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  BFH-Urteil vom 31.7.1990 (I R 28/88) BStBl. 1991 II S. 244

Ergeht ein erstmaliger Körperschaftsteuerbescheid zeitlich nach dem Gewerbesteuer-Meßbescheid, so kann dieser nicht gemäß § 35b GewStG geändert werden. Eine Änderung gemäß § 35b GewStG setzt einen aufgehobenen oder geänderten Körperschaftsteuer-(Einkommensteuer-, Feststellungs-)Bescheid voraus.

GewStG § 35b.

Vorinstanz: FG München (EFG 1988, 317)

Sachverhalt

I.

Streitig ist, ob ein Gewerbesteuermeßbescheid gemäß § 35b des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) zu ändern ist.

1. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) schätzte die Besteuerungsgrundlagen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für das Jahr 1983. Der auf der Schätzung beruhende Körperschaftsteuerbescheid 1983 wurde am 8. Juli 1985 zur Post gegeben. Am 29. November 1985 erhob die Klägerin Einspruch und trug vor, den Bescheid nicht erhalten zu haben.

Den Gewerbesteuermeßbescheid 1983 gab die Gemeinde P am 21. August 1985 zur Post. Die Klägerin nahm den dagegen am 26. September 1985 eingelegten Einspruch zurück, nachdem sie vom FA darauf hingewiesen worden war, daß der Rechtsbehelf verspätet eingelegt worden sei.

2. Wegen der nicht nachweisbaren Bekanntgabe des Körperschaftsteuerbescheids erließ das FA unter Berücksichtigung der inzwischen von der Klägerin eingereichten Steuererklärungen einen Körperschaftsteuerbescheid für 1983, den es am 14. März 1986 zur Post gab. Den Gewerbesteuermeßbescheid 1983 vom 21. August 1985 ließ das FA unverändert.

Mit Schreiben vom 28. Februar 1986 beantragte die Klägerin, diesen Gewerbesteuermeßbescheid entsprechend der inzwischen eingereichten Gewerbesteuererklärung zu ändern. Das FA lehnte mit Verwaltungsakt vom 14. März 1986 eine Änderung wegen fehlender Berichtigungsvorschrift ab.

Dagegen erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage, die vom Finanzgericht (FG) als unbegründet abgewiesen wurde. Das FG verneinte eine Berichtigungsmöglichkeit nach § 35b GewStG, da der Körperschaftsteuerbescheid 1983 nicht geändert worden sei.

3. Die Klägerin rügt mit ihrer Revision Verletzung des § 35b GewStG.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des FG, den Verwaltungsakt vom 14. März 1986 und die Einspruchsentscheidung vom 30. Januar 1987 aufzuheben und das FA zu verpflichten, unter Abänderung des Gewerbesteuermeßbescheids 1983 vom 21. August 1985 den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag auf null DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet und war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Der Gewerbesteuermeßbescheid 1983 vom 21. August 1985 kann nicht geändert werden.

1. Der Bescheid ist bestandskräftig geworden.

a) Der Bescheid ist der Klägerin zugegangen. Das ergibt sich aus der Feststellung des FG über die Aufgabe des Bescheids zur Post in Verbindung mit der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) in der bis zum Inkrafttreten des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 vom 19. Dezember 1985 (BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) geltenden Fassung. Die Zugangsvermutung ist für den Gewerbesteuermeßbescheid nicht außer Kraft gesetzt worden. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, daß ihr auch der Gewerbesteuermeßbescheid nicht zugegangen sei.

b) Aus den Feststellungen des FG ist nicht zu entnehmen, ob die Gemeinde P berechtigt war, den Bescheid bekanntzugeben. Dazu hätte es einer wirksamen landesrechtlichen Übertragung der grundsätzlich den Finanzämtern obliegenden Verpflichtung zur Bekanntgabe auf die Gemeinde bedurft (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 23. April 1986 I R 178/82, BFHE 147, 125, 132, BStBl II 1986, 880).

Die Frage bedarf jedoch keiner Entscheidung. Selbst wenn der Bescheid durch eine unzuständige Behörde bekanntgegeben worden sein sollte, hätte das nicht die Nichtigkeit des Bescheids zur Folge. Wenn - wie im Streitfall - der technischen Herstellung eines Bescheids die abschließend und verbindlich von der zuständigen Behörde festgelegten Eingabewerte zugrunde liegen und lediglich die maschinelle Abwicklung und Bekanntgabe des Bescheids von einer unzuständigen Behörde vorgenommen werden, führt das nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts (BFH in BFHE 147, 125, 137, BStBl II 1986, 880; Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 29. September 1982 8 C 138.81, BVerwGE 66, 178, 182).

Da der Bescheid nicht nichtig ist, könnte die möglicherweise fehlende Zuständigkeit der Gemeinde nur geltend gemacht werden, wenn der Bescheid noch anfechtbar wäre. Das ist nicht der Fall. Da der Bescheid am 21. August 1985 zur Post gegeben wurde, lief die Einspruchsfrist am 24. September 1985 ab (§§ 355 Abs. 1 Satz 1, 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Der am 26. September 1985 per Telegramm eingelegte Einspruch war somit verspätet. Im übrigen hat die Klägerin den Rechtsbehelf durch Schreiben vom 12. Februar 1986 zurückgenommen.

2. Der Gewerbesteuermeßbescheid 1983 kann nicht gemäß § 35b GewStG geändert werden.

§ 35b GewStG ordnet die Aufhebung oder Änderung eines Gewerbesteuermeßbescheids von Amts wegen an, wenn der Körperschaftsteuerbescheid aufgehoben oder geändert wird und die Aufhebung oder Änderung den Gewinn aus Gewerbebetrieb berührt.

a) Die Vorschrift ist ihrem Wortlaut nach nicht anwendbar. Der Körperschaftsteuerbescheid 1983 ist nicht aufgehoben oder geändert worden. Die Klägerin hat durch die eidesstattliche Versicherung ihres Geschäftsführers glaubhaft gemacht, daß sie den Körperschaftsteuerbescheid vom 8. Juli 1985 nicht erhalten hat. Unter diesen Umständen hätte die Behörde gemäß § 122 Abs. 2 letzter Halbsatz AO 1977 den Zugang nachweisen müssen. Das ist nicht geschehen, so daß davon auszugehen ist, daß der Bescheid nicht bekanntgegeben und damit nicht wirksam wurde. Ein seinen Adressaten nicht erreichender Steuerbescheid ist ein rechtlich nicht existierender Bescheid (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; BVerwG-Urteil vom 21. November 1986 8 C 127.84, BStBl II 1987, 472). Der Körperschaftsteuerbescheid vom 14. März 1986 war der erste wirksame Körperschaftsteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 1983.

b) In der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß auch in derartigen Fällen § 35b GewStG anwendbar sei. Glanegger/Güroff (Gewerbesteuergesetz, Kommentar, § 35b Anm. 3) verweisen darauf, daß nicht bekanntgegebene Bescheide vor Inkrafttreten der AO 1977 gemäß § 92 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) "geändert" werden konnten. Nachdem damals der Begriff "Änderung" auch auf nicht wirksam gewordene Bescheide angewendet worden sei, sei auch § 35b GewStG in diesem Sinne zu verstehen.

Der Senat folgt dieser Auffassung zumindest für die im Streitjahr geltende Fassung des § 35b GewStG nicht. Es trifft zwar zu, daß gemäß § 92 Abs. 1 AO a.F. Verfügungen bis zu ihrer Bekanntgabe u.a. "geändert" werden konnten (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 92 Rnr. 1). Auch ist nicht auszuschließen, daß sich der Gesetzgeber des § 35b GewStG 1951 an diesem Begriff einer "Änderung" orientiert hat.

§ 35b GewStG ist jedoch durch das Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) vom 14. Dezember 1976 (BGBl I 1976, 3341, BStBl I 1976, 694) neu gefaßt und der AO 1977 angepaßt worden (Art. 12 Nr. 10 EGAO 1977). In dieser, nur der Anpassung an die AO 1977 dienenden Neufassung fordert das Gesetz als Voraussetzung einer Folgeänderung des Gewerbesteuermeßbescheids einen "geänderten" Körperschaftsteuerbescheid. Es ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber des EGAO 1977 diesen Begriff im Sinn der Terminologie der AO 1977 verwendet hat. Die AO 1977 kennt jedoch keine "Änderung" eines Steuerbescheids vor dessen Wirksamkeit.

c) Das FG hat zutreffend ausgeführt, daß § 35b GewStG bei dieser auf dem Wortlaut beruhenden Auslegung nicht zu "offenbar sinnwidrigen" Ergebnissen führt (vgl. BFH-Urteil vom 6. Dezember 1961 VI 319/60 U, BFHE 74, 328, BStBl III 1962, 126).

Vielmehr würde eine Auslegung im Sinn der klägerischen Ausführungen zu wenig sinnvollen Ergebnissen führen. Es wäre nicht einzusehen, daß der versehentlich nicht bekanntgegebene Körperschaftsteuerbescheid stärkere Bindungswirkungen auslösen sollte, als ein bewußt zurückgestellter und erst nach dem Gewerbesteuermeßbescheid erstmalig erlassener Körperschaftsteuerbescheid. Würde bei der Korrektur eines von der Steuerbehörde zwar entworfenen, aber mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordenen Steuerbescheids eine "Folgeänderung" des Gewerbesteuermeßbescheids ausgelöst, müßte sinnvollerweise eine umfassende Bindung des Gewerbesteuermeßbescheids an den Körperschaftsteuerbescheid bestehen. Sowohl der versehentlich nicht bekanntgegebene Bescheid als auch der bewußt noch nicht erlassene Bescheid sind bis zu ihrer Bekanntgabe "Nicht-Verwaltungsakte".

Eine umfassende Bindung auch an noch nicht erlassene Bescheide sieht die AO 1977 jedoch nur für Grundlagenbescheide und Folgebescheide vor (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). Der Gewerbesteuermeßbescheid ist jedoch kein "Folgebescheid" des Körperschaftsteuerbescheids (s. BFH-Urteil vom 6. Mai 1965 IV 19/65 U, BFHE 82, 476, BStBl III 1965, 419).

d) Dem Steuerpflichtigen wird durch diese Auslegung keine Möglichkeit der Anfechtung entzogen. Er kann den Gewerbesteuermeßbescheid stets mit dem Rechtsbehelf des Einspruchs anfechten (§ 348 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977).

Durch die Vereinfachungsvorschrift des § 35b GewStG sollten parallele Rechtsbehelfsverfahren gegen den Gewerbesteuermeßbescheid und den Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuerbescheid regelmäßig vermieden werden. Liegen dem Steuerpflichtigen sowohl der Körperschaftsteuerbescheid als auch der Gewerbesteuermeßbescheid vor, so soll ein Rechtsbehelfsverfahren gegen den Körperschaftsteuerbescheid in der Regel ausreichen, um eine Folgeänderung beim Gewerbesteuermeßbescheid auszulösen. Dieses gesetzgeberische Ziel besteht jedoch nur, wenn zwei anfechtbare Bescheide vorliegen. Ergeht - wie im Streitfall - nur ein Bescheid, so geht der Gesetzgeber erkennbar davon aus, daß der Steuerpflichtige gegen den ihm bekannten Bescheid vorgeht. Dem entspricht in § 35b GewStG die Beschränkung der Bindungswirkung auf geänderte Körperschaftsteuerbescheide. Denn eine Änderung setzt einen dem Steuerpflichtigen bereits bekanntgewordenen Steuerbescheid voraus. Offenbar hat auch die Klägerin die Vorschrift in diesem Sinne verstanden, denn sie hat - wenn auch verspätet - gegen den Gewerbesteuermeßbescheid Einspruch eingelegt, da ihr kein Körperschaftsteuerbescheid zugegangen war.

3. Entgegen der Auffassung der Klägerin besteht keine rechtliche Möglichkeit, den Gewerbesteuermeßbescheid gemäß § 174 AO 1977 zu ändern. Der Streitfall erfüllt keinen der in § 174 Abs. 1 bis 4 AO 1977 enthaltenen gesetzlichen Tatbestände widerstreitender Steuerfestsetzungen.