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  BFH-Urteil vom 13.7.1990 (VI R 109/86) BStBl. 1990 II S. 1047

Im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren sind dem FA auch Tatsachen bekannt, die sich aus den Anträgen des Steuerpflichtigen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich für die vorangegangenen zwei Jahre ergeben. Sie werden nicht dadurch unbekannt, daß die Vorjahresunterlagen im Keller abgelegt werden und die FÄ nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften gehalten sind, die Ausgleichsanträge im aktenlosen Verfahren zu bearbeiten und dabei frühere Vorgänge grundsätzlich nicht heranzuziehen.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1; EStG § 42.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Der verheiratete Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist jugoslawischer Staatsangehöriger und seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) als Arbeitnehmer tätig. Seine Ehefrau und seine neun Kinder lebten während des Streitjahres 1981 in Jugoslawien.

In seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 machte der Kläger Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung in Höhe von 7.348 DM als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend, die der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) im Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 vom 6. April 1982 steuerermäßigend berücksichtigte.

Im Oktober 1982 teilte das zuständige Einwohnermeldeamt dem FA mit, daß die Ehefrau des Klägers und fünf seiner Kinder in der Zeit vom 24. November 1978 bis 19. Februar 1980 am Wohnsitz des Klägers in der Bundesrepublik gemeldet waren. Während dieser Zeit hatten die Ehegatten einen gemeinsamen Haushalt geführt. Die übrigen vier Kinder waren in Jugoslawien geblieben und hatten dort zusammen mit dem Vater des Klägers gelebt. Im Februar 1980 waren Ehefrau und Kinder an den jugoslawischen Wohnsitz zurückgekehrt.

In seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1979 hatte der Kläger als Wohnort seiner Ehefrau "bis 11. 02. 1980" seine inländische Anschrift vermerkt und dementsprechend Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung nicht geltend gemacht. Demgegenüber hatte er in seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1980 die Frage nach dem Wohnort seiner Ehefrau mit "S/Jugoslawien (ab Januar 1980)" beantwortet und zugleich Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung in der Zeit vom 19. Februar 1980 bis 31. Dezember 1980 in Höhe von 7.400 DM geltend gemacht, die das FA im Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1980 anerkannte.

Die Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1979 bis 1981 enthielten jeweils die Lohnsteuernummer des Vorjahresbescheides.

Mit dem auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 vom 14. Dezember 1982 ließ das FA die Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 2. Dezember 1981 VI R 22/80 (BFHE 135, 182, BStBl II 1982, 323) nicht mehr zum Abzug zu.

Der Einspruch, mit dem der Kläger die Aufhebung des Änderungsbescheides begehrte, blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte u.a. aus:

Eine neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977 habe nicht vorgelegen, weil das FA aus den Anträgen des Klägers auf Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1979 und 1980 habe ersehen können, daß sich die Ehefrau jedenfalls im Jahre 1979 und Anfang 1980 in der Bundesrepublik aufgehalten habe. Zwar seien die FÄ durch Verwaltungsvorschriften angewiesen, Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich im "aktenlosen Verfahren" zu bearbeiten und damit die Vorgänge aus den Vorjahren bei der Bearbeitung nicht hinzuzuziehen. Dies könne indessen nicht dazu führen, daß in diesem Bereich nur noch diejenigen Tatsachen als bekannt zu gelten hätten, die sich unmittelbar aus dem Antrag für das jeweilige Ausgleichsjahr ergäben. Eine andere Betrachtungsweise würde letztlich darauf hinauslaufen, daß die Verwaltung den vom Gesetz vorgegebenen und von der Rechtsprechung ausgefüllten Begriff der "neuen Tatsache" einseitig zu Lasten der Bestandskraft erweitern könne. Da der Kläger in seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 die Lohnsteuernummer des Vorjahres angegeben habe, sei dem FA der Zugriff auf die Vorjahresunterlagen erleichtert worden und eine Verwertung deren Inhalts ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen.

Gegen diese Entscheidung hat das FA Revision eingelegt. Es rügt die fehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 AO 1977. Hierzu bringt es u.a. vor:

Zu Unrecht habe das FG das Vorliegen einer "neuen Tatsache" verneint. Der Aufenthalt der Ehefrau des Klägers in der Bundesrepublik sei ihm - dem FA - erst im Oktober 1982 und damit nach Erlaß des ursprünglichen Bescheids bekanntgeworden. Dem stünden die Angaben in den Anträgen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1979 und 1980 nicht entgegen. Im Gegensatz zum Verfahren bei der Einkommensteuer-Veranlagung würden im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren keine Steuerakten geführt. Die entsprechenden Vorgänge würden vielmehr nach Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs im Keller abgelegt. Sie würden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich in den Folgejahren nur dann herangezogen, wenn der Inhalt der Erklärung zu weiteren Ermittlungen Anlaß biete. Letzteres sei im Streitfall zu verneinen gewesen.

Den Inhalt der im Keller abgelegten Vorgänge früherer Jahre müsse die Lohnsteuer-Stelle nicht als bekannt gegen sich gelten lassen. Denn jeder Stelle gelte nur das als bekannt, was sich aus den von ihr geführten Akten ergebe (vgl. BFH-Urteil vom 12. Oktober 1983 II R 56/81, BFHE 139, 432, BStBl II 1984, 140, 143, mit weiterem Nachweis). Gerade solche Akten existierten im Bereich der Lohnsteuer-Stelle nicht.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Zu Recht ist das FG stillschweigend davon ausgegangen, daß die vollständige oder teilweise Rückforderung des aufgrund eines bestandskräftigen Bescheides über den Lohnsteuer-Jahresausgleich erstatteten Betrages, sofern - wie hier - eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht in Betracht kommt (vgl. Beschluß des Großen Senats des BFH vom 21. Oktober 1985 GrS 2/84, BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207), nur unter den Voraussetzungen erfolgen kann, nach denen bestandskräftige Steuerbescheide geändert werden können (vgl. § 129, §§ 172 ff. AO 1977). Dies entspricht - soweit ersichtlich - einhelliger Auffassung (vgl. z.B. Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 9. Aufl. 1990, § 42 Anm. 5 e und 6; Nissen in Hartmann/Böttcher/Nissen/Bordewin, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 42d Rdnr. 40, 48, 59; Barein in Littmann/Bitz/ Meincke, Einkommensteuergesetz, Kommentar, §§ 42 bis 42c, Rdnr. 80, 84, § 42d Rdnr. 42; v. Bornhaupt, Betriebs-Berater - BB - 1986, 367, 369, linke Spalte).

2. Dem FG ist auch darin zu folgen, daß es die Voraussetzungen für eine Änderung des ursprünglichen Bescheids über den Lohnsteuer-Jahresausgleich nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verneint hat.

a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide u.a. dann aufzuheben oder zu ändern, wenn "neue Tatsachen" vorliegen, die zu einer höheren Steuer führen. Eine Tatsache ist "neu", wenn sie das FA bei Erlaß des ursprünglichen Steuerbescheides (genauer: bei abschließender Zeichnung des entsprechenden Eingabewertbogens; vgl. BFH-Urteil vom 18. März 1987 II R 226/84, BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416) noch nicht kannte.

Eine Tatsache gilt allerdings dann nicht als "neu", wenn sie dem FA bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht (vgl. § 88 AO 1977) nicht verborgen geblieben wäre, sofern der Steuerpflichtige seinerseits seiner Mitwirkungspflicht voll genügt hat (BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241).

Für die Frage der Neuheit einer Tatsache kommt es nach der ständigen Rechtsprechung des BFH auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalles organisatorisch berufenen Dienststelle an (vgl. z.B. Urteile vom 1. Dezember 1967 VI 379/65, BFHE 90, 485, 492, BStBl II 1968, 145, 148, und vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548). Bekannt ist der zuständigen Dienststelle der Inhalt der dort geführten Akten, ohne daß es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492, und die dort erwähnte Rechtsprechung). Nicht ohne weiteres als bekannt gilt freilich der Inhalt älterer, bereits im Keller oder in vergleichbaren Räumen abgelegter Akten. Deren Inhalt muß die zuständige Dienststelle nur dann als bekannt gegen sich gelten lassen, wenn zur Hinzuziehung dieser Vorgänge nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Inhalt der zu bearbeitenden Steuererklärung oder der präsenten Akten, eine besondere Veranlassung bestand mit der Folge, daß das Unterlassen der Beiziehung eine Verletzung der Ermittlungspflicht nach sich zöge (BFH-Urteil vom 27. September 1963 III 135/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1964, 89).

b) Unter Beachtung dieser Grundsätze ist das FG zutreffend davon ausgegangen, daß dem FA die Tatsache des Inlandsaufenthalts der Ehefrau und eines Teils der Kinder in der Zeit von November 1978 bis Februar 1980 bei Erlaß des zu ändernden Bescheids über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 bekannt war. Sie war der zuständigen Stelle (Lohnsteuer-Stelle) mit der Abgabe der Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1979 und 1980 bekanntgeworden. Diese Kenntnis wirkte bis zum Erlaß des ursprünglichen Bescheids über den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 vom 6. April 1982 unabhängig davon fort, ob die betreffenden Angaben des Klägers in den Vorjahresanträgen für 1979 und 1980 dem zuständigen Bearbeiter noch konkret erinnerlich waren und ob dieser ihren Inhalt überhaupt jemals bewußt in sein Wissen aufgenommen hatte (vgl. auch BFH-Urteil vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220). Sie wurde auch nicht dadurch wieder beseitigt, daß die Lohnsteuer-Stelle die entsprechenden Vorgänge für die Jahre 1979 und 1980 nach deren Bearbeitung im Keller ablegte und aufgrund der bestehenden Verwaltungsvorschriften gehalten war, die Vorjahresvorgänge bei der Bearbeitung späterer Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich grundsätzlich nicht heranzuziehen.

Wie das FG rechtsirrtumsfrei ausgeführt hat, entfalten die Verwaltungsanweisungen über das "aktenlose Verfahren" beim Lohnsteuer-Jahresausgleich lediglich eine innerbehördliche Wirkung; sie richten sich allein an die Verwaltungsangehörigen und begrenzen - im Interesse einer praktikablen Handhabung des Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahrens - deren Ermittlungspflichten. Diesen Verwaltungsvorschriften kommt indessen nicht eine darüber hinausgehende Bedeutung in dem Sinne zu, daß sie den von § 173 Abs. 1 AO 1977 vorgegebenen Begriff der "neuen Tatsache" zu Lasten des in besonderer Weise der Rechtssicherheit dienenden Instituts der Bestandskraft erweitern können. Die gegenteilige Annahme würde es der Verwaltung ermöglichen, durch einseitige Beschränkung ihrer steuerlichen Ermittlungspflichten das Bekanntwerden bestimmter Tatsachen zu vermeiden und damit den gesetzlich geregelten Umfang der Bestandskraft nach eigenem Belieben zu verändern. Eine solche Verschiebung der Gewichte innerhalb des von den Vorschriften über die Bestandskraft (vgl. §§ 172 ff. AO 1977) regulierten Spannungsverhältnisses zwischen materieller Rechtsrichtigkeit und Rechtssicherheit muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.

Verzichtet daher die Verwaltung aufgrund innerdienstlicher Regelungen durch Ablage von Vorgängen der beiden vorangegangenen Jahre auf die Nutzung ihr leicht zugänglicher Erkenntnisquellen, so fällt dies in ihren eigenen Risikobereich. Ein solcher Verzicht kann grundsätzlich nicht zur Folge haben, daß diese Erkenntnisquellen auch im Außenverhältnis zum Steuerpflichtigen als nicht vorhanden anzusehen wären.

Im Streitfall waren der Lohnsteuer-Stelle die Unterlagen der beiden Vorjahre - wie schon das FG zutreffend bemerkt hat - nicht zuletzt deswegen ohne größeren Zeitverlust zugänglich, weil der Kläger in seinen Anträgen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich die jeweilige Lohnsteuernummer (Paginiernummer) des Vorjahresausgleichs angegeben hatte.

Da sich die Tatsache des Inlandsaufenthalts der Ehefrau aus den Antragsunterlagen des Klägers für die beiden dem Streitjahr unmittelbar vorausgehenden Jahre ergab, setzt sich der Senat mit seiner Auffassung nicht in Widerspruch zu dem vom FA zur Stützung seiner gegenteiligen Ansicht herangezogenen Urteil in HFR 1964, 89, in dem die Verpflichtung der Finanzbehörde zur Heranziehung sog. Kellerakten für den Fall bejaht wurde, daß die zu bearbeitende Steuererklärung oder der Inhalt der präsenten Steuerakten dazu Anlaß boten. Anders als hier handelte es sich dort um ältere Vorgänge aus weit zurückliegenden Jahren.

Der Senat verkennt nicht, daß die aktenlose Bearbeitung beim Lohnsteuer-Jahresausgleich als einem Massenverfahren in besonderem Maße dem reibungslosen Ablauf der Verwaltungsgeschäfte und damit zugleich auch den Interessen der Erstattungsberechtigten an einer zügigen Bescheidung ihrer Ausgleichsanträge dient. Gleichwohl bietet dieser Gesichtspunkt für sich allein im Hinblick auf die oben dargelegten rechtlichen Erwägungen keine Handhabe, den Begriff der neuen Tatsache im Bereich des Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahrens anders zu beurteilen als etwa im Veranlagungsverfahren.

Da mithin der Lohnsteuer-Stelle die streitige Tatsache im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. dazu oben unter 2. a) tatsächlich bekannt war, kommt es nicht darauf an, ob die Angaben des Klägers in seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1981 einen konkreten Anlaß zur Heranziehung der bereits im Keller abgelegten Vorjahresunterlagen boten und das Unterlassen dieser Beiziehung zu einer Verletzung der Ermittlungspflicht des FA (§ 88 AO 1977) führte mit der möglichen Folge, daß die nämliche Tatsache als bekannt zu gelten hatte.