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  BFH-Urteil vom 12.12.1990 (II R 97/87) BStBl. 1991 II S. 196

Die Ermäßigung des Grundstückswerts nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG wegen einer nahegelegenen Mülldeponie als Quelle schädlicher Emissionen setzt voraus, daß diese Emissionen in einer Menschen, Tiere, Pflanzen oder Sachen schädigenden Weise in das Grundstück eindringen oder eingedrungen sind und - als Immissionen - die bestimmungsgemäße ortsübliche Nutzung des Grundstücks in erheblichem Maße beeinträchtigen.

BewG § 82 Abs. 1 Nr. 1.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Eigentümer eines Dreifamilienhauses, das der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) auf den 1. Januar 1980 als Mietwohngrundstück bewertet hat; der Einheitswert wurde mit bestandskräftigem Bescheid auf 135.100 DM festgestellt.

Im Jahre 1984 beantragte der Kläger erstmals, den Einheitswert für sein Grundstück herabzusetzen, da sich dessen Wert wegen der nur etwa 250 m entfernt liegenden ehemaligen Mülldeponie vermindert habe. Das FA lehnte jedoch eine Wertfortschreibung ab.

Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch im Dezember 1984 Klage. Während des Klageverfahrens beantragte der Kläger im November 1986 beim FA zusätzlich Wertfortschreibung auf den 1. Januar 1985, hilfsweise auf den 1. Januar 1986. Auch diesen Antrag lehnte das FA ab; der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Nachdem der Kläger auch hiergegen Klage erhoben hatte, hat das Finanzgericht (FG) beide Verfahren gemäß § 73 der Finanzgerichtsordnung (FGO) miteinander verbunden.

Die Klage, mit der der Kläger beantragt hatte, den Einheitswert für sein Grundstück auf den 1. Januar 1984, hilfsweise auf den 1. Januar 1985 bzw. 1. Januar 1986 auf 94.500 DM fortzuschreiben, hatte teilweise Erfolg.

Das FG hat entschieden, daß der Einheitswert des Grundstücks des Klägers infolge wertmindernder Umstände gemäß § 82 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes (BewG) auf den 1. Januar 1984 um 10 v.H., mithin auf 121.500 DM, herabzusetzen sei. Nach Auffassung des FG stellt allein das Austreten giftiger Schadstoffe aus einer in unmittelbarer Nähe des Grundstücks des Klägers gelegenen Mülldeponie eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG dar. Ob und in welchem Umfang Gift- bzw. Schadstoffe tatsächlich auf das Grundstück des Klägers gelangt seien, sei daher nicht von entscheidender Bedeutung.

Das FG hat die Höhe der Wertminderung unter Berücksichtigung des vom Kläger vorgelegten Gutachtens des Gutachterausschusses der Freien und Hansestadt Hamburg vom 15. März 1985 auf 10 v.H. geschätzt.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung von § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 und § 82 Abs. 1 Satz 1 BewG. Es macht geltend, daß die Voraussetzungen für eine Wertfortschreibung nicht vorlägen, und beantragt, das angegriffene Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

1. Das angegriffene Urteil hält einer Überprüfung nicht stand, weil die Vorinstanz ihre Entscheidung darauf gestützt hat, daß allein das Austreten giftiger Schadstoffe aus einer in unmittelbarer Nähe des Grundstücks des Klägers gelegenen Mülldeponie eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung i.S. des § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG darstelle.

Nach § 82 Abs. 1 BewG ist der sich durch Anwendung des Vervielfältigers auf die Jahresrohmiete ergebende Grundstückswert zu ermäßigen, wenn wertmindernde Umstände vorliegen, die weder in der Jahresrohmiete noch in der Höhe des Vervielfältigers berücksichtigt sind. Als derartige Umstände nennt § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG beispielhaft "ungewöhnlich starke Beeinträchtigungen durch Lärm, Rauch oder Gerüche". Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Auch andere vergleichbare starke Beeinträchtigungen können eine Ermäßigung rechtfertigen, sofern sie den Wert zum Hauptfeststellungszeitpunkt 1. Januar 1964 beeinflußt hätten (vgl. Rössler/Troll, Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 15. Aufl., § 82 BewG Anm. 3). Dies kann insbesondere für Luft-, Wasser- und Bodenverunreinigungen zutreffen, die für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bauwerke schädlich sind. Wie sich aus den in § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG genannten Beispielen ergibt, muß es sich um Umstände handeln, die zu einer "ungewöhnlich starken Beeinträchtigung" führen (vgl. Gürsching/Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 8. Aufl., § 82 BewG Anm. 3). Daß das Grundstück in der Nähe einer Quelle schädlicher Emissionen liegt, reicht deshalb entgegen der Auffassung des FG für sich allein nicht aus, um den Grundstückswert nach § 82 Abs. 1 BewG zu ermäßigen, wenn nicht zugleich festgestellt wird, daß diese Emissionen in einer Menschen, Tiere, Pflanzen oder Sachen schädigenden Weise in das Grundstück eindringen oder eingedrungen sind und - als Immissionen - die bestimmungsgemäße ortsübliche Nutzung des Grundstücks in erheblichem Maße beeinträchtigen. Bei einem Wohngrundstück bedeutet dies, daß die Bewohner gezwungen sind, ihre Lebensgewohnheiten bezüglich der Nutzung des Grundstücks in einer Weise einzuschränken, die bei einer üblichen Benutzung des Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit nicht mehr hingenommen würde (z.B. weil der Aufenthalt im Hausgarten oder das Öffnen der Fenster wegen der Immissionen nur unter Gesundheitsgefährdung möglich ist). Dagegen kann eine nur drohende, tatsächlich aber noch nicht eingetretene Beeinträchtigung des Grundstücks nach Sinn und Zweck des § 82 BewG - ebenso wie ein möglicherweise in der Zukunft eintretender werterhöhender Umstand - nicht berücksichtigt werden.

Die in § 82 Abs. 1 BewG genannten Umstände und die ihnen vergleichbaren Einwirkungen können auch nicht durch eine unmittelbare Anwendung des § 9 Abs. 2 BewG in ihrem Inhalt verändert werden. Wie der Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 23. September 1977 III R 42/75 (BFHE 123, 364, BStBl II 1978, 5) dargelegt hat, dient das Ertragswertverfahren der §§ 78 f. BewG - bezogen auf die Wertverhältnisse vom 1. Januar 1964 - der Ermittlung des gemeinen Werts bebauter Grundstücke. Es ist jedoch ein der Massenbewertung angepaßtes typisierendes Verfahren, das eine unmittelbare Heranziehung der Tatbestandsmerkmale des § 9 BewG nicht ermöglicht (vgl. auch BFH-Urteil vom 12. Juni 1974 III R 49/73, BFHE 112, 520, 522, BStBl II 1974, 602). Wertentwicklungen auf dem allgemeinen Grundstücksmarkt, die sich dadurch ergeben können, daß die nahegelegene Quelle schädlicher Emissionen als eine Bedrohung angesehen wird, rechtfertigen deshalb für sich allein eine Ermäßigung des Einheitswerts außerhalb des Systems des Ertragswertverfahrens nicht.

Für die Gewährung einer Ermäßigung des Grundstückswerts nach § 82 Abs. 1 BewG wegen der Immissionen von Lärm, Rauch, Gerüchen oder wegen Immissionen vergleichbarer Art (z.B. von Staub, Ruß oder Flüssigkeiten) ist es vielmehr grundsätzlich erforderlich, im Einzelfall festzustellen - ggf. aufgrund amtlicher Messungen und Untersuchungen oder aufgrund von Sachverständigengutachten -, ob die geltend gemachten Immissionen unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Verhältnisse nach Art, Ausmaß oder Dauer tatsächlich eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung des Grundstücks herbeiführen. Das schließt im Hinblick auf das Wesen der Einheitsbewertung als Massenverfahren allerdings nicht aus, daß jedenfalls dann eine typisierende Berücksichtigung der durch Immissionen bewirkten Beeinträchtigungen zulässig ist, wenn - vergleichbar der Beeinträchtigung durch Fluglärm - eine größere Anzahl von Grundstücken in gleicher oder ähnlicher Weise betroffen ist und das Ausmaß der Belästigung für einzelne regionale Bereiche durch anerkannte Verfahren ermittelt ist. Auf das BFH-Urteil vom 4. August 1983 III R 79, 141/81 (BFHE 139, 210, BStBl II 1983, 708) wird insoweit hingewiesen.

2. Das FG ist von anderen rechtlichen Erwägungen ausgegangen. Denn es hat allein das Austreten giftiger Schadstoffe aus der nahegelegenen Mülldeponie als wertmindernde Beeinträchtigung i.S. des § 82 BewG angesehen und deshalb - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - dahingestellt bleiben lassen, ob und in welchem Umfang Gift- bzw. Schadstoffe tatsächlich auf das Grundstück des Klägers gelangt sind.

Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache wird an das FG zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 FGO). Das FG wird nunmehr - erforderlichenfalls durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - festzustellen haben, ob und in welchem Umfang aus der nahegelegenen Mülldeponie Gift- oder Schadstoffe in das Grundstück des Klägers eingedrungen sind, die zum Feststellungszeitpunkt 1. Januar 1984 eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung des Grundstücks i.S. des § 82 Abs. 1 BewG herbeigeführt haben. Dabei sind - worauf die Vorinstanz zutreffend hingewiesen hat - die wegen der Nähe zur Mülldeponie bereits zum Hauptfeststellungszeitpunkt 1. Januar 1964 bestehenden gegendüblichen Beeinträchtigungen, die sich schon in der Höhe der Jahresrohmiete ausgewirkt haben, nicht zu berücksichtigen.

3. Der Senat vermag dem FG auch insoweit nicht zu folgen, als es unter Berücksichtigung der vom Gutachterausschuß der Freien und Hansestadt Hamburg ermittelten Verkehrswertminderung von rd. 20 v.H. sowie der seit dem Hauptfeststellungszeitpunkt eingetretenen Veränderungen die Ermäßigung des Grundstückswerts nach § 82 Abs. 1 BewG auf 10 v.H. geschätzt hat.

Aus dem vom FG in Bezug genommenen Gutachten des Gutachterausschusses vom 15. März 1985 ergibt sich für Mitte 1983 ein Verkehrswert von etwa 570.000 DM und für Anfang 1985 von rd. 620.000 DM; dieser Wert sei jedoch solange nicht realisierbar, wie die Lage um die Deponie sich nicht beruhigt und entspannt habe. Nach Auffassung des Gutachterausschusses ist daher ein Abschlag von dem fiktiven Verkehrswert (620.000 DM) unumgänglich, für dessen Höhe jedoch keine Anhaltspunkte aus dem Marktgeschehen vorlägen. Der Gutachterausschuß hat deshalb den Wert am 15. März 1985 auf 500.000 DM geschätzt.

Aus diesem Gutachten ergibt sich nicht, ob und in welchem Umfang lediglich die Nähe zur Mülldeponie oder aber Beeinträchtigungen des Grundstücks durch schadstoffhaltige Immissionen als Ursache der Wertminderung angesehen worden sind. Die Vermutung spricht vielmehr dafür, daß der Gutachterausschuß davon ausgegangen ist, die Mülldeponie habe den Bodenwert nicht beeinflußt; denn der Gutachterausschuß hält den Ansatz eines einheitlichen Bodenwerts für die beiden Vergleichszeitpunkte für unbedenklich.

Unter diesen Umständen kann nach Auffassung des erkennenden Senats eine etwaige Ermäßigung nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 BewG nicht unter Zugrundelegung dieses Gutachtens bemessen werden. Zwar entspricht es herrschender Auffassung, die Höhe des Abschlags entsprechend der Bedeutung des Ermäßigungsgrundes auf den Verkehrswert des Grundstücks im Falle eines Verkaufs zu ermitteln. Dabei kann von dem Verkehrswert des mit Mängeln behafteten Grundstücks und seinem Verkehrswert ohne diese Mängel ausgegangen und der Abschlag nach dem Verhältnis des Unterschieds beider Verkehrswerte bemessen werden; man kann aber auch von den Kosten ausgehen, die zur Behebung der Mängel erforderlich sind (vgl. Gürsching/Stenger, a.a.O., § 82 BewG Anm. 19). Wertminderungen, die auf anderen Gründen beruhen - wie z.B. allein die Lage in der Nähe einer Mülldeponie -, sind jedoch auszuscheiden.