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BFH-Urteil vom 16.2.1990 (VI R 40/86) BStBl. 1990 II S. 565

Einer sog. NV-Verfügung kann der Erklärungsinhalt beizumessen sein, daß keine Lohnsteuer nachgefordert werde; sie unterliegt dann den für Steuerbescheide geltenden Änderungsvorschriften.

AO 1977 § 155 Abs. 1 Satz 3, §§ 172 ff.; EStG § 46 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1.

Vorinstanz: FG des Saarlandes

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) und seine Ehefrau hatten im Jahre 1979 einen Antrag auf Lohnsteuerermäßigung für das Streitjahr 1980 gestellt, und zwar u.a. wegen Aufwendungen für die auswärtige Berufsausbildung des Sohnes der Ehefrau. In diesem Antrag hatten sie das Geburtsdatum des Sohnes zutreffend mit dem 31. März 1968 vermerkt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hatte daraufhin auf der Lohnsteuerkarte einen Freibetrag eingetragen, der u.a. 4.200 DM nach § 33a Abs. 2 Nr. 1 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) umfaßte. Mit der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1980 hatte der Kläger die Anlage KSO abgegeben, in der er 815 DM Einnahmen aus Kapitalvermögen erklärte.

Bei der Überprüfung der Einkommensteuererklärung, in der Zusammenveranlagung beantragt war und in der darauf hingewiesen war, daß mit einer Steuererstattung gerechnet werde, stellte die Veranlagungsdienststelle fest, daß das Kind der Ehefrau des Klägers das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Das FA gab deshalb insoweit lediglich einen Betrag von 1.800 DM (= Ausbildungsfreibetrag nach § 33a Abs. 2 Nr. 2 EStG) an die Datenverarbeitungsstelle weiter. Die Veranlagungsdienststelle erhielt daraufhin eine verwaltungsinterne programmgesteuerte Hinweismitteilung folgenden Inhalts: "NV-Fall im Sinne des § 46 EStG, in dem zu wenig Lohnsteuer entrichtet worden ist. Die Einkommensteuererklärung ist zur weiteren Bearbeitung der Lohnsteuerstelle zuzuleiten. Diese hat zu prüfen, ob Lohnsteuer nachzufordern ist."

Daraufhin wurde dem Kläger und seiner Ehefrau mit Datum vom 26. Januar 1982 eine "Mitteilung für 1980 über Einkommensteuer...." zugesandt, die besagte, daß für das Kalenderjahr 1980 eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht stattfinde, weil die Voraussetzungen des § 46 EStG nicht vorlägen. In der Mitteilung ist weiter ausgeführt:

"Eine Erstattung der für dieses Kalenderjahr im Wege des Steuerabzugs entrichteten Beträge ist hiermit nicht verbunden.

Abschnitt II - Rechtsbehelfsbelehrung - gilt für diese Mitteilung entsprechend.

Erläuterungen

Ihre Nebeneinkünfte bleiben außer Ansatz, weil sie 800 DM nicht übersteigen. Abrechnung nach dem Stand vom 13. 01. 1982

Bitte beachten Sie auch hierzu die Ausführungen im Abschnitt II (Rückseite)

 

Einkommensteuer

Steuerschuld

0

Darauf sind bereits entrichtet

0

Es sind demnach zuviel entrichtet

0."

Mit Bescheid vom 8. Juli 1982 setzte das FA nachzufordernde Lohnsteuer in Höhe von 574 DM fest. In einer Anlage zu diesem Bescheid teilte es mit, daß bei der Berechnung des Ausbildungsfreibetrags für das Jahr 1980 im Rahmen der Lohnsteuerermäßigung irrtümlich 4.200 DM berücksichtigt worden seien, obwohl der Sohn das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe. Gemäß § 33a Abs. 2 Nr. 2 EStG hätte statt dessen nur ein Freibetrag von lediglich 1.800 DM gewährt werden dürfen.

Im Klageverfahren hielt der Kläger an seiner Auffassung fest, der Nachforderungsbescheid hätte nicht ergehen dürfen. Mit der Mitteilung vom 26. Januar 1982 habe bereits ein bestandskräftiger Steuerbescheid vorgelegen, der keiner Korrektur zugänglich gewesen sei.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 sei als Verwaltungsakt im Sinne von § 118 der Abgabenordnung (AO 1977) anzusehen. Dieser Verwaltungsakt sei jedoch kein Steuerbescheid im Sinne von § 155 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, da in ihm keine Steuern festgesetzt würden. Der Inhalt dieser "Mitteilung" gehe lediglich dahin, den Kläger darauf hinzuweisen, daß eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht stattfinde, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Der Teil der Mitteilung "Steuerschuld .... 0,00" beinhalte keine Steuerfestsetzung auf den Betrag von null DM. Der betreffende Passus stehe im Abrechnungsteil des Bescheides. Der Abrechnungsteil, in dem u.a. die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer auf die geschuldete Einkommensteuer angerechnet werde (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG), sei Teil der Steuererhebung.

Der Nachforderungsbescheid habe seine Rechtsgrundlage in § 42d Abs. 3 Satz 4 EStG.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt die Verletzung des § 155 Abs. 1 AO 1977.

Die Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 sei gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 ein Steuerbescheid, da sie einen Antrag auf Steuerfestsetzung ablehne. Der Antrag des Klägers auf Einkommensteuerveranlagung sei ein Antrag auf Steuerfestsetzung nach § 155 AO 1977 gewesen. Auch nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei in einer "Mitteilung" der fraglichen Art ein Steuerbescheid zu sehen, wenn der sog. NV-Bescheid als Entscheidung über den Antrag auf Einkommensteuerveranlagung ergangen sei (Urteil vom 23. Januar 1985 I R 284/81, BFH/NV 1985, 14). Der Lohnsteuernachforderungsbescheid hätte daher nicht mehr ergehen dürfen. Eine Nachforderung wäre nur noch nach den §§ 172 ff. AO 1977 zulässig gewesen.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des Urteils des FG den Nachforderungsbescheid des FA vom 8. Juli 1982 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des FG und des Nachforderungsbescheids des FA vom 8. Juli 1982 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung.

Der Kläger konnte der als Steuerbescheid anzusehenden Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 entnehmen, daß er für das Streitjahr keine weiteren Steuern zu bezahlen habe. Dem späteren Erlaß des Nachforderungsbescheids standen die §§ 172 ff. AO 1977 entgegen.

Das FG hat den Rechtscharakter der Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 verkannt. Die mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Mitteilung des FA gilt als Steuerbescheid im Sinne des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977. Denn durch diese Mitteilung ist der Antrag des Klägers und seiner Ehefrau auf Steuerfestsetzung abgelehnt worden (Urteile des BFH vom 12. Mai 1989 III R 200/85, BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920, und vom 4. Juni 1986 IX R 52/82, BFHE 147, 393, BStBl II 1987, 3). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die in den zitierten BFH-Entscheidungen enthaltenen Ausführungen verwiesen. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob der Mitteilung des FA auch die Bedeutung eines Freistellungsbescheides im Sinne des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 beizumessen ist (vgl. BFH in BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 155 AO 1977 Tz. 3 a dd mit Rechtsprechungsnachweisen) und/oder ob der Abrechnungsteil der Mitteilung als begünstigender Verwaltungsakt anzusehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 16. Oktober 1986 VII R 159/83, BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405).

Das FG hat jedenfalls den Gesamtregelungsinhalt der betreffenden Mitteilung verkannt. Es hat zu Unrecht gemeint, der Inhalt der Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 erschöpfe sich in dem Hinweis darauf, daß eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht stattfinde, weil die Voraussetzungen nicht vorlägen. Die Mitteilung des FA läßt vielmehr den Schluß zu, daß aufgrund der abgegebenen Einkommensteuererklärung weitere Steuern für das Streitjahr nicht zu bezahlen seien. Die fehlerhafte Auslegung der gesamten Mitteilung des FA durch das FG ist durch den erkennenden Senat zu korrigieren (BFH-Urteil vom 30. September 1988 III R 218/84, BFH/NV 1989, 749).

Der Regelungsinhalt der Mitteilung ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei ist § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als eine für öffentlich-rechtliche Willensbekundungen geltende Auslegungsregel zu berücksichtigen. Es kommt deshalb darauf an, wie der Kläger selbst nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der Erklärungen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH in BFH/NV 1989, 749 mit weiteren Nachweisen). Dabei ist nicht ausschlaggebend, was das FA mit der Mitteilung bewirken wollte (BFH-Urteil vom 13. März 1986 IV R 204/84, BFHE 146, 340, BStBl II 1986, 584 mit weiteren Nachweisen).

Der Kläger konnte der Mitteilung des FA vom 26. Januar 1982 nicht nur entnehmen, daß keine Steuerfestsetzung und keine Steuererstattung erfolgen werde. Er konnte daraus auch den Eindruck gewinnen, daß die Steuerangelegenheit des Streitjahres erledigt sei. Beim Empfänger einer derartigen Mitteilung kann grundsätzlich nicht vorausgesetzt werden, daß er mit den rechtlichen Bestimmungen vertraut ist, die eine Lohnsteuernachforderung außerhalb des - abgelehnten - Einkommensteuerveranlagungs - und - erstattungsverfahrens zulassen. Von der Mitteilung des FA ging schon deshalb der Anschein keiner weiteren Inanspruchnahme aus, weil in ihr die Steuerschuld mit null DM angegeben und keinerlei Hinweis angebracht wurde, daß noch Steuer nachzuentrichten sei bzw. nachgefordert werden könne. Der Kläger konnte auch aufgrund des Hinweises, daß die Nebeneinkünfte aus Kapitalvermögen außer Ansatz blieben, weil sie 800 DM nicht überstiegen, darauf vertrauen, daß keine andere Steuer geschuldet werde als die bereits durch den Lohnsteuerabzug erhobene.

Das FA muß sich an dem von der betreffenden Mitteilung ausgehenden Anschein, daß der Kläger für das Streitjahr steuerlich nicht mehr in Anspruch genommen werde, festhalten lassen. Das FA hätte es in der Hand gehabt, der Mitteilung durch die Aufnahme eines Hinweises, daß noch Lohnsteuer geschuldet bzw. möglicherweise nachgefordert werde, einen einschränkenden Inhalt zu geben. Die Unterlassung eines derartigen Hinweises liegt im Risikobereich des FA. Eventuelle Unklarheiten bei der Auslegung der Mitteilung des FA gehen zu dessen Lasten (BFH-Urteil vom 28. November 1985 IV R 178/83, BFHE 145, 226, BStBl II 1986, 293).

Der angefochtene Nachforderungsbescheid bewirkt im Ergebnis eine Änderung der als Steuerbescheid zu wertenden NV-Verfügung. Die Voraussetzungen für eine solche Änderung (§§ 172 f. AO 1977) lagen nicht vor, da dem FA bei Erlaß der NV-Verfügung sämtliche entscheidungserheblichen Umstände bekannt waren.