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  BFH-Urteil vom 8.6.1990 (III R 41/90) BStBl. 1990 II S. 944

1. Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO durch das FG kommt nicht schon deshalb in Betracht, weil in derselben Rechtsfrage beim BFH ein Musterprozeß anhängig ist.

2. Über einen Antrag, das Verfahren wegen eines bereits anhängigen Musterprozesses ruhen zu lassen, entscheidet vorrangig die Finanzbehörde gemäß § 363 Abs. 2 AO 1977 durch Verwaltungsakt. Gegen die Ablehnung eines solchen Antrags ist ebenso wie gegen die Anordnung selbst die Beschwerde gegeben.

3. Die Frage, ob das FG die fehlende Zustimmung eines Beteiligten ersetzen muß, weil dessen Weigerung, einem Ruhen des Verfahrens zuzustimmen, rechtsmißbräuchlich ist, bedarf nur dann einer Entscheidung des Gerichts, wenn die Gründe für die Anordnung einer Verfahrensruhe erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren aufgetreten sind.

AO 1977 § 363 Abs. 2, § 349; FGO § 74, § 155 i.V.m. § 252 ZPO.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist ledig. Er bezog in den Streitjahren 1986 und 1987 als Maschinenschlosser Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit; daneben hatte er Einkünfte aus Kapitalvermögen und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung eines selbstgenutzten Einfamilienhauses. Mit Einkommensteuerbescheid 1986 vom 20. Februar 1989 berechnete der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) für den Kläger antragsgemäß ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 45.637 DM und setzte die darauf entfallende Einkommensteuer nach der Grundtabelle mit 12.561 DM fest. Im Einkommensteuerbescheid 1987 vom 19. April 1989 wurde das zu versteuernde Einkommen mit 50.336 DM berechnet und nach der Grundtabelle eine Einkommensteuer von 14.681 DM festgesetzt.

Einspruch und Klage, mit denen der Kläger den Ansatz höherer Grundfreibeträge begehrte, hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung seiner Entscheidung aus, die Regelung des § 32a des Einkommensteuergesetzes (EStG) verstoße in den Streitjahren nicht gegen das Grundgesetz (GG), denn der Grundfreibetrag habe im Streitjahr in etwa den Regelsätzen der Sozialhilfe entsprochen. Im übrigen ergäbe sich selbst dann noch kein Verfassungsverstoß, wenn der Grundfreibetrag bei einer isolierten Betrachtungsweise zu niedrig bemessen wäre. In einem solchen Fall könnten nur solche Steuerpflichtige eine Grundrechtsverletzung rügen, die zur Erfüllung ihrer Steuerschuld ihr nach Auffassung des Klägers realistisches Existenzminimum angreifen müßten.

Da der Grundfreibetrag jeden Steuerpflichtigen betreffe, komme eine Vertagung des Termins zur mündlichen Verhandlung nicht in Betracht. Die große Breitenwirkung dieser Rechtsfrage schließe es aus, ein oder zwei Musterverfahren durchzuführen, alle übrigen Verfahren jedoch ruhen zu lassen.

Dagegen richtet sich die Revision, die das FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat. Der Kläger rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts und trägt vor: Der durch § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG gewährte Grundfreibetrag, der das Existenzminimum des Steuerpflichtigen von der Einkommensteuer freistellen soll, sei unangemessen niedrig, weil er nicht die notwendigen Aufwendungen für Nahrung, Kleidung und Wohnung abgelte. Als Vergleichsmaßstab für eine realitätsgerechte Berücksichtigung des Existenzminimums seien die Regelsätze der Sozialhilfe allein nicht geeignet. Vielmehr müßten für jeden Steuerpflichtigen gleichermaßen der Wert für eine angemessene Wohnung und die Aufwendungen für Heizung hinzugerechnet werden, so daß sich sozialhilferechtlich ein Existenzminimum von 10.000 DM für Ledige und von 16.000 DM für Verheiratete ergebe. Das geltende Recht verstoße insoweit gegen das Art. 3 Abs. 1 GG zu entnehmende Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und gegen das Gebot der Sozialstaatlichkeit gemäß Art. 20 GG.

In der Verfahrensweise des FG liege ein Verfahrensmangel. Die Vorentscheidung verletze den Grundsatz der Prozeßökonomie, weil sich das FG geweigert habe, das Verfahren auszusetzen oder ein Ruhen des Verfahrens anzuordnen, damit nur zwei - dem FG von seinem Prozeßbevollmächtigten angebotene Verfahren - der zahlreichen beim FG zu der gleichen Rechtsfrage anhängigen Verfahren als Musterfälle entschieden würden. Sowohl der Gleichheitssatz als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seien bei der Terminierung von Rechtssachen zu beachten, die eine schwierige Rechtsfrage wie die der Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages zum Gegenstand hätten. Die Auffassung des FG, daß der Senat bei einer anderen Verfahrensweise keine weiteren Verfahren mehr entscheiden könnte, hätte einer weiteren Begründung bedurft. Denn in anderen Fällen hätte das FG nicht über das Klagebegehren hinausgehen dürfen. In den vorliegenden Verfahren sei die Richterkraft nicht mehr ökonomisch eingesetzt worden, zumal auch das FA die Vorschrift des § 363 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht zweckmäßig im Sinne einer Filterwirkung eingesetzt habe (vgl. Kölner Steuerdialog - KÖSDI - 1989, 7903 ff.). Das FG sei auch seiner Hinweispflicht nicht nachgekommen, aus prozeßökonomischen Gründen die Zustimmung des FA zu einem Ruhen des Verfahrens anzuregen. Bei einem derart grundsätzlichen Verfahren sei von der Zustimmungspflicht des FA und von einer Ermessenseinengung des FG auszugehen (Felix, KÖSDI 1990/2).

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide 1986 und 1987 dahingehend abzuändern, daß ein Grundfreibetrag von jeweils 10.000 DM berücksichtigt wird.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

a) Die Entscheidung des FG verstößt weder gegen § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) noch gegen § 155 FGO i.V.m. § 251 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Die Durchführung eines sog. Musterprozesses ist kein vorgreifliches Rechtsverhältnis i.S. des § 74 FGO (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. Oktober 1977 III B 8/77, Der Steuerberater - StB - 1979, 38, und vom 21. August 1986 VI B 91/85, BFH/NV 1987, 43). Auch das Ruhen des Verfahrens konnte nicht angeordnet werden. Dabei bedarf es keiner Entscheidung der Frage, ob ein Musterprozeß als sonstiger wichtiger Grund i.S. des § 251 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Ruhen des Verfahrens hätte zweckmäßig erscheinen lassen. Eine derartige Anordnung kam schon deshalb nicht in Betracht, weil das FA einem solchen Antrag nicht zugestimmt hat.

b) Aber auch die Entscheidung der Frage, ob das FG die fehlende Zustimmung - wie der Kläger meint - hätte ersetzen müssen, weil die Weigerung des FA, einem Ruhen des Verfahrens zuzustimmen, rechtsmißbräuchlich gewesen sei, kann im Streitfall dahinstehen. Nach Auffassung des Senats bedarf diese Frage nur dann einer Entscheidung, wenn die Gründe für die Anordnung einer Verfahrensruhe erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren aufgetreten sind. Über den Antrag, das Verfahren ruhen zu lassen, entscheidet vorrangig die Finanzbehörde gemäß § 363 Abs. 2 AO 1977 durch Verwaltungsakt. Gegen die Ablehnung eines solchen Antrags ist daher ebenso wie gegen die Anordnung selbst die Beschwerde gegeben (vgl. etwa Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4. Aufl., 1989, § 363 Anm. 4, und Tipke/Kruse, Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 363 AO 1977 Tz. 4, jeweils m.w.N.).

Davon abweichend hat der Senat in seinem Urteil vom 3. April 1959 III 135/58 U (BFHE 69, 132, BStBl III 1959, 311) zu § 259 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) die Auffassung vertreten, gegen die Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Einspruchsentscheidung sei ein besonderes Rechtsmittel nicht gegeben, darüber sei vielmehr im normalen Rechtsmittelverfahren zu entscheiden (gleicher Ansicht Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 363 AO 1977 Anm. 4 f). Diese Auffassung ist unter Geltung der AO 1977 nicht mehr aufrechtzuerhalten; denn bei der Ablehnung eines derartigen Antrags handelt es sich - wie der Senat in BFHE 69, 132, BStBl III 1959, 311 ausgeführt hat - ebenso wie bei der Anordnung der Verfahrensruhe um einen ermessensgebundenen Verwaltungsakt, gegen den nach §§ 348, 349 Abs. 1 AO 1977 die Beschwerde gegeben ist. Der Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen ist durch Aussetzung des Einspruchs- und ggf. auch des Klageverfahrens in der Hauptsache gemäß § 363 Abs. 1 AO 1977 und § 74 Abs. 1 FGO zu begegnen.

2. Das FG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger bei den Einkommensteuerveranlagungen für die Streitjahre nur der in § 32a Abs. 1 EStG vorgesehene Grundfreibetrag zu gewähren war.

Nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 EStG 1986 beträgt die Einkommensteuer für zu versteuernde Einkommen bis 4.536 DM (Grundfreibetrag): 0 und für zu versteuernde Einkommen von 4.537 DM bis 18.035 DM: 0,22 x - 998.

Die verfassungsrechtlichen Einwendungen des Klägers gegen die Bemessung dieses Grundfreibetrags greifen nicht durch. Der Senat nimmt insoweit wegen der Begründung Bezug auf die Ausführungen in seiner gleichzeitig veröffentlichten Entscheidung III R 14-16/90 vom 8. Juni 1990 (BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969).