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  BFH-Beschluß vom 20.2.1991 (II B 160/89) BStBl. 1991 II S. 368

Es ist regelmäßig geboten und zweckmäßig, daß das FG den Streit um die Rechtmäßigkeit eines Folgebescheids nach § 74 FGO aussetzt, solange noch unklar ist, ob und wie ein angefochtener Grundlagenbescheid geändert wird (vgl. BFH-Urteil vom 24. April 1979 VIII R 57/76, BFHE 128, 136, BStBl II 1979, 678). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos. Im Einzelfall können besondere Umstände vorliegen, die eine Aussetzung des Verfahrens als ermessenswidrig erscheinen lassen.

FGO § 74.

Sachverhalt

I.

Die Beschwerdeführerin besitzt Vermögen, das in erster Linie aus Anteilen an Kapitalgesellschaften besteht. An der Geschäftsführung dieser Gesellschaften war und ist sie nicht beteiligt. Teilweise sind die Anteile an den Kapitalgesellschaften inzwischen veräußert. Bis 1966 wurde die Beschwerdeführerin zur Vermögensteuer zusammen mit ihrem Ehemann, nach Scheidung der Ehe dann allein, veranlagt. Durch zeitnah ergehende Bescheide veranlagte sie der Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) zur Vermögensteuer auf den 1. Januar der Jahre 1963, 1966 und 1967 bis 1969. Die Bescheide für 1963 und 1966 ergingen hinsichtlich der gemeinen Werte der Anteile an den Kapitalgesellschaften vorläufig nach § 100 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO). Die Vorläufigkeit späterer Bescheide bezog sich nur auf den Schuldenabzug.

Im Februar 1969/April 1970, im Dezember 1972/November 1973 und im Mai 1973/April 1974 wurden bei Kapitalgesellschaften, an denen die Beschwerdeführerin beteiligt war, Betriebsprüfungen durchgeführt. Diese führten zu höheren gemeinen Werten von Anteilen als die vom FA der Vermögensteuerveranlagung der Beschwerdeführerin zugrunde gelegten. Die geänderten Mitteilungen über die gemeinen Werte der Anteile wurden vom FA jedoch zunächst nicht ausgewertet.

Mit Bescheid des FA vom 30. November 1973, gerichtet an Herrn/Frau X, wurde die vorläufig erfolgte Festsetzung der Vermögensteuer für 1966 für endgültig erklärt mit der Begründung: "Aufgrund der durchgeführten Bp haben sich keine Änderungen ergeben."

Zum 1. Januar 1972 erfolgte die Vermögensteuerveranlagung der Beschwerdeführerin erst durch Bescheid vom 12. Oktober 1978. Dabei setzte das FA teilweise höhere gemeine Werte für Anteile an Kapitalgesellschaften an, als sie von der Beschwerdeführerin erklärt worden waren. Mit dem Einspruch machte die Beschwerdeführerin geltend, daß die über die Vorauszahlungen hinausgehenden Beträge verjährt seien.

Im Jahre 1979 wurden Betriebsprüfungsberichte erstellt über die Prüfung von Kapitalgesellschaften, an denen die Beschwerdeführerin beteiligt war. Diese wurden für die Vermögensteuer der Beschwerdeführerin für die Jahre 1975 bis 1978 ausgewertet und zwar Ende 1980/ Anfang 1981. Im Jahre 1981 erhielt die Beschwerdeführerin Vermögensteuererstattungen für die Jahre 1975 bis 1978.

Im Jahre 1981 wurde von der Oberfinanzdirektion (OFD) eine Geschäftsprüfung bei dem FA durchgeführt. Dabei wurde u.a. beanstandet, daß die Ergebnisse der Betriebsprüfung für die Vermögensteuerveranlagung der Beschwerdeführerin nicht ausgewertet worden seien. Mit Schreiben vom 10. September 1981 unterrichtete das FA die Beschwerdeführerin über diese Beanstandungen. Es kündigte an, die Mitteilungen über geänderte gemeine Werte der Anteile an Kapitalgesellschaften nunmehr auszuwerten. Es sei deshalb beabsichtigt, ergangene Vermögensteuerbescheide zu ändern und (erstmalige) Neuveranlagungen für zurückliegende Zeiträume durchzuführen. Bezüglich der Vermögensteuer 1972 enthielt das Schreiben des FA den Hinweis, daß sich aus den - bisher nicht ausgewerteten - Betriebsprüfungen auch ergebe, daß noch keine Verjährung eingetreten sei. Durch Bescheide vom 20. Januar 1982 wurden dann - wie vom FA angekündigt - die Vermögensteuerveranlagungen zum 1. Januar 1963 und 1966 geändert und für 1964 und 1965 erstmals Neuveranlagungen durchgeführt. Außerdem wurden die Neuveranlagungen für 1967 und 1968 geändert und für 1970 und 1971 erstmals Neuveranlagungen durchgeführt. Gegen diese Bescheide legte die Beschwerdeführerin Einspruch ein. Die Einsprüche wurden durch Einspruchsentscheidungen vom 24. Januar 1984 als unbegründet zurückgewiesen. Durch Einspruchsentscheidung vom selben Tag wurde auch der zuvor schon eingelegte Einspruch gegen die Vermögensteuerveranlagung zum 1. Januar 1972 als unbegründet zurückgewiesen.

Gegen alle drei Einspruchsentscheidungen und die durch sie bestätigten Steuerbescheide erhob die Beschwerdeführerin Klagen beim Finanzgericht (FG). Mit diesen machte sie in erster Linie - wie sie es bereits von Anfang an getan hatte - Verjährung und Verwirkung geltend.

Entsprechend der Zusammenfassung der Bescheide in den Einspruchsentscheidungen wurden auch beim FG (zunächst) drei Klageverfahren geführt.

Im Februar 1987 hat der Berichterstatter des mit der Sache befaßten Senats des FG das FA gefragt, ob es im Hinblick auf das rechtskräftige Urteil des FG Münster vom 8. Juli 1986 VI 3392/83 E (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1987, 51) an seiner bisher vertretenen Auffassung festhalten wolle. Die angezogene Entscheidung des FG befaßt sich mit der Problematik der Verwirkung. Durch Schreiben vom 12. Juni 1987 hielt der Berichterstatter dem FA den Bescheid vom 30. November 1973 vor, mit dem die Vermögensteuerveranlagung auf den 1. Januar 1966 für endgültig erklärt worden war. Er gab zu erkennen, daß nach seiner Auffassung die Beschwerdeführerin aufgrund dieses Hinweises annehmen durfte, vom FA nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Durch Schreiben vom 8. Juni 1989, das mit dem Senatsvorsitzenden abgestimmt war, teilte der Berichterstatter dem FA nunmehr mit, daß sich nach seiner Auffassung der Rechtsstandpunkt des FA sowohl hinsichtlich der Frage der Beteiligung der Beschwerdeführerin im Verfahren der Anteilsbewertung als auch zur Frage der Verwirkung nicht halten lasse. Die Bescheide über die einheitliche Feststellung des gemeinen Werts der Anteile seien auch gegen die Gesellschafter zu richten gewesen. Dagegen habe das FA eindeutig verstoßen. Das FA wurde um Prüfung, gegebenenfalls unter Einschaltung der OFD, gebeten.

Daraufhin hat das FA die Bekanntgabe der Feststellungsbescheide an die Beschwerdeführerin nachgeholt. Die Beschwerdeführerin hat dagegen Einspruch eingelegt mit dem Antrag, die Entscheidung über den Einspruch bis zur Entscheidung des FG über die anhängigen Klagen auszusetzen.

Durch Beschluß vom 16. Oktober 1989 hat das FG das Verfahren ausgesetzt bis zur Bestandskraft der einheitlichen Feststellungen des gemeinen Werts der Anteile an den Kapitalgesellschaften, an denen die Beschwerdeführerin in den Veranlagungszeitpunkten beteiligt war. Diese Entscheidung begründet das FG wie folgt: "Das Verfahren war gemäß § 74 FGO auszusetzen. Es ist regelmäßig geboten und zweckmäßig, daß das Finanzgericht das Verfahren betreffend die Vermögensteuer(VSt)-Bescheide nach § 74 FGO aussetzt, solange unklar ist, ob die Anfechtung der nachträglich ergangenen Feststellungsbescheide über den gemeinen Wert von Anteilen nach den §§ 64 ff. BewDV Erfolg haben wird. Das gilt auch dann, wenn der Kläger gegen den VSt-Bescheid zusätzlich einwendet, das FA habe das Recht zur Änderung dieser Bescheide verwirkt (vgl. BFH-Beschluß vom 2. Dezember 1988 IX B 18/88, BFH/NV 1989, 525)."

Mit der Beschwerde strebt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses des FG an. Sie begründet dies in erster Linie damit, daß es der Beschwerdeführerin nicht zuzumuten sei, die Rechtsmittelentscheidungen über die erst jetzt zugestellten Grundlagenbescheide abzuwarten. Es liege ein Ausnahmefall vor, in welchem die Aussetzung einen Ermessensverstoß darstelle. Der Einwand der Verwirkung richte sich gleichermaßen gegen die Folgebescheide und die erstmals zugestellten Grundlagenbescheide.

Das FA hat im Beschwerdeverfahren keine Stellungnahme abgegeben.

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Beschlusses des FG über die Aussetzung des Verfahrens. Das FG wird das Verfahren fortzusetzen haben.

Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß auch im Streitfall eine Aussetzung des Verfahrens schon wegen der fehlenden Bestandskraft der nachträglich ergangenen Feststellungsbescheide geboten war.

Nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Die Entscheidung über die Aussetzung steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Dabei ist es regelmäßig geboten und zweckmäßig, daß das FG den Streit um die Rechtmäßigkeit eines Folgebescheids aussetzt, solange noch unklar ist, ob und wie der angefochtene Grundlagenbescheid geändert wird (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27. September 1972 I B 27/72, BFHE 107, 8, BStBl II 1973, 24; vom 1. Juli 1977 III R 104-106/76, nicht veröffentlicht - NV -; Urteile vom 24. April 1979 VIII R 57/76, BFHE 128, 136, BStBl II 1979, 678, und vom 2. September 1987 I R 162/84, BFHE 151, 104, BStBl II 1988, 142). Dies gilt auch dann, wenn die Finanzbehörde zunächst einen Steuerbescheid erlassen hat und in der Folge der Feststellungsbescheid nachgeholt wird (vgl. BFH in dem vom FG zitierten Beschluß vom 2. Dezember 1988 IX B 18/88, BFH/NV 1989, 525, m.w.N.). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Der Grundsatz, daß das Verfahren über einen Folgebescheid auszusetzen ist, solange unklar ist, ob die Anfechtung des Grundlagenbescheids Erfolg haben wird, gilt jedoch nicht ausnahmslos (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. November 1988 I R 191/84, BFHE 155, 454, BStBl II 1989, 343). Im Einzelfall können besondere Umstände vorliegen, die eine Aussetzung des Verfahrens ausnahmsweise als ermessenswidrig erscheinen lassen (so auch der BFH in dem Beschluß in BFH/NV 1989, 525).

Derartige Umstände sind im Streitfall gegeben. Gegen die im Streitfall angefochtenen Vermögensteuerbescheide hat die Beschwerdeführerin von Anfang an Verjährung und vor allem Verwirkung geltend gemacht. Wäre die - von der Beschwerdeführerin behauptete - Verwirkung tatsächlich eingetreten, so wäre der Klage (den Klagen) stattzugeben, ohne daß es auf das Ergebnis des Rechtsstreits über die nachträglich bekanntgegebenen Grundlagenbescheide ankäme. Es ist allerdings grundsätzlich richtig, daß sich das FG mit dem gegen einen Folgebescheid erhobenen Einwand der Verwirkung notwendigerweise erst zu befassen hat, wenn ein Rechtsstreit über einen Grundlagenbescheid abgeschlossen ist.

Gerade diese Überlegung rechtfertigt regelmäßig die Aussetzung des Verfahrens über den Folgebescheid. Im Streitfall ist jedoch zu berücksichtigen, daß mit den angefochtenen Folgebescheiden auch ungewöhnlich lange zurückliegende Veranlagungszeiträume erfaßt werden. Das FG hat zudem - durch den Berichterstatter - bereits zu erkennen gegeben, daß es die Möglichkeit einer Verwirkung der strittigen Steueransprüche ernsthaft in Betracht zieht. Eine derartige Ausnahmekonstellation verpflichtet das FG, in Umkehrung der normalerweise bestehenden Prüfungsreihenfolge zunächst zu prüfen, ob die Klage nicht ungeachtet des Ausgangs des Rechtsstreits über die Grundlagenbescheide wegen - der von der Beschwerdeführerin mit beachtlichen Gründen geltend gemachten - Verjährung oder Verwirkung entscheidungsreif ist. Zu Unrecht ist das FG jedenfalls davon ausgegangen, daß es auch im Streitfall gleichsam automatisch zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet gewesen wäre. Deshalb ist sein Beschluß aufzuheben. Eine erneute Aussetzung des Verfahrens wird dadurch jedoch nicht ausgeschlossen. In der Begründung eines erneuten Beschlusses über die Aussetzung des Verfahrens müßte sich das FG jedoch gegebenenfalls im Rahmen der Darstellung seiner Ermessenserwägungen mit der Frage auseinandersetzen, warum eine Entscheidung im Streitfall ohne Rücksicht auf den Ausgang des Rechtsstreits über die Feststellungsbescheide (voraussichtlich) nicht möglich sei.