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BFH-Urteil vom 8.11.1988 (VII R 141/85) BStBl. 1989 II S. 219

Für die nach der Abgabenordnung 1977 zu beurteilende Haftung eines Geschäftsführers kann bei grob fahrlässiger Pflichtverletzung - anders als nach früherem Recht (vgl. BFH-Urteil vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508) - nicht mehr von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung des FA ausgegangen werden.

AO §§ 103, 109; AO 1977 §§ 34, 69, 191.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Kläger und Revisionskläger (Kläger) zu Recht als Haftenden für einbehaltene, aber nicht abgeführte Lohnsteuer in Anspruch genommen hat.

Der Kläger war im streitigen Zeitraum Geschäftsführer einer GmbH, über deren Vermögen im April 1980 das Konkursverfahren eröffnet wurde. Mit Haftungsbescheid vom 7. November 1980 in der Form des zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Änderungsbescheides (§ 68 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) vom 11. Februar 1985 nahm das FA den Kläger gemäß §§ 69, 34, 191 der Abgabenordnung (AO 1977) für nicht entrichtete Lohn- und Kirchensteuer 12/79 und 1/80 und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 20.080,90 DM in Anspruch.

Die nach erfolglosem Einspruch mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger habe durch die nicht rechtzeitige Abführung der einbehaltenen Steuerabzugsbeträge eine - mindestens grob fahrlässige - Pflichtverletzung begangen und dadurch die Steuerverkürzung herbeigeführt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), der sich das FG anschließe, sei die Frage des Verschuldens bei der Abführung einbehaltener Lohnsteuer streng zu beurteilen (vgl. BFH-Urteile vom 21. Januar 1972 VI R 187/68, BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364, und vom 20. April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521), was im System des Lohnsteuer-Abzugsverfahrens seine Ursache habe.

Da der Kläger den Haftungstatbestand mindestens grob fahrlässig erfüllt habe, sei es ohne Bedeutung, daß das FA die für die Ermessensausübung bei der Haftbarmachung maßgebenden Erwägungen nicht ausdrücklich in den Haftungsbescheid oder die Einspruchsentscheidung aufgenommen habe. Denn durch die im Rahmen des § 69 AO 1977 getroffene Rechtsentscheidung sei die Ermessensentscheidung so weitgehend vorgeprägt gewesen, daß sich besondere Ausführungen hierzu erübrigt hätten (Hinweis auf das BFH-Urteil vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 unter Ziffer 1 a.E.).

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Es kann im Streitfall auf sich beruhen, ob die Nichtabführung der Lohnsteuer für den in Rede stehenden Haftungszeitraum (Lohnsteuer 12/79 und 1/80) auf einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung des Klägers in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der GmbH beruhte. Denn der - geänderte - Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung sind - unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils - jedenfalls deshalb aufzuheben, weil nicht erkennbar ist, daß das FA bei der Inanspruchnahme des Klägers von seinem Ermessen Gebrauch gemacht hatte.

1. Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. BFH-Urteile in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Insbesondere muß die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder an Stelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt.

2. Im Streitfall enthalten weder der Haftungsbescheid (auch nicht in Form des Änderungsbescheids vom 11. Februar 1985) noch die Einspruchsentscheidung vom 30. März 1981 irgendwelche Ausführungen zur Ermessensausübung bei der Inanspruchnahme des Klägers. Erwägungen dieser Art sind den genannten Verwaltungsakten auch nicht mittelbar zu entnehmen. Dabei steht nicht fest, daß der Kläger der alleinige Geschäftsführer der GmbH gewesen ist, so daß die Frage des Auswahlermessens möglicherweise nicht gesehen, jedenfalls nicht angesprochen ist. Die für die Inanspruchnahme maßgebenden Verwaltungsakte sind somit im Ergebnis rechtsfehlerhaft.

3. Das FG hat das Fehlen ausdrücklicher Ermessenserwägungen für unschädlich erachtet, weil - nach seiner Auffassung - dem Kläger grobe Fahrlässigkeit anzulasten sei und deshalb die Ermessensausübung so weitgehend vorgeprägt gewesen sei, daß sich besondere Ausführungen hierzu erübrigt hätten. Das FG beruft sich hierbei auf das Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508. Dieses Urteil ist jedoch ergangen zu einem Sachverhalt, der noch dem alten Recht (§ 109 der Reichsabgabenordnung - AO -) unterlag, nach dem jedwede Verschuldensform - also auch leichte Fahrlässigkeit - bereits tatbestandlich haftungsbegründend war. Seit dem Inkrafttreten der AO 1977, welcher der hier vorliegende Streitfall unterliegt, ist in diesem Punkt eine wesentliche Änderung insofern eingetreten, als das Gesetz (§ 69 AO 1977) nunmehr die Haftbarmachung des Geschäftsführers auf das Vorliegen einer grob fahrlässigen (oder vorsätzlichen) Pflichtverletzung beschränkt, leichte Fahrlässigkeit also - bereits tatbestandlich - nicht mehr genügen läßt. Damit ist die Differenzierung nach verschiedenen Fahrläßigkeitsbegriffen, von der das genannte Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, aufgrund der damaligen Rechtslage für den Bereich der Ermessensausübung erkennbar ausgegangen ist, überholt. Nachdem das Gesetz die Haftung des Geschäftsführers nur noch an das Vorliegen der erhöhten Verschuldensformen knüpft, würde sich sonst bei Erfüllung seiner tatbestandlichen Voraussetzungen in sämtlichen Fällen eine sachgerechte Ermessensausübung erübrigen und deren Kenntlichmachung entbehrlich sein. Damit würde die Ermessensvorschrift des § 191 Abs. 1 AO 1977 praktisch leerlaufen. Dies aber ginge über die in dem o.g. BFH-Urteil gemachte Aussage hinaus und wäre mit den für die sachgerechte Ausübung verwaltungsmäßigen Ermessens maßgebenden Grundsätzen (oben Ziff. 1) nicht mehr zu vereinbaren. Der erkennende Senat ist deshalb der Auffassung, daß eine Vorprägung der Ermessensentscheidung wegen Vorliegens grober Fahrlässigkeit nach der seit 1. Januar 1977 bestehenden Rechtslage nicht mehr anerkannt werden kann (ebenso Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Tz. 90 zu § 191 AO 1977 unter Hinweis auf das Urteil des Niedersächsischen FG vom 27. Juli 1982 XI 351/81, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1983, 155, und Urteil des FG des Saarlandes vom 25. Juli 1985 II 94/81, nicht veröffentlicht). Ob eine solche Vorprägung bei Vorliegen einer vorsätzlichen Pflichtverletzung in Betracht gezogen werden kann, braucht der erkennende Senat hier nicht zu entscheiden. Er bemerkt jedoch, daß insoweit die Gründe der früheren Rechtsprechung auch nach neuem Recht fortbestehen dürften.

Da das FG zu einem anderen Ergebnis gelangt ist, ist seine Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung vom 30. März 1981 ist wegen mangelnder Begründung der Ermessensentscheidung aufzuheben.