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  BFH-Urteil vom 9.11.1990 (III R 103/88) BStBl. 1991 II S. 168

Die Frist nach § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG zur Stellung eines Antrags auf schriftliche Festsetzung der Berlinzulage kann jedenfalls dann nicht mehr rückwirkend verlängert werden, wenn der Fristverlängerungsantrag erst nach Ablauf der zu verlängernden Frist gestellt worden ist.

BerlinFG § 29 Abs. 2; AO 1977 § 109 Abs. 1, § 110.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in den Streitjahren (1979 bis 1981) als Kraftfahrer bei einem Speditionsunternehmen in A beschäftigt. Überwiegend wurde er im Verkehr von und nach Berlin (West) eingesetzt.

Mit Schreiben vom 28. März 1983 und vom 16. Dezember 1983 beantragte der Kläger beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) die Festsetzung einer Berlinzulage für die Streitjahre. Das FA lehnte die Anträge auf Festsetzung einer Berlinzulage - auch im Einspruchsverfahren - ab, da die Festsetzungsanträge verspätet gestellt worden seien und für eine Verlängerung der Antragsfrist keine Rechtsgrundlage erkennbar sei.

Die Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) begründete die Klageabweisung im wesentlichen damit, daß die Anträge auf Festsetzung von Berlinzulagen nicht rechtzeitig gestellt worden seien. Zwar könne die Antragsfrist verlängert werden. Hierüber befinde aber das FA nach pflichtgemäßem Ermessen, das von den Gerichten nur begrenzt überprüft werden könne. Bei der Überprüfung der Ermessensausübung durch das FA sei zu beachten, daß die Frist zur Stellung des Festsetzungsantrags gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. § 29 Abs. 1 Satz 1 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG) auch noch rückwirkend, also noch nach Fristablauf verlängert werden könne. Es sei aber nicht erkennbar, daß das FA bei seiner ablehnenden Entscheidung über die Fristverlängerung das Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Eine Versagung der Berlinzulage sei auch nicht unbillig, da sich der Kläger nicht über die Möglichkeit der Antragstellung, sondern über das Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzung geirrt habe.

Mit der vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das FA habe bezüglich einer Fristverlängerung gemäß § 29 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG i.V.m. § 109 AO 1977 überhaupt keine Ermessenserwägungen angestellt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 25. April 1983 und vom 15. Februar 1984 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 2. Oktober 1984 das FA zu verpflichten, Berlinzulagen für 1979 bis 1981 festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Die Vorentscheidung hat im Ergebnis zutreffend die Klage auf Festsetzung von Berlinzulagen abgewiesen.

I. 1. Der beim FA gestellte Antrag auf schriftliche Festsetzung der Zulagen für die Streitjahre ist, wie unter den Beteiligten unstreitig ist, verspätet gestellt worden.

2. Die Versäumung der Antragsfrist des § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG konnte im Streitfall nicht gemäß § 29 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG durch eine Fristverlängerung geheilt werden. Zwar bestimmt die spezialgesetzliche Regelung des § 29 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG, daß die Antragsfrist auf Antrag verlängert werden kann. Diese Vorschrift enthält aber keine Regelung über eine rückwirkende Fristverlängerung, wie sie im Streitfall erforderlich wäre.

a) Der Vorschrift kann kein allgemein gültiger Rechtssatz zugrunde gelegt werden, wonach verlängerbare abgelaufene Fristen grundsätzlich rückwirkend verlängert werden können. Einen solchen Rechtssatz gibt es nicht. Dagegen spricht schon, daß der Gesetzgeber die Regelung des § 109 Abs. 1 Satz 2 AO 1977, in der ausdrücklich eine rückwirkende Fristverlängerung vorgesehen ist, für erforderlich gehalten hat. Auch bei anderen verlängerbaren gesetzlichen Fristen hat der Gesetzgeber eine besondere Regelung getroffen, wenn er die rückwirkende Verlängerung zulassen wollte (vgl. § 24 Abs. 4 Satz 6 des Umsatzsteuergesetzes - UStG -).

Vor allem verbietet sich eine allgemeine rückwirkende Verlängerungsmöglichkeit gesetzlicher Fristen aber von ihrem Zweck her. Die Vorschriften über Fristen sind formale Ordnungsregelungen, die einerseits der Rechtssicherheit dienen (so Urteil des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 11. August 1954 2 BvK 2/54, BVerfGE 4, 31, 37) und andererseits ein geordnetes Verfahren garantieren (Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 108 AO 1977 Rdnr. 2; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 108 AO 1977 Rdnr. 1). Eine allgemeine rückwirkende Verlängerungsmöglichkeit verlängerbarer gesetzlicher Fristen würde diese Ordnungsfunktion unterlaufen. So würde die Frist des § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG praktisch weitgehend bedeutungslos, wenn sie so großzügig verlängert werden könnte, wie es der Kläger begehrt.

b) Allerdings läßt die Rechtsprechung z.B. bei der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) bzw. der Rechtsmittelbegründungsfrist in anderen gerichtlichen Verfahrensordnungen (s. z.B. § 519 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO - und § 139 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -), wo es ebenfalls um verlängerbare gesetzliche Fristen geht, eine rückwirkende Fristverlängerung auf Grund eines rechtzeitig gestellten Fristverlängerungsantrags zu (s. z.B. Beschluß des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 24. August 1979 GS 1/78, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1980, 309, und Beschluß des Großen Senats des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 18. März 1982 GSZ 1/81, NJW 1982, 1651).

Ob diese Auffassung auf die Fristverlängerungsregelung des § 29 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG übertragen werden kann, kann im Streitfall dahinstehen. Der Kläger hat nämlich unstreitig keinen Fristverlängerungsantrag innerhalb der Antragsfrist des § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG gestellt.

c) Das Schrifttum, auf das sich der Kläger beruft, befürwortet ebenfalls nicht eine rückwirkende Fristverlängerung, wenn der Verlängerungsantrag erst nach Fristablauf gestellt wird. Sowohl die Meinung von Hartz/Meeßen/Wolf (ABC-Führer Lohnsteuer, Bd. I "Berlinförderung" B.V.3.). als auch die Ausführungen von Dasske (Betriebs-Berater - BB - 1980, 100) besagen nur, daß eine (rechtzeitig) beantragte Fristverlängerung für den Antrag auf Festsetzung der Zulage höchstens bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist für die Zulage gewährt werden könne (s. hierzu auch den BFH-Beschluß vom 11. März 1988 VI B 137/85, BFH/NV 1988, 621, 622, 3. Sp., und vgl. das Urteil des FG Berlin vom 10. März 1975 III 29/74, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1975, 404 unter 2.c., das regelmäßig eine Verlängerung der Antragsfrist über die Frist zur Stellung des Antrags auf Lohnsteuer-Jahresausgleich hinaus nicht für möglich hält).

3. Entgegen der Ansicht des FG kann im Streitfall auch nicht über § 109 Abs. 1 AO 1977 eine die Versäumung der Antragsfrist des § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG heilende Fristverlängerung herbeigeführt werden. Nach dieser Vorschrift ist bei Fristen zur Einreichung von Steuererklärungen und Fristen, die von einer Finanzbehörde gesetzt sind, eine rückwirkende Fristverlängerung möglich. Zweifelhaft ist schon, ob § 109 Abs. 1 AO 1977 neben der spezialgesetzlichen Regelung des § 29 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG überhaupt Anwendung finden kann. Jedenfalls sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 109 Abs. 1 AO 1977 im Streitfall nicht erfüllt.

a) Die Frist zur Stellung eines Antrags, die Zulage durch schriftlichen Bescheid festzusetzen, ist keine von einer Finanzbehörde gesetzte Frist. Sie ist eine gesetzliche Frist (so auch Sönksen/Söffing, Berlinförderungsgesetz, Kommentar, § 29 Rdnr. 15). Sie ergibt sich unmittelbar aus § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG.

b) Auch handelt es sich bei der Antragsfrist des § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG nicht um eine Frist zur Einreichung einer Steuererklärung. Der Antrag auf schriftliche Festsetzung ist keine negative Steuererklärung (vgl. Urteil des Senats vom 16. Juni 1989 III R 119/85, BFHE 158, 270, BStBl II 1989, 1022).

4. Schließlich kann auch die Erwägung, daß die in § 29 Abs. 2 Satz 3 BerlinFG festgelegte zweimonatige Antragsfrist äußerst knapp bemessen ist, einem erst nach Fristablauf gestellten Fristverlängerungsantrag nicht zum Erfolg verhelfen. Es wäre Sache des Gesetzgebers, entweder eine längere Frist oder eine § 109 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 entsprechende rückwirkende Verlängerungsmöglichkeit vorzusehen.

II. Ein erst nach Fristablauf gestellter Verlängerungsantrag kann daher keinen Erfolg haben. Der Antrag auf Arbeitnehmerzulage kann dann nur noch über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durchgesetzt werden. Das FA hat im Streitfall die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedoch zu Recht abgelehnt. Weder hat der Kläger Gründe, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen könnten, vorgetragen, noch sind dem Senat solche erkennbar.

Der Umstand, daß dem Kläger - wie er selbst ausgeführt hat - erst aus der Entscheidung des BFH vom 30. April 1981 VI R 228/77 (BFHE 133, 208, BStBl II 1981, 555) bekannt geworden ist, daß auch Kraftfahrern unter bestimmten Voraussetzungen Berlinzulagen zustehen, rechtfertigt keine Wiedereinsetzung. Hierin ist ein grundsätzlich unerheblicher Rechtsirrtum, der materielles Recht betrifft, zu sehen. Es ist nicht Aufgabe der Wiedereinsetzungsvorschriften, derartige Fehlbeurteilungen auszugleichen (BFH-Beschluß vom 9. Mai 1967 II B 3/67, BFHE 88, 541, BStBl III 1967, 472; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 56 Rdnr. 25).

III. Da der Antrag auf Festsetzung der Arbeitnehmerzulage nur noch über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Erfolg haben konnte, war die Einspruchsentscheidung des FA auch die richtige Vorentscheidung, so daß das Urteil des FG nicht aus formellen Gründen aufzuheben war. Die Entscheidung über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist als unselbständiger Teil der Entscheidung zur Hauptsache zu betrachten (s. BFH-Urteil vom 2. Oktober 1986 IV R 39/83, BFHE 147, 407, BStBl II 1987, 7, m.w.N. zur Rechtsprechung und zum Schrifttum).

Zwar hat der Kläger u.a. eine Fristverlängerung beantragt. Jedoch sind nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung (s. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 40 Rdnr. 7) Antragsschreiben unabhängig von der Bezeichnung dahingehend zu verstehen, daß der Antrag gestellt sein soll, der verfahrensrechtlich zum Erfolg führen kann.

IV. Da der Antrag auf Arbeitnehmerzulage verspätet gestellt worden ist, kann offenbleiben, ob der Kläger die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Zulagengewährung (insbesondere § 23 Nr. 4 a BerlinFG) erfüllt hat. Der Senat verweist insofern jedoch auf sein Urteil vom 22. August 1990 III R 119/89 (BFHE 162, 172, BStBl II 1991, 6).