| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Beschluß vom 20.2.1990 (VII R 125/89) BStBl. 1990 II S. 546

1. Ein ohne Zulassung revisibles Urteil in einer Zolltarifsache liegt auch vor, wenn das FG aufgrund einer im Umsatzsteuerrecht enthaltenen Verweisung auf den Zolltarif über zolltarifrechtliche Fragen entschieden hat.

2. Zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei versäumter Revisionsfrist, wenn die rechtzeitige Einlegung der zulassungsfreien Revision (1.) wegen Rechtsirrtums über die Statthaftigkeit der Revision unterblieben ist.

FGO § 116 Abs. 2, § 56 Abs. 1 und 2 Satz 1 und 2.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

I.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Umsätze der von der Klägerin und Revisionsklägerin - Klägerin - hergestellten und vertriebenen Druckschrift "XY" mit wesentlichem Anteil an Anzeigen für den An- und Verkauf von Waren im Streitjahr 1987 dem ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 mit Anlage Nr. 43 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes - UStG - 1980 in Verbindung mit Zolltarifnr. 49.02 (Zeitungen und andere periodische Druckschriften) oder - so das beklagte und revisionsbeklagte Finanzamt (FA) - dem vollen Steuersatz unterlagen. Das Finanzgericht (FG) bestätigte die Rechtsauffassung des FA, das die Druckschrift als Werbedruck der Tarifnr. 49.11, die Umsätze mithin als nicht steuerbegünstigt bewertet hatte, und wies die gegen die entsprechende Besteuerung gerichtete Klage ab. Das Urteil des FG, das eine vollständige Rechtsmittelbelehrung enthält - auch mit Hinweis auf die zulassungsfrei statthafte Revision "gegen Urteile in Zolltarifsachen" - ist der Klägerin am 9. November 1988 zugestellt worden. Wegen Nichtzulassung der Revision ist fristgerecht Beschwerde eingelegt worden.

Mit Schreiben vom 28. Februar 1989, abgesandt am 2. März 1989, richtete die Geschäftsstelle des damals zuständigen V. Senats des Bundesfinanzhofs - BFH - an die Klägerin ein Schreiben, in dem unter Hinweis auf den n.v. Senatsbeschluß vom 9. Februar 1989 V B 144/88 ("Urteil in einer Zolltarifsache" auch, wenn über die Anfechtungsklage gegen einen Umsatzsteuerbescheid entschieden worden und die Auslegung einer in der Anlage zum UStG bezeichneten Zolltarifnummer streitig war) auf mögliche Bedenken wegen der Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde mit dem Anfügen aufmerksam gemacht wurde, vorbehaltlich einer Entscheidung durch den Senat werde vorsorglich anheimgestellt, mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der abgelaufenen Fristen Revision (mit Revisionsbegründung) einzulegen.

Mit ihrem am 14. März 1989 beim FG eingegangenen Schriftsatz beantragte die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte Revision ein, die sie zugleich begründete. Zum Wiedereinsetzungsantrag verwies die Klägerin auf den vorbezeichneten Beschluß, das Schreiben der Geschäftsstelle und die sich daraus ergebenden Bedenken wegen der Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde. Später (Schriftsatz vom 1. September 1989) führte die Klägerin zum Wiedereinsetzungsantrag ergänzend aus, sie habe erstmals durch den Hinweis der Geschäftsstelle von der weiten Auslegung von § 116 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO - erfahren, die dem bezeichneten Beschluß zugrundeliege. Die Unkenntnis von der vorgenommenen Rechtsfortbildung und damit die Nichteinhaltung der Revisionsfrist sei nicht schuldhaft. Mangelndes Verschulden ergebe sich auch daraus, daß das FG der Nichtzulassungsbeschwerde "ohne jeden weiteren Kommentar" nicht abgeholfen und die Beschwerde an den BFH geleitet habe. Hieraus folge, daß auch dem FG die Anwendung von § 116 Abs. 2 FGO nicht bekannt gewesen sei, da es sonst zu einem entsprechenden Hinweis verpflichtet gewesen wäre und diesen auch erteilt hätte.

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Revision ist zwar an sich statthaft, gleichwohl aber unzulässig, weil sie verspätet eingelegt worden ist (vgl. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) nicht gewährt werden kann. Da die Revision demgemäß mit der Kostenfolge nach § 135 Abs. 2 FGO verworfen werden muß (§ 124, § 126 Abs. 1 FGO), ist der Streit zur Endentscheidung reif, eine Entscheidung vorab über die Wiedereinsetzung - von der Klägerin erbeten - mithin unangebracht (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 56 Anm. 67 mit Hinweisen).

2. Statthaft ist die Revision - zulassungsfrei -, weil sie sich gegen ein Urteil in einer Zolltarifsache richtet (§ 116 Abs. 2 FGO). Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 16. Oktober 1986 VII R 122/83, BFHE 148, 372, 374) liegt ein solches vor, wenn das Urteil von einer in ihm getroffenen zolltarifrechtlichen Entscheidung abhängt oder abhängen kann, ohne Rücksicht darauf, ob die zolltarifrechtliche Frage die einzige oder auch nur die wesentliche Vorfrage war. Umgekehrt ist keine Zolltarifsache gegeben, wenn das für die Entscheidung maßgebende Zolltarifrecht auf andere Vorschriften (des Zollrechts) verweist und die Auslegung oder Anwendung dieser Vorschriften Gegenstand des Rechtsstreits ist (Senat, Beschluß vom 14. Mai 1986 VII B 25/86, BFHE 146, 312, 314). Nicht auf die verweisende Norm kommt es hiernach an, sondern auf die Vorschrift, die Gegenstand der Verweisung ist. Ist diese Vorschrift zolltariflicher Art, hängt von ihrer Auslegung oder Anwendung das finanzgerichtliche Urteil ab oder kann es davon abhängen, so ist in einer Zolltarifsache geurteilt worden. Diese Betrachtung entspricht auch dem Sinn von § 116 Abs. 2 FGO. Der Vorschrift liegt die Erwägung zugrunde, daß Urteile über die Tarifierung von Waren stets grundsätzliche Bedeutung haben und sie deshalb ohne weiteres revisibel sein sollen (Senat, Beschlüsse vom 22. Dezember 1969 VII R 29/68, BFHE 98, 15, BStBl II 1970, 253, und vom 22. März 1977 VII R 39/74, BFHE 121, 400, BStBl II 1977, 430). Ob über die Tarifierung unmittelbar oder - entscheidungserheblich - aufgrund einer Verweisungsvorschrift geurteilt wird, kann keinen Unterschied machen. Dem entspricht es, daß in Fällen, in denen aufgrund einer im innerstaatlichen Recht (UStG) enthaltenen Verweisung Zolltarifrecht (Gemeinschaftsrecht) anzuwenden ist, dessen Auslegung zweifelhaft ist, gemäß Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in Betracht kommt, zu deren Einholung das letztinstanzliche Gericht verpflichtet ist. Hiervon ist der Senat z.B. in seinem Vorlagebeschluß vom 6. Juni 1989 VII K 4/89 (nur Leitsatz in BFHE 157, 264) ausgegangen.

Um eine zolltarifrechtliche Frage ging es auch im Streitfall, in dem über die zolltarifliche Einordnung der von der Klägerin vertriebenen Druckschrift (Tarifnr. 49.02 oder 49.11) entschieden wurde. Eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen ein solches Urteil ist unzulässig, weil ihr das Rechtsschutzinteresse fehlt. Insoweit gilt nichts anderes als in den Fällen der nach § 116 Abs. 1 FGO zulassungsfrei gegebenen Revision (vgl. dazu BFH, Beschluß vom 9. Juni 1986 IX B 90/85, BFHE 146, 395, BStBl II 1986, 679).

3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Revisionsfrist kann nicht gewährt werden.

a) Der Wiedereinsetzung steht bereits entgegen, daß die Klägerin die Tatsachen zur Begründung des Antrags nicht innerhalb der Antragsfrist glaubhaft gemacht hat (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 und 2 FGO). Nach ständiger Rechtsprechung müssen die antragsbegründenden Tatsachen grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist dargelegt werden (z.B. BFH, Urteile vom 27. März 1985 II R 118/83, BFHE 144, 1, BStBl II 1985, 586, und vom 10. Oktober 1988 IV R 202/85, BFH/NV 1990, 42; anderer Ansicht Tipke/Kruse, AO/FGO, 13. Aufl., § 56 FGO Tz. 5; demgegenüber wie hier mit zutreffendem Hinweis auf § 236 Abs. 2 Satz 1 der Zivilprozeßordnung Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 6837), unbeschadet der Möglichkeit, fristgerecht gemachte Angaben nachträglich zu erläutern und zu ergänzen. Zu dem erforderlichen fristgerechten Vortrag gehören auch die Tatsachen, die die unverschuldete Säumnis - § 56 Abs. 1 FGO - belegen sollen (Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, a.a.O.), soweit sie nicht gerichtsbekannt oder offenkundig sind (letzteres denkbar etwa in Fällen der Säumnis wegen verzögerten Postlaufs, wenn dieser selbst rechtzeitig dargelegt worden ist). Hier beruft die Klägerin sich auf einen Rechtsirrtum, nämlich auf den Irrtum über die Statthaftigkeit der zulassungsfreien Revision, den sie für unverschuldet hält. Innerhalb der Frist für den Wiedereinsetzungsantrag hat sie jedoch keine Gründe vorgetragen, die belegen könnten, daß ihr Irrtum unverschuldet war. Insoweit fehlt es - ganz - an der Angabe und Glaubhaftmachung von Wiedereinsetzungsgründen. Erst nach Ablauf der Frist hat die Klägerin sich hierzu erklärt. Dabei handelt es sich aber nicht um eine zulässige Ergänzung oder Erläuterung der Antragsangaben, sondern um ein erstmaliges - nachgeschobenes - Vorbringen. Daß hinsichtlich des für die Fristversäumnis ursächlichen Irrtums der Klägerin Verschulden nicht vorlag, war auch nicht offenkundig. Das FG hatte eine zutreffende - umfassende - Rechtsmittelbelehrung erteilt. Seine Verfahrensweise bei der Behandlung der Nichtzulassungsbeschwerde - Nichtabhilfe und Weiterleitung an den BFH (vgl. § 115 Abs. 5 Satz 1, § 130 Abs. 1 FGO) - entsprach dem Gesetz; dieses Verfahren war nicht geeignet, bei der Klägerin einen Irrtum aufkommen zu lassen oder zu verstärken. Einen - besonderen - Hinweis auf die Statthaftigkeit der zulassungsfreien Revision brauchte das FG nicht zu geben; seine Verpflichtung erschöpfte sich darin, das Urteil mit Rechtsmittelbelehrung zu versehen (§ 105 Abs. 2 Nr. 6 FGO). Umstritten war die Frage der zulassungsfreien Revision in Fällen der vorliegenden Art im übrigen nicht.

b) Unabhängig hiervon kann der Rechtsirrtum der Klägerin auch nicht als unverschuldet gelten. Die Klägerin war durch einen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater vertreten. Ein berufsmäßiger Vertreter muß in aller Regel das (Verfahrens-)Recht kennen; Ausnahmen gelten, wenn in Rechtsprechung und Schrifttum Unklarheit über das einzuschlagende Verfahren besteht, insbesondere, wenn der Prozeßbevollmächtigte sich in einer schwierigen Verfahrenslage auf den Rat eines mit der Sache befaßten Richters verläßt (Gräber/Koch, a.a.O., Anm. 33). Ein Fall dieser Art lag hier aber nicht vor. Die Rechtsauffassung in dem der Klägerin bekanntgewordenen Beschluß des V. Senats beruhte auf schlichter Auslegung von § 116 Abs. 2 FGO, nicht auf "Rechtsfortbildung". Diese Auslegung ist nicht erstmals vorgenommen worden; sie liegt vielmehr auch den - früheren - Entscheidungen des Senats zugrunde (insbesondere BFHE 148, 372, 374). Schon ihnen konnte entnommen werden, daß in Fällen der hier vorliegenden Art die zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 2 FGO gegeben ist. Ggf. hätte es der Klägerin bei gleichwohl noch bestehenden Zweifeln freigestanden, Revision und Nichtzulassungsbeschwerde nebeneinander - jeweils unbedingt - einzulegen (wenn auch mit der Folge der Kostenpflicht bei der dann zu erwartenden Verwerfung eines Rechtsmittels, hier der Nichtzulassungsbeschwerde).