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  BFH-Urteil vom 21.12.1990 (VI R 10/86) BStBl. 1991 II S. 437

Ein Steuerpflichtiger kann auf die bei der Post ausgehängte "Übersicht wichtiger Brieflaufzeiten" auch dann vertrauen, wenn diese Brieflaufzeiten bei früheren Briefsendungen in Einzelfällen überschritten worden sind.

AO 1977 § 110.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ für die Streitjahre 1977 und 1978 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Steuerbescheide, die dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) lt. Postzustellungsurkunde (PZU) am 9. Dezember 1982 zugestellt worden sind. Mit Schreiben vom 8. Januar 1983 legte der Prozeßbevollmächtigte für die Klägerin gegen die Änderungsbescheide Einspruch ein. Dieses am 9. Januar 1983, einem Sonntag, zur Post gegebene Einspruchsschreiben ging am 11. Januar 1983 beim FA ein. Nachdem das FA den Prozeßbevollmächtigten mit Schreiben vom 26. Januar 1983 auf die Fristversäumnis hingewiesen hatte, beantragte dieser Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung trug der Prozeßbevollmächtigte vor, bei üblicher Postlaufzeit hätte das am 9. Januar 1983 um 11.15 Uhr zur Post gegebene Einspruchsschreiben am 10. Januar 1983 und damit fristgerecht beim FA eingegangen sein müssen.

Das FA lehnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und verwarf die Einsprüche als unzulässig.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen aus: Das Einspruchsschreiben sei einen Tag nach Ablauf der Einspruchsfrist und damit verspätet eingegangen. An dem verspäteten Eingang treffe den Prozeßbevollmächtigten ein der Klägerin zuzurechnendes Verschulden, weil jener das Einspruchsschreiben erst am 9. Januar 1983 zur Post gegeben habe und dadurch der rechtzeitige Eingang am 10. Januar 1983 nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Zwar werde den Sorgfaltspflichten regelmäßig dadurch genügt, daß eine Rechtsbehelfsschrift ordnungsgemäß adressiert und frankiert und so rechtzeitig zur Post aufgegeben werde, daß ihr Eingang vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist bei einer üblichen Postlaufzeit sichergestellt sei. Verzögerungen der Briefbeförderung oder Briefzustellung durch die Bundespost, die der Absender nicht zu vertreten habe, dürften nicht als Verschulden angerechnet werden. Dieser Grundsatz erfahre aber Einschränkungen, wenn der Steuerpflichtige oder sein Bevollmächtigter eine Rechtsbehelfsfrist ohne erkennbaren Grund bis einen Tag vor ihrem Ablauf nutze und dann für die Rechtsbehelfsschrift eine Beförderungsart wähle, bei der aufgrund vorangegangener Erfahrungen ein verspäteter Eingang des Rechtsbehelfs voraussehbar sei. Im Streitfall sei nichts ersichtlich, was der Klägerin oder ihrem Prozeßbevollmächtigten hätte Veranlassung geben können, mit der Einlegung des Einspruchs bis einen Tag vor Ablauf der Einspruchsfrist zu warten. Durch die Postaufgabe am 9. Januar 1983 sei indes ein rechtzeitiger Eingang des Einspruchsschreibens nicht gewährleistet gewesen. Zwar habe das Postamt K dem Prozeßbevollmächtigten in den zurückliegenden Jahren mehrfach bestätigt, daß nach dem dortigen Verzeichnis der Brieflaufzeiten eine am Sonntag um 12.00 Uhr dem Hausbriefkasten des Postamts entnommene Briefsendung nach den bestehenden Beförderungsmöglichkeiten und unter Beachtung einer reibungslosen Betriebsabwicklung den Empfänger in B am Montag erreiche. Andererseits habe aber der Prozeßbevollmächtigte schon in einer Reihe von Fällen Kenntnis davon erlangt, daß die an einem Samstag oder Sonntag in K eingeworfenen Briefsendungen den Empfänger in B erst am darauffolgenden Dienstag erreicht hätten. Dies treffe z.B. auf die am 28. August 1982 (Samstag) in K zur Post gegebene Klageschrift wegen Einkommensteuer 1980 der Klägerin zu. Dies gelte auch für die Klageschrift betreffend Einkommensteuer 1977 und Lohnsteuer 1978 der Klägerin, die am 8. Juni 1981 (Pfingstmontag) gegen 11.00 Uhr beim Postamt in K zur Post gegeben worden und erst am 10. Juni (Mittwoch) beim FA eingegangen sei. Es könne unerörtert bleiben, von welchen weiteren Verzögerungen im Postverkehr zwischen K und B der Prozeßbevollmächtigte im Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs Kenntnis gehabt habe. Schon angesichts dieser beiden vorausgegangenen Vorgänge habe er jedenfalls nicht mehr darauf vertrauen können, daß das von ihm am 9. Januar 1983 zur Post gegebene Einspruchsschreiben bereits am 10. Januar 1983 und somit fristgerecht beim FA eingehen würde. Der Umstand, daß er auf dem Einspruchsschreiben das Datum und Uhrzeit der Postaufgabe vermerkt habe, lasse im übrigen auch darauf schließen, daß er wegen der vorangegangenen Verzögerungen im Postlauf ebenfalls mit einem verspäteten Eingang gerechnet habe.

Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin, ihr unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sei es nicht zulässig, dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung zuzurechnen, die er nicht zu vertreten habe. Nach den früheren Auskünften der Deutschen Bundespost hätte das Einspruchsschreiben fristgerecht am 10. Januar 1983 beim FA eingehen müssen. Aufgrund der Tatsache, daß in den Jahren 1981 und 1982 zwei Briefe des Prozeßbevollmächtigten entgegen der üblichen Postlaufzeit von einem Tag tatsächlich zwei Tage benötigt hätten, habe das FG die hier zu beurteilende Verzögerung als für den Prozeßbevollmächtigten vorhersehbar beurteilt. Diese Unterstellung sei unzulässig. Das FG hätte aufklären müssen, ob sich durch die Aufgabe des Briefes an einem Sonntag Verzögerungen gegenüber der üblichen Postlaufzeit hätten ergeben können. Das FG hätte von der Bundespost die Auskunft erhalten, daß es diese pauschal unterstellten Verzögerungen nicht gebe. Es sei auch unzulässig, dem Prozeßbevollmächtigten ohne weitere Beweisaufnahme zu unterstellen, er habe mit einer Verzögerung gerechnet, weil er im Einspruchsschreiben neben dem Datum auch den Zeitpunkt der Postaufgabe angegeben habe. Derartige Vermerke mache sich der Prozeßbevollmächtigte grundsätzlich in allen Schreiben an FG oder an den Bundesfinanzhof (BFH). Die Vorentscheidung weiche von den Urteilen des BFH vom 12. März 1980 I R 148/76 (BFHE 130, 361, BStBl II 1980, 514) und vom 5. Februar 1982 VI R 124/81 (nicht veröffentlicht) ab. Nach dieser Rechtsprechung sei eine Rechtsmittelfrist dann nicht schuldhaft versäumt, wenn im Vertrauen auf eine von der Post herausgegebene "Übersicht wichtiger Brieflaufzeiten" bzw. wegen einer konkreten Auskunft der Deutschen Bundespost eine Postsendung so aufgegeben werde, daß sie entsprechend den amtlichen Postlaufzeiten rechtzeitig ankommen müsse. Auch wer sich am letzten Tag einer Frist auf die normale Beförderungsdauer verlasse, verletze keine Sorgfaltspflichten (Beschluß des BVerfG vom 5. Februar 1980 2 BvR 914/79, BVerfGE 53, 148, BStBl II 1980, 544).

Das FA beantragt die Revision zurückzuweisen. Er ist der Auffassung, die Klägerin könne sich nicht auf die dem Prozeßbevollmächtigten von der Deutschen Bundespost mitgeteilten Postlaufzeiten berufen, da dem Prozeßbevollmächtigten aus der Vergangenheit bekannt gewesen sei, daß diese Postlaufzeiten nicht sicher eingehalten würden.

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Die bisherigen Erwägungen des FG rechtfertigen nicht die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977. Unerheblich ist, ob und ggf. welche Gründe die Klägerin dafür hatte, mit der Einlegung des Einspruchs bis einen Tag vor Ablauf der Einspruchsfrist zu warten. Rechtsmittelfristen können bis zum letzten Tage ausgeschöpft werden, ohne daß der Rechtsmittelführer die Ausnutzung der Frist zu rechtfertigen hätte (Beschlüsse des BVerfG vom 3. Juni 1975 2 BvR 99/74, BVerfGE 40, 42; und vom 1. Dezember 1982 1 BvR 607/82, BVerfGE 62, 334; s. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 110 AO 1977 Tz. 21 m.w.N.).

Unerheblich ist ferner, daß durch das Ausnutzen der Rechtsbehelfsfristen bis zum letzten Tag in Verbindung mit der Ankündigung, weitere Anträge und Begründungen nachzureichen, der Zeitraum, innerhalb dessen der Rechtsbehelfsführer eine endgültige Entscheidung über die Durchführung des Rechtsbehelfs treffen muß, erheblich über die gesetzlichen Rechtsbehelfsfristen hinaus verlängert werden kann. Einem solchen, das Verfahren verschleppenden Verhalten kann durch Fristsetzung und eine zügige Bearbeitung der Streitsache begegnet werden. Gründe für oder gegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand können daraus aber nicht abgeleitet werden.

Es entspricht der feststehenden Rechtsprechung des BVerfG, daß ein Bürger, der eine Rechtsbehelfsfrist bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzt, Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost nicht zu vertreten hat. Der Rechtsbehelfsführer hat alles seinerseits Erforderliche getan, wenn er das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post gegeben hat, daß es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht. Auf die ausgehängten "Übersichten wichtiger Postlaufzeiten" muß er sich verlassen können, ohne daß es einer weiteren Prüfung bedarf, ob ein fristgerechter Zugang auch sichergestellt ist (BVerfG in BVerfGE 62, 334, 337).

Bei Anlegung dieser Grundsätze im Streitfall kann der Klägerin der verspätete Zugang des Einspruchsschreibens beim FA dann nicht angerechnet werden, wenn nach der zum Absendezeitpunkt gültigen "Übersicht wichtiger Brieflaufzeiten" mit einem rechtzeitigen Zugang zu rechnen war. Allein der Umstand, daß in den Jahren 1981 und 1982 nach Feststellungen des FG zwei Briefsendungen der Klägerin nicht innerhalb der amtlichen Regellaufzeit das FA erreicht haben, kann nicht zu Ungunsten der Klägerin herangezogen werden. Zwar hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 25. Oktober 1978 1 BvR 761, 806/78 (Neue Juristische Wochenschrift 1979, 641) Fälle für denkbar gehalten, in denen es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre, wenn ein Gericht bei verspäteter Postzustellung ein Verschulden des Bürgers deswegen annimmt, weil er die Verzögerung habe voraussehen können. Hierbei kann es sich aber nur um seltene Ausnahmen handeln (Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 AO 1977 Tz. 17). Es muß sich weiter um solche Umstände handeln, die gerade die Verzögerung der konkret zu beurteilenden Postsendung voraussehbar machen. Allein die Nichteinhaltung der Regellaufzeit bei früheren Postsendungen macht die Überschreitung der amtlichen Regellaufzeit bei späteren Postsendungen nicht vorausschaubar. Ein Bürger kann daher auf die "Übersicht wichtiger Brieflaufzeiten" auch dann vertrauen, wenn diese Brieflaufzeiten bei früheren Briefsendungen in Einzelfällen überschritten worden sind. Diese Auffassung ist im Interesse der Rechtssicherheit geboten und entspricht der Tendenz der Rechtsprechung des BVerfG.

Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen; die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Das FG wird eine Auskunft der Bundespost darüber einzuholen haben, ob nach der am 9. Januar 1983 gültigen "Übersicht wichtiger Brieflaufzeiten" mit einem rechtzeitigen Eingang des Einspruchsschreibens beim FA zu rechnen war. Auf die Auskunft des Postamtes aus dem Jahr 1981 kann nicht zurückgegriffen werden, da hieraus für die Brieflaufzeiten Anfang Januar 1983 nichts hergeleitet werden kann.