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BFH-Urteil vom 16.12.1988 (III R 13/85) BStBl. 1989 II S. 328

1. Ist die Klage verspätet erhoben worden, so beginnt die Wiedereinsetzungsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO mit der Bekanntgabe der gerichtlichen Mitteilung über den Zeitpunkt des Klageeingangs.

2. Die Pflicht zur Überprüfung der Rechtzeitigkeit des Klageeingangs anhand der Eingangsmitteilung des Gerichts hängt nicht davon ab, daß konkrete Anhaltspunkte für eine Fristversäumnis vorliegen.

FGO § 56 Abs. 2.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

I.

Mit Schriftsatz vom 8. März 1983, der beim Finanzgericht (FG) am 9. März 1983 einging, erhob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) gegen die ihm am 8. Februar 1983 durch Postzustellungsurkunde zugestellte Einspruchsentscheidung wegen Einkommensteuer 1977 bis 1980 Klage. Die Eingangsmitteilung des Gerichts, in der der Eingang der Klage am 9. März 1983 bestätigt wurde, ging dem Prozeßbevollmächtigten am 17. März 1983 zu. Am 30. März 1983 sandte das FG die Klageerwiderung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vom 24. März 1983, in der auf den verspäteten Klageeingang hingewiesen wurde, an den Prozeßbevollmächtigten ab und forderte ihn gleichzeitig unter Hinweis auf § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf, etwaige Wiedereinsetzungsgründe binnen zwei Wochen geltend zu machen.

Mit Schreiben vom 7. April 1983 (Eingang beim FG am 12. April 1983) beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trug er vor, daß der von ihm ausdrücklich erteilte Auftrag, die Klageschrift noch am 8. März 1983 zur Fristwahrung persönlich beim FG einzureichen, von einem ansonsten zuverlässigen und bewährten Angestellten versehentlich nicht ausgeführt und das Schriftstück weisungswidrig mit der Post befördert worden sei.

Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Es gewährte wegen der Versäumung der Klagefrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO im Streitfall schuldhaft nicht eingehalten worden sei. Denn der Bevollmächtigte hätte bereits durch die Bekanntgabe der gerichtlichen Mitteilung über den Zeitpunkt des Klageeingangs von der Fristversäumnis erfahren oder sie zumindest bei Einhaltung der ihm obliegenden Sorgfalt zur Kenntnis nehmen können und müssen.

Mit seiner vom Bundesfinanzhof (BFH) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 56 FGO und Verfahrensfehler.

Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Der Senat kann mangels ausreichender Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob dem Kläger wegen Versäumung der Klagefrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO zu gewähren ist.

1. Allerdings ist das FG zutreffend davon ausgegangen, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO versäumt hat. Zwar war im Streitfall ein ausdrücklicher Wiedereinsetzungsantrag nicht erforderlich, weil die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden ist (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO); jedoch sind nach ständiger Rechtsprechung auch in diesem Fall die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs innerhalb der Antragsfrist vorzutragen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juli 1973 IV R 204/69, BFHE 110, 232, BStBl II 1973, 823, m.w.N.). Dies ist im Streitfall nicht geschehen. Denn die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO begann bereits mit dem Zugang der gerichtlichen Eingangsmitteilung am 17. März 1983.

a) Das Hindernis für die Einhaltung einer gesetzlichen Frist fällt weg, sobald die Partei oder ihr Prozeßbevollmächtigter erkannt hat oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, daß die Frist versäumt ist (vgl. BFH-Urteil vom 18. Mai 1966 II 110/63, BFHE 86, 257, BStBl III 1966, 561; Beschluß vom 30. Juni 1967 VI R 248/66, BFHE 89, 330, BStBl III 1967, 613; Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 12. Juli 1979 VII ZB 7/79, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1980, 205; BGH-Urteil vom 21. März 1980 V ZR 128/79, Versicherungsrecht - VersR - 1980, 678, und BGH-Beschluß vom 29. Juni 1982 VI ZB 6/82, VersR 1982, 971; vgl. auch Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 56 Anm. 41; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 45. Aufl., § 234 Anm. 2). Da der Beginn der Antragsfrist keine positive Kenntnis von der Fristversäumnis voraussetzt, bedarf es grundsätzlich keines ausdrücklichen Hinweises des Gerichts auf den verspäteten Klageeingang; das Hindernis entfällt vielmehr schon in dem Zeitpunkt, in dem dem Prozeßbeteiligten oder seinem Vertreter Umstände bekanntwerden, aus denen sich begründete Zweifel an der Einhaltung der Frist ergeben können, bei deren Weiterverfolgung die Fristversäumnis aufgedeckt worden wäre (vgl. BGH-Beschluß vom 19. März 1974 VI ZB 1/74, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1974, 994).

b) Aus der Angabe des Zeitpunkts des Eingangs der Klage bei Gericht können sich auch ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Fristversäumnis derartige begründete Zweifel an der Rechtzeitigkeit des Klageeingangs ergeben. Der Empfänger kann sich aufgrund dieser Angabe unschwer Kenntnis darüber verschaffen, daß die Klagefrist durch einen unabwendbaren Zufall versäumt sein kann.

Der erkennende Senat folgt deshalb der in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung, daß die Wiedereinsetzungsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO grundsätzlich mit der Bekanntgabe der gerichtlichen Eingangsbestätigung beginnt (vgl. Urteile des FG Baden-Württemberg vom 10. August 1977 V 137/76, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1977, 595; des FG Düsseldorf vom 25. Oktober 1978 II 594/76 K, 595/76 UM, EFG 1979, 295, und des FG Nürnberg vom 18. Dezember 1984 II 55/82, EFG 1985, 354; ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 56 FGO Tz. 5; a.A. lediglich FG Düsseldorf, Urteil vom 28. April 1981 I 275/80 F, EFG 1981, 636).

c) Der Eingangsmitteilung des Gerichts ist schon deshalb besondere Beachtung zu schenken, weil regelmäßig erst durch sie dem Kläger Gewißheit darüber verschafft wird, daß seine Klage überhaupt bei Gericht eingegangen ist. Ihre gleichzeitige Eignung zur Überprüfung der Rechtzeitigkeit des Klageeingangs wird entgegen der Auffassung des FG Düsseldorf in EFG 1981, 636 nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie vorrangig der bloßen Bestätigung des Klageeingangs und der Bekanntgabe des Aktenzeichens dient und in Fällen der Anbringung der Klage beim FA möglicherweise ein unzutreffendes Eingangsdatum wiedergibt. Entscheidend ist, daß diese Mitteilung den Empfänger in die Lage versetzt, sich bereits zu einem Zeitpunkt Gewißheit über die Rechtzeitigkeit des Klageeingangs zu verschaffen, zu dem dem Gericht im Regelfall wie auch hier das Zustelldatum der Einspruchsentscheidung noch nicht bekannt ist. Mögliche Zweifel über die Richtigkeit des von der Geschäftsstelle des Gerichts festgestellten Eingangszeitpunkts können hierbei durch kurzfristige Rückfrage bei Gericht innerhalb der Zweiwochenfrist geklärt werden.

Die Verpflichtung zu möglichst zeitnaher Darlegung der Wiedereinsetzungsgründe entspricht auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Denn die kurze Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO soll gerade eine zügige und sachgemäße Behandlung des Wiedereinsetzungsbegehrens gewährleisten, um die Unsicherheit, ob es bei den Folgen der Fristversäumnis bleibt oder nicht, in engen Grenzen zu halten (vgl. BFH-Urteil vom 15. Dezember 1977 VI R 179/75, BFHE 124, 141, BStBl II 1978, 240).

d) Die Pflicht zur Überprüfung der Rechtzeitigkeit des Klageeingangs anhand der Eingangsmitteilung des Gerichts hängt nicht davon ab, daß konkrete Anhaltspunkte für eine Fristversäumnis vorliegen. Vielmehr gehört es auch ohne einen besonderen Anlaß zu den Pflichten des Prozeßbevollmächtigten, den rechtzeitigen Eingang der Klage zu überwachen oder durch geeignetes Personal überwachen zu lassen (vgl. BGH-Beschluß in VersR 1982, 971). Es ist deshalb entgegen der Auffassung der Revision unerheblich, ob die Klage dem FG durch die Post oder durch Boten übermittelt wird. Auch im letzteren Fall besteht im übrigen keine Gewähr dafür, daß die Klage rechtzeitig eingeht. Ob etwas anderes zu gelten hätte, wenn der Prozeßbevollmächtigte die Klageschrift persönlich bei Gericht abgibt, bedarf im Streitfall keiner Entscheidung.

2. Die Vorentscheidung muß jedoch aufgehoben werden, weil das FG nicht hinreichend geklärt hat, ob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, dessen Verschulden sich dieser wie eigenes Verschulden anrechnen lassen muß (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) schuldhaft an der Einhaltung der Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO, bei deren Versäumung ebenfalls Wiedereinsetzung gewährt werden kann (vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 56 Anm. 40), verhindert war.

a) Allerdings konnte das FG ohne Rechtsverstoß zu dem Ergebnis gelangen, daß der Prozeßbevollmächtigte durch die Nichtbeachtung der Eingangsmitteilung die nach den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht beachtet hat (vgl. zum Verschuldensmaßstab BFH-Urteil vom 8. Oktober 1981 IV R 108/81, BFHE 134, 388, BStBl II 1982, 165, m.w.N.). Die in diesem Zusammenhang erhobene Sachaufklärungsrüge greift nicht durch. Für das FG drängte es sich gerade nicht auf, Nachforschungen darüber anzustellen, ob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers seinen Angestellten eine generelle Anweisung erteilt hatte, die Rechtzeitigkeit des Klageeingangs anhand der Eingangsmitteilung zu überprüfen. Denn für ein das Verschulden des Bevollmächtigten insoweit ausschließendes Büroversehen lagen schon deshalb keine Anhaltspunkt vor, weil dieser in seinem Wiedereinsetzungsgesuch lediglich vorgetragen hatte, erstmals durch das Schreiben des FG vom 29. März 1983 von der Nichteinhaltung der Klagefrist erfahren zu haben. Soweit der Bevollmächtigte erstmals mit der Revision vorträgt, daß sein Angestellter die Eingangsmitteilung weisungswidrig nicht ausgewertet hat, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden kann (§ 118 Abs. 2 FGO). Er könnte mit diesem Wiedereinsetzungsgrund jedoch auch vor dem FG nicht mehr gehört werden, da der betreffende Sachverhalt erst nach Ablauf der Zweiwochenfrist vorgetragen worden ist.

b) Das FG hat jedoch bei der Prüfung des Verschuldens außer acht gelassen, daß es den Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit Verfügung vom 29. März 1983 unter Hinweis auf § 56 FGO ausdrücklich aufgefordert hat, etwaige Wiedereinsetzungsgründe binnen zwei Wochen geltend zu machen. Zwar ist davon auszugehen, daß mit diesem Schreiben keine erneute Fristsetzung für die ohnehin nicht verlängerbare Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO (vgl. § 54 Abs. 2 FGO i.V.m. § 224 Abs. 2 ZPO) beabsichtigt war, sondern lediglich auf den Regelungsinhalt des § 56 FGO Bezug genommen werden sollte. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, daß bei dem Prozeßbevollmächtigten infolge dieser - zumindest mißverständlichen - Verfügung ein schuldausschließender Irrtum entstehen konnte und dieser ursächlich für die Versäumung der Antragsfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO war. Daß der Prozeßbevollmächtigte im Wiedereinsetzungsgesuch auf diesen Umstand nicht hingewiesen hat, entband das FG nicht von seiner Prüfungspflicht, da die Tatsachen, aus denen sich ein mangelndes Verschulden an der Fristversäumnis ergeben konnte, dem Gericht insoweit selbst bekannt waren (vgl. hierzu Senatsurteil vom 26. November 1976 III R 125/74, BFHE 121, 15, BStBl II 1977, 246).

Allerdings konnte der Prozeßbevollmächtigte in einer sein Verschulden ausschließenden Weise an der rechtzeitigen Geltendmachung der Wiedereinsetzungsgründe nur gehindert sein, falls ihm die gerichtliche Verfügung vom 29. März 1983 tatsächlich vor Ablauf der Zweiwochenfrist am 31. März 1983 zugegangen ist. Das FG wird bei seiner erneuten Verhandlung und Entscheidung insbesondere hierzu die erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben.