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  BFH-Urteil vom 29.5.1990 (VII R 85/89) BStBl. 1990 II S. 1008

1. Das Auswahlermessen für die Inanspruchnahme eines von zwei jeweils alleinvertretungsberechtigten GmbH-Geschäftsführern als Haftungsschuldner ist in der Regel nicht sachgerecht ausgeübt, wenn das FA hierfür allein auf die Beteiligungsverhältnisse der Geschäftsführer am Gesellschaftskapital abstellt.

2. Die Tatsache der Geburt eines Kindes durch eine Geschäftsführerin während des Haftungszeitraums ist - wenn nicht bereits beim Haftungstatbestand (§ 69 AO 1977) - bei der Ausübung des Auswahlermessens zu berücksichtigen.

AO 1977 §§ 34, 69, 191 Abs. 1; FGO § 102.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) gründete gemeinsam mit B durch notariell beurkundeten Gesellschaftsvertrag vom 14. Januar 1980 eine Bauunternehmungs-GmbH. Die Klägerin übernahm 95 v.H. der Gesellschaftsanteile, B 5 v.H.; beide Gesellschafter wurden zu jeweils allein vertretungsberechtigten Geschäftsführern bestellt. Die GmbH, die bereits am 24. November 1979 ihren Geschäftsbetrieb aufgenommen hatte, wurde am 25. April 1980 in das Handelsregister eingetragen. Ihr Konkursantrag von Mitte Juni 1980 wurde durch Beschluß des zuständigen Amtsgerichts mangels Masse abgelehnt; die GmbH wurde sodann von Amts wegen im Handelsregister gelöscht.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nahm die Klägerin wegen angemeldeter, aber nicht abgeführter Lohnsteuer und Kirchensteuer der GmbH sowie darauf entfallender Säumniszuschläge als Haftungsschuldnerin gemäß §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch. Der Einspruch gegen den Haftungsbescheid führte aufgrund berichtigter Lohnsteueranmeldungen zu einer Herabsetzung der Haftungssumme für die Haftungszeiträume November 1979 und Januar bis Mai 1980 auf insgesamt 24.224,14 DM.

Die Klage der Klägerin gegen den Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung hatte nur hinsichtlich der Säumniszuschläge teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus:

Die Klägerin habe für den gesamten Haftungszeitraum den Haftungstatbestand der §§ 34 Abs. 1, 69 AO 1977 erfüllt, da sie als Geschäftsführerin sowohl der Vorgründungsgesellschaft (bis zur notariellen Beurkundung des Gesellschaftsvertrags), der Vorgesellschaft (ab Beurkundung des Gesellschaftsvertrags) als auch der GmbH als juristischen Person (ab Handelsregistereintragung) verpflichtet gewesen sei, die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen. Sie habe aber die während des Haftungszeitraums einbehaltene Lohnsteuer weder fristgerecht angemeldet noch an das FA abgeführt.

Die Pflichtverletzung der Klägerin entfalle nicht dadurch, daß diese innerhalb des Haftungszeitraums ein Kind geboren habe und ausweislich einer Bescheinigung ihrer Krankenkasse die vierzehnwöchige Mutterschutzfrist und der sich daran anschließende Mutterschaftsurlaub nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG) den Zeitraum vom 13. Oktober 1979 bis zum 24. Mai 1980 umfaßt habe. Das MuSchG gelte nur für Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stünden, nicht aber für Organe juristischer Personen wie die Klägerin als GmbH-Geschäftsführerin. Die Klägerin habe auch grob fahrlässig gehandelt, weil sie sich überhaupt nicht um die geschäftlichen Belange der Gesellschaft gekümmert habe.

Das FA habe sein Ermessen hinsichtlich der Inanspruchnahme der Klägerin fehlerfrei ausgeübt. Zum Auswahlermessen habe es im Haftungsbescheid und in der Einspruchsentscheidung ausgeführt, daß eine Inanspruchnahme der GmbH nicht zum Erfolg geführt habe und die Arbeitnehmer angesichts ihrer Zahl nur unter Schwierigkeiten zur Zahlung der Steuerschulden herangezogen werden könnten. Die Heranziehung der Klägerin vor dem anderen Geschäftsführer der GmbH habe das FA schließlich mit deren beherrschendem Einfluß von 95 v.H. der Gesellschaftsanteile begründet. Der Senat könne darin keinen Ermessensfehler erkennen. Er halte den Einfluß eines Gesellschafters in der Gesellschaft für ein sachgerechtes Auswahlkriterium.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des FG, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und zur Aufhebung der Verwaltungsentscheidungen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

1. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob und inwieweit die Klägerin als Gesellschafterin und Geschäftsführerin der GmbH sowie der dieser vorausgegangenen Vorgesellschaft (§ 11 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbHG -) und der möglicherweise schon vor der Errichtung der Gesellschaft durch Abschluß des Gesellschaftsvertrags bestehenden Vorgründungsgesellschaft hinsichtlich der in der Einspruchsentscheidung genannten Lohnsteueranmeldungszeiträume den Haftungstatbestand der §§ 34, 69 AO 1977 oder anderer Haftungsnormen erfüllt hat. Es kann auch unentschieden bleiben, ob die Geburt eines Kindes durch die Klägerin und die nach dem MuSchG bestehenden Beschäftigungsverbote vor und nach der Entbindung (§§ 3 Abs. 2, 6 Abs. 1 MuSchG) sowie der Mutterschutzurlaub (§ 8a MuSchG a.F.), auf die sich die Klägerin beruft, weil sie den Haftungszeitraum nahezu voll abdecken - auch wenn das MuSchG mangels Bestehens eines Arbeitsverhältnisses auf die Klägerin keine unmittelbare Anwendung findet (§ 1 Nr. 1) -, die Pflichtverletzung oder das Verschulden der Geschäftsführerin i.S. des § 69 AO 1977 ausschließen bzw. mildern können. Für den Fall, daß die Klägerin den Haftungstatbestand erfüllt hat, kommt aus denselben Gründen - wie auch das FA und das FG angenommen haben - eine Haftung des Mitgeschäftsführers B in Betracht, da dieser ebenfalls Gesellschafter und alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der während des Haftungszeitraums entstandenen GmbH war, so daß er ebenso wie die Klägerin die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen hatte (§ 34 Abs. 1 AO 1977). Die Ermessensentscheidung des FA, allein die Klägerin, nicht aber den anderen Geschäftsführer, für die Steuerrückstände als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, kann - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - aus den vom FA angeführten Gründen nicht gebilligt werden. Die Vorentscheidung sowie der Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung waren deshalb als rechtsfehlerhaft aufzuheben.

2. a) Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO 1977), die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung, begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Insbesondere muß die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt.

b) Das FA hat zwar in der Einspruchsentscheidung die alleinige Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin, obwohl ein zweiter Geschäftsführer vorhanden war, damit begründet, daß diese im Innenverhältnis im Hinblick auf ihre Beteiligung von 95 v.H. am Stammkapital der GmbH den beherrschenden Einfluß ausgeübt habe. Diese Erwägungen zum Auswahlermessen zwischen beiden Geschäftsführern werden aber dem Zweck der Ermächtigung in § 191 Abs. 1 AO 1977 bei der Geschäftsführerhaftung und den Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht gerecht.

Der nach dem Umfang seiner Kapitalbeteiligung bemessene Einfluß des Geschäftsführers innerhalb der Gesellschaft ist - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - schon vom Ausgangspunkt des Gesetzes her kein sachgerechtes Auswahlkriterium für die Inanspruchnahme des Geschäftsführers, weil die §§ 34, 69 AO 1977 für die Haftung allein auf die Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter (Geschäftsführer) abstellen und nicht auf die Beteiligungsverhältnisse am Gesellschaftskapital. Im Streitfall waren beide Geschäftsführer jeweils allein zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt. Die Verpflichtung zur Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH und ihrer Vorgesellschaft (§ 34 Abs. 1 AO 1977) traf sie gleichermaßen. Soweit beide den Haftungstatbestand erfüllen, könnte als sachgerechtes Kriterium für die Ausübung des Auswahlermessens ein unterschiedlicher Grad des Verschuldens in Betracht kommen. Hierzu haben aber das FA und das FG keine Feststellungen getroffen, so daß darauf die Ermessensentscheidung nicht gestützt werden kann.

Der vom FA angeführte beherrschende Einfluß eines Geschäftsführers könnte zwar dann als sachgerechtes Kriterium für die Ausübung des Auswahlermessens herangezogen werden, wenn dieser die Gesellschaft nicht allein finanziell, sondern in ihrem ganzen Geschäftsgebaren tatsächlich beherrscht, so daß der andere Geschäftsführer in der Erfüllung seiner Verpflichtungen aus § 34 Abs. 1 AO 1977 beeinträchtigt wird (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 7 am Ende unter Hinweis auf das Urteil des Reichsfinanzhofs vom 11. Januar 1929 V A 549/28, Mrozek, Steuerrechtsprechung, Reichsabgabenordnung 1919, § 90, Rechtsspruch 17, und Wilcke in Steuerrechtsprechung in Karteiform, Anmerkung zur Abgabenordnung, § 69, Rechtsspruch 4, S. 2). Ein derartiger Sachverhalt ist aber, abgesehen von der unterschiedlichen Kapitalbeteiligung der beiden Geschäftsführer, für den Streitfall weder festgestellt noch der Ermessensentscheidung des FA zugrunde gelegt worden. Vielmehr war hier zu berücksichtigen, daß die Klägerin trotz ihrer überwiegenden Kapitalbeteiligung die Führung der Gesellschaft und die Erfüllung der Geschäftsführerpflichten während des Haftungszeitraums - wie das FG festgestellt und ihr zum Vorwurf gemacht hat - wegen der Geburt ihres Kindes dem anderen Geschäftsführer überlassen hat. Wenn auch die Nichtausübung der Geschäftsführung durch die Klägerin nicht geeignet gewesen sein sollte, ihre Pflichtverletzung und ihr Verschulden i.S. des § 69 AO 1977 auszuschließen, so hätten doch die besonderen Umstände des Streitfalles - tatsächliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit durch die Geburt eines Kindes - in die Ermessenserwägungen des FA für die Ausübung des Auswahlermessens einbezogen werden müssen. Das FA wäre dann möglicherweise nicht zu der alleinigen Heranziehung der Klägerin als Haftungsschuldnerin gelangt. Da dies nicht geschehen ist, ist das Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt worden. Der Haftungsbescheid war deshalb aufzuheben.