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  BFH-Urteil vom 11.1.1990 (V R 189/84) BStBl. 1990 II S. 405

1. § 23 Abs. 2 UStG 1980 wendet sich ausschließlich an den Verordnungsgeber. Die Vorschrift legt für den Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen kein im Einzelfall zu beachtendes Tatbestandsmerkmal des Inhalts fest, daß keine wesentliche Abweichung von dem Betrag eintreten dürfe, der sich ohne Anwendung der Durchschnittssätze ergeben würde.

2. § 23 UStG 1980 i.V. m. §§ 69 f. UStDV 1980 ergeben nicht, daß die Vorsteuerbeträge nach Durchschnittssätzen nicht auf Grund von solchen Umsätzen berechnet werden dürften, die Teil einer Geschäftsveräußerung im ganzen sind.

UStG 1980 § 23; UStDV 1980 § 69.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) unterhielt bis zum 31. Dezember 1979 einen Friseurbetrieb; er versteuerte seine Umsätze unter Anwendung des § 19 Abs. 1 und 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1967/1973) - Jahresumsatz 1979: ... DM (unter 60.000 DM). Am 8. Januar 1980 veräußerte er den Betrieb für ... DM und stellte dem Erwerber 13 v.H. an Umsatzsteuer in Rechnung.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) setzte mit Umsatzsteuerbescheid 1980 vom 30. April 1982 die Steuer auf ... DM fest (13 v.H. von ... DM; Kürzung um ... DM nach § 13 des Berlinförderungsgesetzes - BerlinFG -).

Mit dem Einspruch machte der Kläger u.a. geltend, daß ihm ein Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen zustehe. Hierzu führte das FA in der den Einspruch zurückweisenden Entscheidung aus, eine Berücksichtigung von Vorsteuerbeträgen nach Durchschnittssätzen sei nicht möglich, da die diesbezüglichen Voraussetzungen nicht vorlägen.

Der zuletzt mit dem alleinigen Ziel betriebenen Klage, den Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen zu erreichen, gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 316 abgedruckten Urteil statt. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei berechtigt, gemäß § 69 Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) 1980 i.V. m. Abschn. A I Nr. 8 der Anlage pauschal 3,7 v.H. des Umsatzes als Vorsteuer anzusetzen. Zum Umsatz in diesem Sinne gehöre auch die Veräußerung des Geschäftsbetriebes.

Unerheblich sei, daß im Streitjahr keine Vorsteuerbeträge angefallen seien. Dem § 23 Abs. 2 UStG 1980 sei nicht zu entnehmen, daß die Durchschnittssätze nicht angewendet werden dürften, wenn sich im Einzelfall eine unzutreffende Besteuerung ergäbe. Derartiges wäre nur beim Ansatz von Pauschbeträgen zu beachten, die eine Schätzung i. S. des § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) darstellten; denn Schätzungen müßten stets zu einem wahrscheinlichen Ergebnis führen. Auch der Bundesminister der Finanzen (BMF) habe in seinem Einführungserlaß vom 3. Januar 1968 IV A/2 - S 7.400 - 19/67 (BStBl I 1968, 166) ausgeführt, dem Erfordernis des § 23 Abs. 2 UStG werde bei der Ermittlung und Festsetzung entsprochen. Es bestehe deshalb für den Einzelfall keine Möglichkeit, unter Berufung auf § 23 Abs. 2 UStG die Bindung an die Durchschnittssätze zu lösen (Abschn. B Nr. 1 Abs. 2 des Erlasses). Dies gelte auch dann, wenn Vorsteuerbeträge wirklich nicht angefallen seien.

Mit der Revision beantragt das FA, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen. Es rügt Verletzung des § 23 Abs. 2 UStG 1980 sowie der §§ 69 f. UStDV 1980 und macht geltend, das FG sei § 23 Abs. 2 UStG 1980 nicht gerecht geworden. Diese Bestimmung richte sich zwar vorrangig an den Verordnungsgeber, diene aber ausschließlich dazu, den Unternehmern die Erledigung ihrer Buchführungs- und Aufzeichnungsarbeiten zu erleichtern, ohne daß hieraus steuerliche Vorteile erwachsen dürften. Die Vorschrift sei mithin auch an die Unternehmer gerichtet. Ihrem Sinn entspreche es somit, zumindest solche nach Durchschnittssätzen berechneten Vorsteuern nicht zum Abzug zuzulassen, die zu einer offensichtlich unzutreffenden Steuerhöhe führten. Die Klagestattgabe bewirke eine unzutreffende Steuerhöhe, weil dem Kläger im Jahre 1980 überhaupt keine Vorsteuer in Rechnung gestellt worden sei. Der vom FG angeführte BMF-Erlaß sei durch Erlaß vom 6. November 1980 IV A 3 - S 7.400 - 4/80 (BStBl I 1980, 766, unter V) mit Wirkung vom 1. Januar 1980 aufgehoben worden.

Zur Verweigerung des Vorsteuerabzugs nach Durchschnittssätzen gelange man auch über § 69 Abs. 1 und 2 UStDV 1980. Denn den eine Geschäftsveräußerung darstellenden Umsätzen ständen in aller Regel keine nennenswerten Vorsteuern aus demselben Besteuerungszeitraum gegenüber, die in der Höhe des Entgelts für die Geschäftsveräußerung ihren Ausdruck fänden. Zur Vermeidung von steuerlichen Vorteilen, die dem Sinn des § 23 Abs. 2 UStG 1980 nicht entsprechen, gebiete daher der Gedanke der Systemgerechtigkeit, bei der Anwendung der Durchschnittssätze die in einer Geschäftsveräußerung bestehenden Umsätze aus der Bemessungsgrundlage auszunehmen. Da der Wortlaut des § 69 Abs. 2 UStDV 1980 kaum eine diesbezügliche Auslegung zulasse, müsse insoweit vom Vorhandensein einer Regelungslücke ausgegangen werden, die sich schließen lasse, indem Umsätze aus einer Geschäftsveräußerung nicht in die Bemessungsgrundlage einbezogen würden.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist unbegründet; sie wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger den geltend gemachten Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen vornehmen darf; es hat demzufolge zu Recht die für das Streitjahr festgesetzte Steuer entsprechend ermäßigt.

1. Gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG 1980 sind bei der Berechnung der Umsatzsteuer für einen bestimmten Besteuerungszeitraum von der nach § 16 Abs. 1 UStG 1980 berechneten Steuer die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 UStG 1980 abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen. Daß Vorsteuerbeträge abziehbar sind und in den betreffenden Besteuerungszeitraum fallen, setzt voraus, daß für den einzelnen Vorbezug die entsprechenden Tatbestandsmerkmale im Besteuerungszeitraum (betr. § 15 Abs. 1 UStG 1980) bzw. vor Ablauf des Besteuerungszeitraumes oder mit Wirkung für die Zeit vor dessen Ablauf verwirklicht sind (betr. § 15 Abs. 1 und 3 UStG 1980) - vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. Februar 1987 V R 1/79, unter II 1a bis c, BFHE 149, 307, BStBl II 1987, 521 -. Abweichend hiervon läßt § 23 UStG 1980 i.V. m. §§ 69 f. UStDV 1980 den Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen zu, ohne daß diese Voraussetzungen vorzuliegen brauchen.

Hierzu bestimmt § 23 Abs. 3 Satz 1 UStG 1980, daß der Unternehmer, bei dem die Voraussetzungen für eine Besteuerung nach Durchschnittssätzen i. S. des Abs. 1 der Vorschrift gegeben sind, beim FA bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung beantragen kann, nach den festgesetzten Durchschnittswerten besteuert zu werden. In § 23 Abs. 1 UStG 1980 ist eine Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen enthalten. Sie gibt dem Verordnungsgeber u.a. die Befugnis, zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens für Gruppen von Unternehmern, bei denen hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen annähernd gleiche Verhältnisse vorliegen und die nicht verpflichtet sind, Bücher zu führen und auf Grund jährlicher Bestandsaufnahmen Abschlüsse zu machen, für die nach § 15 UStG 1980 abziehbaren Vorsteuerbeträge Durchschnittssätze festzusetzen. Auch wenn die Ermächtigung nicht ausdrücklich die Regelung dessen erwähnt, inwieweit Vorsteuerbeträge in den Besteuerungszeitraum fallen (vgl. § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG 1980), kann davon ausgegangen werden, daß sich die Befugnis des Verordnungsgebers auch hierauf erstrecken soll; denn die ins Auge gefaßte Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens könnte nicht erreicht werden, wenn sich die Festsetzung von Durchschnittssätzen allein auf die Regelung der Berechnung und der Höhe der abziehbaren Vorsteuerbeträge beschränken müßte, ohne festlegen zu dürfen, welchem Besteuerungszeitraum die Vorsteuerbeträge zuzuordnen sind.

Die Einzelheiten zur Anwendung und Berechnung des Vorsteuerabzuges nach Durchschnittssätzen sind in den §§ 69 f. UStDV 1980 i.V. m. der Anlage zu diesen Vorschriften enthalten.

2. Das FA zieht mit der Revision nicht in Zweifel, daß dem Kläger nach dem Gesetzes- bzw. Verordnungswortlaut der umstrittene Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen zusteht. Das FA nimmt jedoch gegen die herrschende Meinung in der Kommentarliteratur an (vgl. Bunjes/Geist, Umsatzsteuergesetz, 2. Aufl., § 23 Anm. 2; Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz - Mehrwertsteuer -, 6. Aufl., § 23 Rdnr. 54; Peter/Burhoff, Umsatzsteuergesetz 1980, Kommentar, 5. Aufl., § 23 Rdnr. 5; Schüle/Teske/Wendt, Kommentar zur Umsatzsteuer, Mehrwertsteuersystem, § 23 Tz. 6; Vogel/Reinisch/Hoffmann, Umsatzsteuergesetz 1980, § 23 Rdnr. 10; s. auch Eckhardt/Weiß, Umsatzsteuergesetz, § 23 Rdnr. 2; Rau/Dürrwächter/Flick/Geist, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 5. Aufl., § 23 Rdnr. 19), die erwähnten Vorschriften seien, wenn schon nicht auf Grund von Auslegung, so doch auf Grund von Rechtsfortbildung dahin zu verstehen, daß dem Kläger der geltend gemachte Vorsteuerabzug versagt werde, weil bei ihm keine abziehbaren Vorsteuerbeträge in das Streitjahr gefallen seien. Hierin kann dem FA nicht gefolgt werden.

a) Die Ansicht des FA läßt sich nicht aus § 23 Abs. 2 UStG 1980 rechtfertigen, wonach die Durchschnittssätze zu einer Steuer führen müssen, die nicht wesentlich von dem Betrage abweicht, der sich nach dem UStG 1980 ohne Anwendung der Durchschnittssätze ergeben würde. Hiermit statuiert das Gesetz nicht eine zusätzliche und im Einzelfall zu beachtende tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzuges nach Durchschnittssätzen, sondern richtet sich ausschließlich an den Verordnungsgeber und legt für diesen inhaltliche Anforderungen für die zu erlassenden Rechtsverordnungen fest. Der Wortlaut der Vorschrift ließe zwar auch die gegenteilige Deutung zu. Der äußere Gesetzesaufbau sowie Sinn und Zweck des Gesetzes sprechen aber für die hier zugrunde gelegte Auslegung.

Daß sich Abs. 2 des § 23 UStG 1980 ausschließlich an den Verordnungsgeber wendet, folgt aus dem Anschluß des Abs. 2 an den allein an den Verordnungsgeber gerichteten Abs. 1 der Vorschrift, ferner aus dem inhaltlichen Zusammenhang mit Abs. 1 sowie daraus, daß die den Unternehmer betreffenden Regelungen insgesamt in Abs. 3 der Vorschrift zusammengefaßt und dort als solche kenntlich gemacht sind. Auch ist Abs. 3 der Vorschrift bei der Erwähnung der Voraussetzungen einer Besteuerung nach Durchschnittssätzen keinerlei Hinweis darauf zu entnehmen, diese Voraussetzungen würden u.a. durch den Abs. 2 der Vorschrift geregelt.

Vollends zurückzuweisen ist die Ansicht des FA, die Durchschnittssätze müßten im Einzelfall zu einer Steuer führen, die nicht wesentlich von dem ohne Durchschnittssätze errechneten Betrag abweiche. Würde dies gefordert, so ließe sich der für die zu erlassenden Verordnungen ins Auge gefaßte Zweck, nämlich das Besteuerungsverfahren zu vereinfachen, nicht verwirklichen. Die Festsetzung von Durchschnittssätzen würde im Gegenteil das Besteuerungsverfahren erschweren, weil neben der Ermittlung des Vorsteuerabzugs auf der Grundlage der Durchschnittssätze im Hinblick auf die erforderliche Prüfung, ob eine wesentliche Abweichung vorliegt, der Vorsteuerabzug auch noch ohne Anwendung der Durchschnittssätze ermittelt werden müßte. Mithin kann nur eine Interpretation dahin gerechtfertigt sein, daß § 23 Abs. 2 UStG 1980 sich ausschließlich an den Verordnungsgeber wendet. Insoweit wird der Zusammenhang mit Art. 27 Abs. 1 Satz 2 der 6. Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuer in den Europäischen Gemeinschaften deutlich. Mit der Bindung des Verordnungsgebers hat der Gesetzgeber seine gemeinschaftsrechtliche Pflicht umgesetzt, dafür zu sorgen, daß Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer nicht stärker als in unerheblichem Maße beeinflussen.

b) Das FA kann sich ebenfalls nicht auf die Auslegung der §§ 69 f. UStDV 1980 oder auf die Bedeutung dieser Vorschriften nach einer vorgenommenen, vom FA angestrebten Lückenausfüllung stützen. Die eben angestellten Überlegungen gebieten eine Auslegung des § 23 Abs. 2 UStG 1980 dahin, daß die vom Verordnungsgeber zu vermeidende wesentliche Abweichung sich nicht auf den Einzelfall, sondern lediglich auf einzelne Gruppen von Unternehmern beziehen soll. Dementsprechend brauchte der Verordnungsgeber nicht den Willen gehabt zu haben, wesentliche Abweichungen im Einzelfall zu vermeiden. Daß der Verordnungsgeber die Absicht gehabt haben könnte, Umsätze, die eine Geschäftsveräußerung im ganzen darstellen, von der Anwendung auszuschließen, kann im Hinblick darauf verneint werden, daß § 69 Abs. 2 UStDV 1980 keine diesbezügliche Ausnahme anführt.

Angesichts dessen ist es sowohl ausgeschlossen, die §§ 69 f. UStG 1980 dahin zu interpretieren, daß sie das Fehlen einer wesentlichen Abweichung als Tatbestandsmerkmal enthielten, als auch nicht zulässig, das Fehlen einer diesbezüglichen Regelung als normative Lücke anzusehen, die durch Analogie geschlossen werden könnte.

3. Die Vorentscheidung ist schließlich nicht deshalb aufzuheben, weil das FG nicht auf den in § 23 Abs. 3 Satz 1 UStG 1980 angeführten Antrag des Unternehmers eingegangen ist. Der Vorschrift ist - z.B. im Unterschied zur Regelung in § 20 Abs. 1 Satz 1 UStG 1980 - nicht zu entnehmen, daß der Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen ausgeschlossen sei, solange der Antrag nicht positiv beschieden worden ist oder wenn das FA es abgelehnt hat, einen Vorsteuerabzug nach Durchschnittssätzen anzuerkennen, weil es meint, daß die in § 23 Abs. 3 UStG 1980 i.V. m. §§ 69 f. UStDV 1980 angeführten Voraussetzungen nicht erfüllt seien (vgl. Abschn. 263 Abs. 2 der Umsatzsteuer-Richtlinien 1988; s. z.B. auch "auf Antrag" in § 33a Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes).