrag gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behandelt. Die rechtliche Beurteilung des FG, daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme, läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Zutreffend stützt sich das FG auf die Regelung in § 110 Abs. 3 AO 1977, derzufolge nach Ablauf eines Jahres seit dem Ende der versäumten Frist ein Wiedereinsetzungsantrag nicht mehr gestellt werden kann, es sei denn, es läge ein Fall von höherer Gewalt vor.

Der Fristablauf i.S. des § 110 Abs. 3 AO 1977 trat im Streitfall mit Ablauf des 31. Dezember 1980 ein. Ein Fall von höherer Gewalt ist nicht ersichtlich. Höhere Gewalt ist ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch äußerste, nach Lage der Sache vom Betreffenden zu erwartende Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 110 AO 1977 Rdnr. 28; Koch, Abgabenordnung - AO 1977, 3. Aufl., § 110 Rdnr. 71; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 110 AO 1977 Anm. 7; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 110 AO 1977 Rdnrn. 152 ff.). Hierfür hat die Klägerin nichts glaubhaft gemacht. Nach ihrer eigenen Einlassung hat sie sich in der fraglichen Zeit über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Erblassers nicht informiert, so daß ihr infolgedessen die Notwendigkeit einer (möglicherweise vorsorglichen) Antragstellung gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 Buchst. b EStG verschlossen blieb. Die Klägerin hat insbesondere nicht dargetan, welche besonderen Gründe im Sinne einer höheren Gewalt es ihr unmöglich gemacht haben, bei dem in räumlicher Nähe tätigen Testamentsvollstrecker (einem Rechtsanwalt) in der Zeit vom Tode des Erblassers am 12. März 1977 bis zum 31. Dezember 1980 Informationen im Hinblick auf die sich hieraus für sie ergebenden steuerlichen Auswirkungen einzuholen.

2. Auf vorstehende Erwägungen käme es allerdings nicht an, wenn der Rechtsstandpunkt der Klägerin zutreffend wäre, es sei kein Fall der Antragsveranlagung gegeben; vielmehr müsse wegen § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 eine Veranlagung von Amts wegen erfolgen, um den Erstbescheid (in Gestalt des Bescheides über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1977 vom 10. November 1978) wegen des zeitlich nachfolgenden Gewinnfeststellungsbescheides für die Erbengemeinschaft nach dem verstorbenen G vom 30. Juni 1983 zu ändern.

Dieser Rechtsauffassung ist bereits der IX. Senat des BFH im Urteil vom 8. April 1986 IX R 212/84 (BFHE 147, 122, BStBl II 1986, 790) entgegengetreten. Er hat ausgeführt, daß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 als Teil der in §§ 172 bis 177 AO 1977 getroffenen Regelungen die Voraussetzungen der Durchbrechung der (materiellen) Bestandskraft (des Erstbescheides) betreffe, also nur die Befugnis zur Änderung bereits bestandskräftiger Bescheide. Diese Befugnis beseitige aber nicht die Präklusionswirkung nach § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG und das sich daraus ergebende Hindernis für den Erlaß eines Änderungs- bzw. Folgebescheids.

Nach Auffassung des erkennenden Senats stellt sich die Frage nach den Grenzen einer Anpassungspflicht (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO 1977 Rdnr. 3) bei Berücksichtigung der Entscheidung des Großen Senats vom 21. Oktober 1985 GrS 2/84 (BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207) nicht. Der Große Senat hat die Auffassung eingenommen, daß der Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich (§ 42 Abs. 5 EStG) nicht über einen Steueranspruch befinde, sondern über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Steuererstattungsanspruchs entscheide. Einkommensteuerbescheide und Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheide hätten aufgrund ihrer unterschiedlichen Zielsetzung einen anderen Regelungsinhalt. Bei Bescheiden i.S. des § 42 Abs. 5 EStG werde lediglich ausgesprochen, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung von der Lohnsteuer in vollem Umfang, zum Teil oder nicht gegeben seien; nur durch diese Aussage werde der Umfang der Bestandskraft bestimmt. Die inzidenter dem Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid zugrunde liegende Ansicht des FA, es sei keine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen, nehme an dieser Bestandskraft nicht teil; hieraus folge, daß ein bestandskräftiger Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid das FA nicht hindere, denselben Steuerpflichtigen für dasselbe Kalenderjahr unter den Voraussetzungen des § 46 EStG zu veranlagen.

Aus dieser Beurteilung vom unterschiedlichen Regelungsinhalt des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids einerseits und des Einkommensteuerbescheids andererseits folgt, daß eine Änderung des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids nach Maßgabe der §§ 172 ff. AO 1977 nur in einen Bescheid gleicher Art, wenn auch betragsmäßig anderen Inhalts einmünden kann; es bleibt bei einer Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Lohnsteuererstattungsanspruchs. Ein Gewinnfeststellungsbescheid hingegen, der (neben möglichen anderen Besteuerungsgrundlagen) auf die Ermittlung eines Steueranspruchs für den Veranlagungszeitraum hinführt, hat deswegen keine inhaltliche Verbindung zu einem etwaig vorausgegangenen Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren für denselben Zeitraum. Der Gewinnfeststellungsbescheid ist entweder in ein durchgeführtes oder laufendes Veranlagungsverfahren einzubringen oder setzt im Ausnahmefall - so im Streitfall - ein solches Veranlagungsverfahren in Gang. In Anbetracht der dargestellten Verschiedenheit des Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahrens und des Veranlagungsverfahrens sowie der in beiden Verfahren ergehenden Bescheide ist eine Verknüpfung beider Verfahren über die Vorschriften der §§ 172 ff. AO 1977 auszuschließen.

Infolgedessen kann bei einer Verfahrenssituation, wie sie den Streitfall kennzeichnet, ein Veranlagungsverfahren nur in Gang gesetzt werden, wenn die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen bestehen. Hätte die Klägerin sonstige positive Einkünfte zu verzeichnen, stünde der Veranlagung der Eintritt der Festsetzungsverjährung nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 170 Abs. 1 AO 1977 entgegen. Eine Veranlagung der im Streitfall gegebenen sonstigen negativen Einkünfte kann wegen der Präklusionswirkung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG nicht erfolgen.

3. Die von der Klägerin gegen die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Satz 2 EStG vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken teilt der erkennende Senat nicht; er tritt den diesbezüglichen Ausführung im Urteil in BFHE 147, 122, BStBl II 1986, 790 bei.