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  BFH-Beschluß vom 14.4.1989 (III B 5/89) BStBl. 1990 II S. 351

Selbst grobe Schätzungsfehler bei der Feststellung von Besteuerungsgrundlagen führen regelmäßig nicht zur Nichtigkeit der darauf beruhenden Bescheide.

AO 1977 § 125 Abs. 1, § 162.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) hat im September 1984 seinen Gewerbebetrieb, einen Lebensmitteleinzelhandel, eröffnet und im September 1986 eingestellt. Für das Wirtschaftsjahr 1984 wurde ein Verlust von 4.919,41 DM erklärt. Da der Antragsteller für die Streitjahre 1985 und 1986 keine Erklärungen zur gesonderten Gewinnfeststellung und zur Gewerbesteuer abgegeben hatte, schätzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen; er schätzte die Umsätze für 1985 auf 950.000 DM und für 1986 auf 700.000 DM und setzte den Gewinn des Antragstellers aus Gewerbebetrieb mit 400.000 DM für 1985 und mit 206.000 DM für 1986 fest. Gegen den darauf beruhenden Gewinnfeststellungsbescheid 1985 vom 14. Januar 1988, den Gewinnfeststellungsbescheid 1986 (ohne Datum), den Gewerbesteuermeßbescheid 1985 vom 19. Februar 1988 sowie den Gewerbesteuermeßbescheid 1986 vom 31. März 1988 legte der Antragsteller keinen Einspruch ein. Nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen stellte er jedoch den Antrag, die Gewinnfeststellungsbescheide und Gewerbesteuermeßbescheide 1985 und 1986 für nichtig zu erklären. Das FA lehnte den Antrag ab. Über die Einsprüche ist noch nicht entschieden.

Der Antragsteller beantragte beim Finanzgericht (FG) eine einstweilige Anordnung, die streitigen Bescheide wegen Nichtigkeit nicht der Besteuerung zugrunde zu legen. Zur Begründung führte er aus, die für die Streitjahre angesetzten Reingewinnsätze lägen erheblich über dem aus dem Jahresabschluß ersichtlichen Rohgewinnsatz des Jahres 1984. Dies müßte zur Nichtigkeit der Bescheide führen, da Reingewinnsätze unmöglich höher als Rohgewinnsätze liegen könnten.

Das FG lehnte den Antrag ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, es fehle an der schlüssigen Darlegung eines Anordnungsanspruchs. Denn auch aus den Rohgewinnsätzen des Betriebseröffnungsjahres 1984 folge nicht, daß die Reingewinnsätze der Streitjahre nicht möglich seien. Zudem habe der Antragsteller die Schätzung veranlaßt, weil er für die Streitjahre keine Steuererklärungen abgegeben habe.

Seine Beschwerde begründet der Antragsteller u.a. wie folgt: Das FA habe den Schätzungsrahmen in derart erheblichem Maße überschritten, daß die Voraussetzungen für eine Nichtigkeit gemäß § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) erfüllt seien. Es sei schon bei der Schätzung der Umsätze an den oberen Schätzungsrahmen herangegangen. Im Verhältnis zu dem geschätzten Umsatz entbehre die Schätzung der Gewinne aber jeglicher Grundlage. Denn das FA habe bei seiner Schätzung den mittleren Rohgewinnsatz der Richtsatzsammlung im Jahre 1985 um das Siebenfache und im Jahre 1986 um das Fünffache überschritten. Auch der Umstand, daß er - der Antragsteller - keine Steuererklärungen abgegeben habe, berechtige das FA nicht dazu, willkürliche Steuerschätzungen vorzunehmen.

Das FA beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist nicht begründet. Das FG hat den Antrag des Antragstellers auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Eine einstweilige Anordnung setzt voraus, daß ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht werden (§ 114 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). "Anspruch" i.S. dieser Vorschrift ist im Streitfall das in der Hauptsache vom Antragsteller verfochtene Begehren auf Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. Oktober 1981 IV B 13/81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133 mit weiteren Nachweisen).

Der Senat teilt nach der im Verfahren über die einstweilige Anordnung gebotenen summarischen Prüfung die Auffassung der Vorinstanz, daß ein solcher Anordnungsanspruch nicht schlüssig dargelegt worden ist. Der Antragsteller begründet seinen Anspruch auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung allein mit Einwendungen gegen die Höhe der Schätzung. Dieser den im Streit befindlichen Bescheiden nach Auffassung des Antragstellers anhaftende inhaltliche Mangel ist nicht so schwerwiegend, daß er zur Nichtigkeit der Bescheide führt. Ein Verwaltungsakt ist nur nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist (§ 125 Abs. 1 AO 1977). Dies ist nicht schon der Fall, wenn ihm eine unrichtige Anwendung der in Frage kommenden Rechtsvorschrift zugrunde liegt, sondern nur, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, daß von niemandem erwartet werden kann, ihn als verbindlich anzuerkennen (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133; BFH-Urteil vom 11. Juli 1986 VI R 105/83, BFHE 147, 113, BStBl II 1986, 775).

Ausgehend von diesen Grundsätzen kann steuerlichen Bescheiden, deren Mangel lediglich darin besteht, daß die zugrunde liegende Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zu hoch ausgefallen ist, die Gültigkeit nicht versagt werden. Ist nämlich nur die Höhe einer Steuerschuld unzutreffend, so sind die angefochtenen Steuerbescheide nicht im ganzen gesetzlos und somit auch nicht nichtig (vgl. BFH-Urteil vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134). Für die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen und für die darauf beruhenden Bescheide kann nichts anderes gelten. Die ordnungsgemäße Schätzung der Höhe der Besteuerungsgrundlagen ist eine Frage der richtigen Anwendung des § 162 AO 1977. Bei den Einwendungen des Antragstellers gegen die streitigen Bescheide geht es daher um die unrichtige Anwendung dieser Gesetzesbestimmung und nicht um Fehler, die die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzen, daß von niemand erwartet werden kann, die auf ihnen beruhenden Verwaltungsakte als verbindlich anzuerkennen.

Dies gilt selbst dann, wenn wie im Streitfall grobe Schätzungsfehler geltend gemacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß durch Schätzung ermittelte Besteuerungsgrundlagen stets einen Unsicherheitsbereich enthalten. Wird der zulässige Schätzungsrahmen, der durch die Möglichkeit des Schätzungsergebnisses begrenzt ist, überschritten, so handelt es sich zwar um einen Verstoß gegen anerkannte Schätzungsgrundsätze. Ein solcher Fehler geht von der Schwere her aber nicht über eine unrichtige Rechtsanwendung hinaus, so daß auch bei grob fehlerhaften Schätzungen keine Nichtigkeit der darauf beruhenden Bescheide angenommen werden kann.

Hinzu kommt im Streitfall, daß der Antragsteller die grobe Fehlerhaftigkeit der Schätzung vor allem mit erheblichen Überschreitungen der höchsten Richtsatzwerte der Finanzverwaltungen begründet. Die Richtsatzsammlungen der Finanzverwaltungen sind aber keine Rechtsnormen, sondern lediglich Anhaltspunkte, von denen wegen besonderer Verhältnisse des jeweiligen Betriebes abgewichen werden kann oder muß (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 162 AO 1977 Tz. 8). Es läßt sich daher nur anhand einer näheren Prüfung des jeweiligen Einzelfalls beurteilen, ob es besondere Umstände gibt, die eine erhebliche Abweichung von den Richtsätzen rechtfertigen. Erhebliche Überschreitungen der höchsten Richtsatzwerte bedeuten daher noch keinen so offenkundig schwerwiegenden Fehler, daß von niemand erwartet werden kann, die auf ihnen beruhenden Bescheide als verbindlich anzuerkennen.

Im übrigen ist es keine Frage der Nichtigkeit der Bescheide, sondern des Billigkeitsverfahrens nach § 227 AO 1977, ob und wie weit offensichtlich und eindeutig materiell-rechtlich unzutreffende Steuerfestsetzungen nach Bestandskraft noch korrigiert werden können. Die Rechtsprechung des BFH läßt die Nachprüfung von offensichtlich und eindeutig unrichtigen bestandskräftigen Steuerfestsetzungen nach § 227 AO 1977 nur zu, wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. BFH-Urteile vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 225, BStBl II 1981, 611, und vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512). Für offensichtlich und eindeutig unrichtige Gewinnfeststellungen oder Meßbetragsfestsetzungen in Grundlagenbescheiden kann nichts anderes gelten. Diesen Einschränkungen im Erlaßverfahren kann nicht dadurch die Grundlage entzogen werden, daß die gesonderten Gewinnfeststellungen oder Meßbetragsfestsetzungen bei zugrunde liegenden offensichtlichen inhaltlichen Mängeln, wie den etwaigen groben Schätzungsfehlern im Streitfall, als nichtig behandelt werden.

Ob die etwaigen groben Schätzungsfehler im Streitfall nach § 227 AO 1977 zu einem Erlaß bzw. Teilerlaß der auf dieser Grundlage festgesetzten Steuern führen können, vermag der Senat im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden. Diese Prüfung hat in einem gesonderten Erlaßverfahren zu erfolgen.

Offen kann bleiben, ob ausnahmsweise abweichend von obigen Grundsätzen auf eindeutig sachfremden Erwägungen beruhende, willkürliche Schätzungen die Nichtigkeit der darauf beruhenden Bescheide herbeiführen können (vgl. FG Baden-Württemberg vom 23. September 1987 XII K 227/86, Entscheidungen der Finanzgerichte 1988, 143). Grobe Schätzungsfehler allein reichen dafür jedenfalls nicht aus, es müssen (zusätzliche) sachfremde Erwägungen hinzukommen. Anhaltspunkte für eine nicht nur überhöhte, sondern willkürliche Schätzung, die auf solchen sachfremden Erwägungen beruht, hat der Antragsteller nicht vorgetragen und sind auch nach Aktenlage nicht erkennbar.