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  BFH-Urteil vom 19.9.1990 (X R 79/88) BStBl. 1991 II S. 100

Eine Entscheidung, die maßgeblich auf einen bis zuletzt nicht angesprochenen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt wird, verletzt das Recht auf Gehör.

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2.

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt seit dem 1. August 1983 in A. den Einzelhandel mit Küchen- und Hausgeräten. Er besorgt die Beratung, Planung, Montage und den Kundendienst für die Firma X.

Er wohnt mit seiner Ehefrau, mit der er zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wird, und einem Kind (für das im Streitjahr ein Kinderfreibetrag berücksichtigt wurde) in A.-B.

Die Ehefrau arbeitet als Aushilfe im Betrieb des Klägers mit.

Zum Betriebsvermögen des Klägers, der seinen Gewinn nach § 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ermittelt, gehörten im Streitjahr ein Mercedes-Kastenwagen (LKW), ein Opel "Kadett-Caravan" und ein PKW Mercedes-Transportmodell. In seiner Gewinnermittlung 1983 wies der Kläger Fahrzeugkosten in Höhe von 8.406,55 DM und einen privaten Nutzungsanteil hieran von 300 DM aus.

Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für 1983 schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG nicht abzugsfähigen Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Betrieb auf 460 DM, nachdem der Kläger hierzu trotz Aufforderung keine Angaben gemacht hatte. Er erhöhte den Privatanteil an den Kfz-Kosten auf 800 DM und setzte die Einkommensteuerschuld auf 8.186 DM fest.

Gegen den Einkommensteuerbescheid 1983 legte der Kläger Einspruch ein. Er begehrte den ungekürzten Abzug der Fahrtkosten mit der Begründung, er führe anläßlich der Fahrten zwischen Wohnung und Betrieb Kundenbesuche durch. Das Transportfahrzeug werde über Nacht aus Sicherheitsgründen in der Garage der Privatwohnung untergestellt und am nächsten Morgen dem Betrieb zur täglichen Nutzung wieder zugeführt. Außerdem gab der Kläger hierzu folgendes an: Er sei an 120 Tagen zwischen Wohnung und Betrieb mit dem Transportfahrzeug gefahren; die Entfernung zwischen Wohnung und Betrieb betrage 7 km; die Gesamtfahrleistung des für die Fahrten benutzten Kraftfahrzeugs habe 6.000 km ausgemacht; die Gesamtkosten des Fahrzeugs einschließlich der Absetzung für Abnutzung (AfA) hätten 3.850 DM betragen.

Das FA wies den Einspruch zurück und erhöhte (nach entsprechendem Hinweis) die Einkommensteuerschuld 1983 auf 8.246 DM.

Im anschließenden Klageverfahren verfolgte der Kläger sein Begehren auf uneingeschränkten Betriebsausgabenabzug weiter. Fahrten zwischen Wohnung und Betrieb ohne Kundenbesuche habe es im Streitjahr nicht gegeben.

Im Anschluß an eine mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) erließ der Berichterstatter unter Berufung auf § 79 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) eine mit Fristsetzung verbundene Aufklärungsverfügung, die der Kläger mit Schriftsatz vom 11. Oktober 1987 beantwortete.

Hiernach hat der Kläger für Fahrten zwischen Wohnung und Betriebsstätte vom 1. August bis 13. August (12 Tage) den Opel "Kadett" und vom 15. August bis 31. Dezember 1983 (118 Tage) den Mercedes-Transporter benutzt.

Für den Opel konnte der Kläger die zwischen dem 1. und 13. August 1983 gefahrenen Kilometer nicht angeben. Für den Mercedes-Transporter berechnet er die Fahrleistung zwischen 13. August und 31. Dezember 1983 auf 9.900 km. Die Frage, welches Fahrzeug im Streitjahr 1983 außer von ihm selbst noch von anderen Personen gefahren worden sei, beantwortete der Kläger folgendermaßen: "Der Opel Kadett wurde nach dem Kauf (13. August) des Mercedes-T. von der Ehefrau praktisch allein gefahren, die als Aushilfe im Betrieb des Kl. buchmäßig in Erscheinung tritt. Andere Personen haben die Betriebsfahrzeuge des Kl. nicht gefahren. Sonstige Fahrer waren im Betrieb des Kl. nicht vorhanden."

Das FG wies die Klage ab. Es stellte sich auf den Standpunkt, das FA habe für die Fahrten des Klägers zwischen Wohnung und Betriebsstätte zutreffend nur die in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG vorgesehenen Pauschalen berücksichtigt. Für die Fahrten mit dem Opel "Kadett-Caravan" seien Besonderheiten in der Nutzung vom Kläger nicht behauptet worden. Hinsichtlich des ausschließlich für diese Fahrten benutzten Mercedes-Transporters könne die Beschränkung möglicherweise entfallen, wenn dieses Fahrzeug "wie ein Werkstattwagen ausgestattet" gewesen sei. Ob dies der Fall gewesen sei oder ob es möglicherweise ausreiche, wenn der Kläger im PKW umfangreiches und schweres Werkzeug mitgeführt habe, brauche jedoch ebensowenig entschieden zu werden wie die Frage, ob andere Gründe (z.B. der Sicherheit) ein Abgehen von der Pauschalregelung rechtfertigten. Auch sonstigen Zweifelsfragen tatsächlicher und rechtlicher Art brauche hier nicht weiter nachgegangen zu werden, weil im angefochtenen Bescheid bisher nicht berücksichtigt worden sei, daß, den Angaben des Klägers im Schreiben vom 11. Oktober 1987 zufolge, nach der Anschaffung des Mercedes-Transporters der Opel-Kadett praktisch allein von der Ehefrau gefahren worden sei und hierin eine Privatentnahme liege, die man höher bewerten müsse als die seitens des FA vorgenommenen Hinzurechnungen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG.

Mit der Revision rügt der Kläger sinngemäß vor allem Verletzung formellen Rechts. Zu Unrecht habe das FG die durch den Streitfall aufgeworfenen entscheidungserheblichen Rechtsfragen unentschieden gelassen: Die Voraussetzungen für die Saldierung mit bisher nicht berücksichtigten Privatentnahmen seien nicht gegeben. Der Opel "Kadett-Caravan" sei für private Zwecke überhaupt nicht benutzt worden. Auch die Ehefrau sei nur betrieblich gefahren. Dem angefochtenen Urteil liege eine Sachverhaltsunterstellung zugrunde, zu der er, der Kläger, sich nicht habe äußern können.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das angefochtene Urteil verletzt das Recht des Klägers auf Gehör (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es ist auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt, der zuvor weder im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch im Klageverfahren angesprochen worden ist und zu dem sich der Kläger nicht hat äußern können. Die Frage der Privatentnahme ist nach dem unwidersprochenen, durch die Aktenlage belegten Vorbringen des Klägers erstmals in der Urteilsbegründung erwähnt und dort zur tragenden Erwägung gemacht worden. Mit ihrer Hilfe hat das FG im Wege der Saldierung alle bis dahin erörterten Rechtsfragen im Urteil unbeantwortet gelassen. In dieser für die Beteiligten unvorhersehbaren Urteilsbegründung liegt eine das Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -; § 96 Abs. 2 FGO) verletzende Überraschungsentscheidung (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 96 Rdnr. 27 ff. und § 119 Rdnr. 10, m.w.N.).

2. Die für die Beteiligten plötzliche Wende der rechtlichen Beurteilung des Streitfalls in der Urteilsbegründung hat außerdem zur Folge, daß der Sachverhalt, den die Vorinstanz letztlich als entscheidungserheblich angesehen hat, unzureichend aufgeklärt ist (§ 76 FGO): Die Tatsache, daß der Opel-Kadett nach dem 13. August 1983 "praktisch allein" von der Ehefrau des Klägers gefahren worden ist, erlaubt nach den sonst getroffenen Tatsachenfeststellungen für sich allein noch keine Zuordnung des Vorgangs in die Privatsphäre. Infolgedessen beruht die vom FG vorgenommene Saldierung sowohl dem Grunde wie der Höhe nach auf Unterstellungen.

3. Bei der nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholenden weiteren Sachaufklärung und im Rahmen seiner neuerlichen rechtlichen Würdigung wird das FG die neuere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG zu berücksichtigen haben: vor allem zum Betriebsstättenbegriff im Rahmen dieser Sonderregelung (BFH-Urteile vom 13. Juli 1989 IV R 55/88, BFHE 157, 562, BStBl II 1990, 23, und vom 19. September 1990 X R 44/89, BFHE 162, 77, BStBl II 1991, 97) sowie zur Behandlung von Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Betriebsstätten (BFH-Urteil vom 5. November 1987 IV R 180/85, BFHE 151, 413, BStBl II 1988, 334). ....