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  BFH-Urteil vom 28.2.1990 (I R 205/85) BStBl. 1990 II S. 537

Eine nach Grund und/oder Höhe ungewisse Verbindlichkeit des Betriebsvermögens bleibt nach Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs grundsätzlich mindestens bis zu dem Zeitpunkt notwendiges Betriebsvermögen, in dem sie zu einer nach Grund und Höhe gewissen Verbindlichkeit wird.

EStG 1977 § 24 Nr. 2.

Vorinstanz: FG Berlin (EFG 1986, 400)

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb den Handel mit Fleischwaren und eine Fleischwarenfabrik. 1971 forderte ein Zollamt von ihm durch Abgabenbescheid die Nachzahlung von 1.500.000 DM. Der Kläger legte gegen den Bescheid Rechtsbehelf ein, zahlte die Abgaben zunächst nicht und passivierte die Abgabenschuld (nachfolgend: Zollschuld) in seinen Bilanzen für die Jahre 1971 und 1972 jeweils in Höhe von 1.500.000 DM. Nach einer Betriebsprüfung erkannte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Passivierung nur in Höhe von 355.718,55 DM an, weil die Zollschuld inzwischen - wenn auch nicht bestandskräftig - auf diesen Betrag herabgesetzt worden war.

1973 stellte der Kläger seine gewerbliche Tätigkeit ein. Einen Teil des Betriebsvermögens veräußerte er, das Betriebsgrundstück und einen Kraftwagen überführte er in sein Privatvermögen. Das FA ermittelte für 1973 einen Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von rd. 970.000 DM. Dabei berücksichtigte es die Zollschuld in Höhe von 355.718,55 DM als eine den Wert des Betriebsvermögens mindernde Verbindlichkeit.

Anfang 1978 (Streitjahr) setzte das Zollamt die Zollschuld auf 98.026,35 DM herab. Diese Festsetzung wurde bestandskräftig. Daraufhin erhöhte das FA für das Streitjahr die gewerblichen Einkünfte des Klägers um - nachträgliche - Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 233.431 DM.

Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 400 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 4, 5 und 24 Nr. 2 EStG 1977 und unvollständige Sachverhaltsaufklärung.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

A. Dem FG sind keine Verfahrensfehler unterlaufen. Die entsprechende Rüge des Klägers greift nicht durch. Von weiteren Ausführungen hierzu wird gemäß Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 (BGBl I 1975, 1861, BStBl I 1975, 932) i.d.F. des Gesetzes vom 22. Dezember 1989 (BGBl I 1989, 2404, BStBl I 1990, 8) abgesehen.

B. Der Kläger erzielte im Streitjahr durch die Herabsetzung der Zollschuld - nachträgliche - Einkünfte aus Gewerbebetrieb.

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 24 Nr. 2 EStG 1977 gehören zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch Vermögensmehrungen oder -minderungen, die durch eine ehemalige gewerbliche Tätigkeit veranlaßt sind und in der (auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe oder -veräußerung zu erstellenden) Steuerbilanz und während der sich möglicherweise anschließenden (weiteren) Liquidationsphase noch nicht oder noch nicht hinreichend steuerrechtlich berücksichtigt werden konnten (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 11. Dezember 1980 I R 119/78, BFHE 133, 22, BStBl II 1981, 460). Beruht die Vermögensmehrung oder -minderung auf einer Veränderung des Werts eines Vermögensgegenstands, so ist sie nur insoweit durch die ehemalige gewerbliche Tätigkeit veranlaßt, als die Wertänderung in einem Zeitraum eingetreten ist, in dem der Vermögensgegenstand steuerrechtlich (noch) als Betriebsvermögen zu qualifizieren ist. Denn Wertänderungen von Gegenständen des Privatvermögens beeinflussen die gewerblichen Einkünfte grundsätzlich nicht (vgl. BFH-Urteile vom 25. Juli 1972 VIII R 3/66, BFHE 106, 528, BStBl II 1972, 936; vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, 216, BStBl II 1977, 127, 129; Müller-Gatermann/Dankmeyer in Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 13. Aufl., Stand September 1989, § 4 EStG Rz. 158).

1. Die Vermögensmehrung, die das FA als - nachträglichen - Gewinn aus Gewerbebetrieb erfaßte, beruhte auf einer im Streitjahr eingetretenen Wertänderung einer Verbindlichkeit (= der Zollschuld).

a) Bis zu ihrer Herabsetzung im Streitjahr war die Zollschuld eine nach Grund und/oder Höhe ungewisse Verbindlichkeit. Ungewiß nach Grund und/oder Höhe ist eine Verbindlichkeit, solange ihre Entstehung, ihr Bestehen und/oder ihre Höhe nicht abschließend beurteilt werden können (vgl. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Aktiengesellschaft, 4. Aufl., 1968, § 152 Tz. 115). Grundlage der Beurteilung ist der Sachverhalt, den der (etwaige) Schuldner bei sorgfältiger Prüfung erkennen kann.

Der Kläger konnte erst im Streitjahr abschließend beurteilen, wie hoch die Zollschuld war. Erst durch den Bescheid über die Herabsetzung der Schuld auf 98.026,35 DM war für ihn die Ungewißheit über die Höhe der Schuld entfallen. Das FG hat nicht festgestellt, daß der Kläger bereits vorher - z.B. aufgrund von Erklärungen des Zollamts - erkennen konnte, daß die Zollschuld nur 98.026,35 DM betrug. Nach Erhalt und Prüfung des Bescheids bestand für ihn offensichtlich keine Ungewißheit mehr, denn sonst hätte er den Bescheid nicht bestandskräftig werden lassen.

Daß die Zollschuld bereits vor dem Streitjahr durch Verwirklichung gesetzlicher Tatbestände kraft Gesetz entstand (§ 3 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes, jetzt § 38 der Abgabenordnung - AO 1977 -) und durch Verwaltungsakte zunächst auf 1.500.000 DM und später auf rund 355.700 DM festgesetzt wurde, beseitigte die Ungewißheit - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht. Die Ungewißheit bestand gerade darin, daß der Kläger vor dem Streitjahr nicht abschließend beurteilen konnte, ob überhaupt oder in welcher Höhe kraft Gesetz eine Zollschuld entstanden war. Die vor dem Streitjahr ergangenen Verwaltungsakte beseitigten die Ungewißheit über Grund und/oder Höhe der Schuld nicht, da der Kläger sie nicht bestandskräftig werden ließ.

b) Der Wert der Zollschuld betrug 355 718,55 DM, solange die Schuld in dieser Höhe festgesetzt war. Obwohl diese Festsetzung nicht bestandskräftig war, mußte der Kläger damit rechnen, daß die Schuld in der festgesetzten Höhe möglicherweise bestand und von ihm zu bezahlen war. Der Wert der Verbindlichkeit minderte sich auf 98 026,35 DM, als das Zollamt im Streitjahr die Abgaben auf diesen Betrag herabsetzte.

2. Die Zollschuld war noch eine steuerrechtlich dem Betriebsvermögen zuzuordnende Verbindlichkeit (Betriebsschuld), als sie im Streitjahr herabgesetzt wurde.

a) Ob eine Verbindlichkeit steuerrechtlich dem Betriebs- oder dem Privatvermögen zuzuordnen ist, hängt vom Anlaß ihrer Entstehung ab. Sie ist aus betrieblichem Anlaß entstanden, wenn der ihre Entstehung auslösende Vorgang im betrieblichen Bereich liegt (vgl. BFH-Urteil vom 17. April 1985 I R 101/81, BFHE 143, 563, BStBl II 1985, 510). Dies war nach den tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der erkennende Senat gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), bei der Zollschuld der Fall.

b) Eine Betriebsschuld bleibt in der Regel eine betriebliche Verbindlichkeit, bis sie getilgt wird. Aufgrund des Anlasses ihrer Entstehung ist sie objektiv mit dem Betrieb verbunden. Die Verbindung kann nicht durch einen Willensakt des Steuerpflichtigen gelöst werden (vgl. BFH-Urteil vom 7. Mai 1965 VI 217/64 U, BFHE 82, 548, BStBl III 1965, 445). Dies gilt jedoch nach der BFH-Rechtsprechung u.a. dann nicht, wenn der Betrieb aufgegeben oder veräußert wird. Gibt der Steuerpflichtige den Betrieb auf und setzt er nicht sämtliche vorhandenen aktiven Wirtschaftsgüter zur Tilgung der Betriebsschulden ein, so sind die verbliebenen Verbindlichkeiten insoweit keine Betriebsschulden mehr, als sie durch Verwertung der aktiven Wirtschaftsgüter hätten getilgt werden können (vgl. BFH-Urteile vom 11. Dezember 1980 I R 174/78, BFHE 133, 29, BStBl II 1981, 463; vom 21. November 1989 IX R 10/84, BStBl II 1990, 213). Entsprechendes gilt bei einer Betriebsveräußerung für die vom Erwerber des Betriebs nicht übernommenen Betriebsschulden, soweit sie durch den Veräußerungserlös und die Verwertung von zurückbehaltenen aktiven Wirtschaftsgütern hätten getilgt werden können (vgl. BFH-Urteil vom 19. Januar 1982 VIII R 150/79, BFHE 135, 193, BStBl II 1982, 321). Besteht ein Tilgungshindernis, z.B. weil der Gläubiger mit einer vorzeitigen Tilgung der Schuld nicht einverstanden ist, dann wird die Schuld noch als Betriebsschuld behandelt, bis das Hindernis entfallen ist (vgl. BFH-Urteil vom 27. November 1984 VIII R 2/81, BFHE 143, 120, BStBl II 1985, 323).

c) Abweichende Ansichten werden im Schrifttum vertreten. Umstritten ist auch, ob eine nach Grund und/oder Höhe ungewisse Betriebsschuld nach einer Betriebsaufgabe oder -veräußerung unter den gleichen Voraussetzungen wie eine nach Grund und Höhe gewisse Betriebsschuld zur Privatschuld wird.

Trzaskalik (Der Betrieb 1983, 194, 196) und Bödefeld (Betriebsvermögen nach Betriebseinstellung, Bochum, 1987, S. 137) vertreten die Auffassung, nach der Einstellung des Betriebs gebe es kein Betriebsvermögen mehr (ebenso Söffing, Finanz-Rundschau 1984, 185, 188, für die Zeit nach der Vollbeendigung des Betriebs, d.h. wenn kein aktives Betriebsvermögen mehr vorhanden ist - vgl. BFHE 133, 22, BStBl II 1981, 460 -). Fitsch (Die Information über Steuer und Wirtschaft - Inf - 1970, 461, 464) und F. Dötsch (Einkünfte aus Gewerbebetrieb nach Betriebsveräußerung und Betriebsaufgabe, 1987, S. 82 bis 89) sind dagegen der Ansicht, eine Betriebsschuld sei auch nach der Aufgabe oder Veräußerung des Betriebs noch als Betriebsvermögen zu qualifizieren, es sei denn, sie steht mit aktiven Wirtschaftsgütern in einem konkreten wirtschaftlichen Zusammenhang und diese Wirtschaftsgüter werden Privatvermögen (ähnlich Wendt, Inf 1980, 534, 542). Stuhrmann (in Blümich, a.a.O., § 16 EStG Rz. 278) hält den Steuerpflichtigen für berechtigt, im Zusammenhang mit der Betriebsaufgabe oder -veräußerung auch Verbindlichkeiten in das Privatvermögen zu überführen. Erdweg (in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19. Aufl., Stand Oktober 1989, § 16 EStG Anm. 236) bejaht dies auch für ungewisse Verbindlichkeiten (ebenso für Rentenschulden: - kl -, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A 1970, 202). Schmidt (Einkommensteuergesetz, Kommentar, 8. Aufl., 1989, § 16 Anm. 13 d, 56 c) und Hörger (in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, 15. Aufl., Stand November 1989, § 16 Rn. 40) sind der Ansicht, ungewisse Betriebsschulden könnten nicht Privatschulden werden.

d) Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß eine nach Grund und/oder Höhe ungewisse Betriebsschuld nach Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs grundsätzlich mindestens bis zu dem Zeitpunkt Betriebsschuld bleibt, in dem sie zu einer nach Grund und Höhe gewissen Schuld wird.

Ungewisse Verbindlichkeiten bergen besondere Risiken und Chancen. Auch wenn sie bei der Ermittlung des Veräußerungs- oder Aufgabegewinns gemäß § 16 EStG nach den zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Erkenntnissen zutreffend bewertet wurden, kann sich diese Bewertung später als falsch erweisen. Lagen - wie im Streitfall - die die Ungewißheit auslösenden Vorgänge ebenso wie die die Entstehung der Schuld auslösenden im betrieblichen Bereich, dann sind die auf der Ungewißheit beruhenden Risiken und Chancen betrieblich veranlaßt. Sie sind betriebliche Risiken und Chancen.

Sie bleiben dies auch nach der Veräußerung oder Aufgabe des Betriebs und dessen Vollbeendigung. Zwar kann eine Betriebsschuld nach der Vollbeendigung des Betriebs nicht mehr durch Verwertung von aktivem Betriebsvermögen getilgt werden. Die betrieblichen Vorgänge, auf die die der ungewissen Verbindlichkeit immanenten Risiken und Chancen beruhen, wirken aber fort. Verwirklichen sich die Risiken oder Chancen, so sind die dadurch entstehenden Vermögensminderungen oder -mehrungen noch Folge dieser Vorgänge. Sie sind Verluste oder Gewinne aus der ehemaligen gewerblichen Tätigkeit i.S. des § 24 Nr. 2 EStG 1977 (vgl. BFH-Urteil vom 24. Oktober 1979 VIII R 49/77, BFHE 129, 334, BStBl II 1980, 186).

Daß der Steuerpflichtige es unterläßt, die ungewisse Schuld zu tilgen, ändert daran nichts; auch dann nicht, wenn die Ungewißheit kein Tilgungshindernis ist und die Schuld durch Einsatz des Veräußerungserlöses und Verwertung der in das Privatvermögen überführten aktiven Wirtschaftsgüter des Betriebs hätte getilgt werden können. Denn die auf der Ungewißheit beruhenden betrieblichen Risiken und Chancen entfallen nicht bereits mit der Tilgung der Schuld, sondern erst mit Ende der Ungewißheit. Steht der Höchstbetrag der Schuld fest, ist jedoch ungewiß, ob er geschuldet wird, kann zwar die Schuld vor Ende der Ungewißheit vollständig getilgt werden. Die Tilgung führt aber dazu, daß eine der Höhe nach ungewisse betriebliche Forderung entsteht. Die zuvor der Schuld immanenten betrieblichen Risiken und Chancen werden durch die Tilgung zu einer der ungewissen Forderung immanenten betrieblichen Chance. Ist auch der Höchstbetrag der Schuld ungewiß, kann vor Ende der Ungewißheit nicht ermittelt werden, welcher Betrag zur vollständigen Tilgung der Schuld benötigt wird. Eine Zahlung auf die Schuld beseitigt in diesem Fall nicht die auf der Ungewißheit beruhenden Risiken und Chancen.

Da die auf der Ungewißheit der Schuld beruhenden betrieblichen Risiken und Chancen der Schuld immanent sind und - sieht man von einer Übernahme dieser Risiken oder Chancen durch einen Dritten ab - nicht von ihr getrennt werden können, bleibt auch die Schuld zumindest bis zum Ende der Ungewißheit eine Betriebsschuld.

e) Ob etwas anderes gilt, falls die ungewisse Betriebsschuld mit der Anschaffung oder Herstellung eines aktiven Wirtschaftsguts wirtschaftlich zusammenhängt - wie z.B. eine in Anrechnung auf den Kaufpreis eines Grundstücks übernommene Leibrentenverbindlichkeit - und das Wirtschaftsgut in das Privatvermögen überführt wird, bedarf im Streitfall keiner Klärung.

f) Die Höhe der durch die Herabsetzung der Zollschuld im Streitjahr erzielten - nachträglichen - Einkünfte aus Gewerbebetrieb ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Gewinn niedriger als 233.431 DM war, sind nicht erkennbar.