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  BFH-Beschluß vom 31.10.1990 (I R 46/88) BStBl. 1991 II S. 370

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Setzt die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG gewählte Formulierung "einen oder mehrere Zweige ihrer Tätigkeit" einen Teilbetrieb im Sinne eines mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteten Teils eines Gesamtbetriebes voraus, der für sich lebensfähig ist und dessen Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer Betätigung dienen, die sich ihrer Natur nach von der gewerblichen Tätigkeit des übrigen Unternehmens deutlich unterscheidet?

1. Für den Fall, daß die Frage zu 1. zu verneinen sein sollte:

a) Welche wesentlichen Merkmale machen den "Zweig einer Tätigkeit" i.S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG aus?

b) Ist eine Zweigniederlassung i.S. des § 13 HGB "Zweig einer Tätigkeit" i.S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG?

KVStG 1972 § 9 Abs. 2 Nr. 3; Richtlinie 69/335/EWG Art. 7 Abs. 1 Buchst. b.

Vorinstanz: FG des Saarlandes

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine inländische Aktiengesellschaft, die Bankgeschäfte aller Art betreibt und am 4. April 1974 von insgesamt fünf Aktionären gegründet wurde. Zu den Gründungsaktionären gehörten u.a. die A-AG und die B-AG, die heute sämtliche Aktien der Klägerin halten.

Nach der Satzung der Klägerin verpflichteten sich die beiden o.g. Gründungsaktionäre zu Sacheinlagen in Höhe von 14,2 Mio DM. Die A-AG übertrug als Sacheinlage zum Wert von knapp 9 Mio DM sämtliche Filialen, die sie vorher in .... unterhalten hatte. Die B-AG übertrug als Sacheinlage im Werte von 5,25 Mio DM eine zuvor in S. unterhaltene Filiale. Sämtliche Filialen waren vor ihrer Übertragung auf die Klägerin als Zweigniederlassungen i.S. des § 13 des Handelsgesetzbuches (HGB) in den Handelsregistern der örtlich zuständigen Amtsgerichte eingetragen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte die Gründung der Klägerin als einen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG 1972) steuerpflichtigen Rechtsvorgang. Er lehnte die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes i.S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 insoweit ab, als Gesellschaftsteuer auf das von der A-AG eingebrachte Vermögen entfiel. Das FA sah die eingebrachten Filialen nicht als Teilbetrieb i.S. der Vorschrift an.

Der Einspruch und die sich anschließende Klage gegen den Gesellschaftsteuerbescheid vom 11. September 1981 blieben ohne Erfolg.

Mit ihrer vom Finanzgericht (FG) zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG des Saarlandes vom 30. Juni 1987 2 K 177/82 aufzuheben, den Gesellschaftsteuerbescheid vom 11. September 1981 zu ändern und die Gesellschaftsteuer auf 75.000 DM herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sind folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

(1) Setzt die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG gewählte Formulierung "einen oder mehrere Zweige ihrer Tätigkeit" einen Teilbetrieb in dem Sinne eines mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteten Teils eines Gesamtbetriebes voraus, der für sich lebensfähig ist und dessen Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer Betätigung dienen, die sich ihrer Natur nach von der gewerblichen Tätigkeit des übrigen Unternehmens unterscheidet?

(2) Für den Fall, daß die Frage zu 1. zu verneinen sein sollte:

a) Welche wesentlichen Merkmale machen den "Zweig einer Tätigkeit" i.S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG aus?

b) Ist eine Zweigniederlassung i.S. des § 13 HGB "Zweig einer Tätigkeit" i.S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG?

1. Der erkennende Senat hat im Streitfall darüber zu entscheiden, ob die Rechtsauffassung des FG, die A-AG habe keinen "Teilbetrieb" in das Gesellschaftsvermögen der Klägerin eingebracht, Bundesrecht verletzt. Dies hängt davon ab, was unter einem Teilbetrieb i.S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972 zu verstehen ist. Da die Vorschrift der Umsetzung des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG dient, kann die Auslegung des Begriffs "Teilbetrieb" nicht losgelöst von der Frage vorgenommen werden, was unter einem "Zweig der Tätigkeit" im Sinne der genannten Richtlinie zu verstehen ist.

2. Die Richtlinie 69/335/EWG umschreibt nicht näher, was unter "Zweig ihrer Tätigkeit" zu verstehen ist. Allein die Tatsache, daß der deutsche Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972 die in der Richtlinie gewählte Formulierung nicht übernommen hat, sondern einen "Teilbetrieb" fordert, läßt Zweifel darüber aufkommen, ob § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972 eine zutreffende Umsetzung der Richtlinie enthält. Dies gilt um so mehr, als im deutschen Steuerrecht mit dem Begriff "Teilbetrieb" ein fester und vom Ertragsteuerrecht geprägter Inhalt verbunden ist. Danach ist ein Teilbetrieb der mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattete Teil des Gesamtbetriebes, der für sich lebensfähig ist und dessen Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer Betätigung dienen, die sich ihrer Natur nach von der gewerblichen Tätigkeit des übrigen Unternehmens deutlich unterscheidet (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20. Februar 1974 I R 127/71, BFHE 111, 490, BStBl II 1974, 357). Auf die Einbringung der Filiale einer Bank bezogen, würde die Anwendung dieser Rechtsprechung auch im Bereich der Gesellschaftsteuer bedeuten, daß die in § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972 vorgesehene Tarifermäßigung fast nie gewährt werden kann, weil vor allem die sog. "Passivgeschäfte" einer Bank (Refinanzierung, Einkauf von Wertpapieren, Mindestreserven bei der Bundesbank u.a.m.) üblicherweise zentral von der Hauptniederlassung vorgenommen zu werden pflegen. Es erscheint jedoch fraglich, ob dem Richtliniengeber eine Regelung vorschwebte, die dem deutschen Ertragsteuerrecht entspricht. Die Fragestellung zu 1. dient insoweit der Klärung, ob unter "Zweig ihrer Tätigkeit" ein Teilbetrieb im Sinne des deutschen Ertragsteuerrechts zu verstehen ist.

3. Der erkennende Senat neigt zu der Auffassung, daß der Begriff "Zweig ihrer Tätigkeit" i.S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie entsprechend der normspezifischen Funktion und der Ordnungsaufgabe der Vorschrift auszulegen ist. Die Vorschrift beruht auf der Erwägung, daß das Vermögen einer Kapitalgesellschaft, das gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine andere Kapitalgesellschaft eingebracht wird, in gewissem Umfang bereits der Gesellschaftsteuer unterlegen hat. Dies spricht dafür, den "Zweig ihrer Tätigkeit" im Sinne eines funktional abgrenzbaren Vermögensteils zu verstehen. Darauf, ob eine Tätigkeit aufgegeben wird (so BFH-Urteil vom 3. Oktober 1984 I R 119/81, BFHE 142, 433, BStBl II 1985, 245) oder ob sie sich von der des übrigen Unternehmens deutlich unterscheidet (so BFH in BFHE 111, 490, BStBl II 1974, 357), kann es danach nicht ankommen. Entscheidend ist vielmehr, ob eine Mehrheit von Wirtschaftsgütern nur einem funktionalen Zweck dient und in diesem Sinne von dem übrigen Vermögen abgrenzbar ist. Dazu kann man der Auffassung sein, daß das Vermögen einer Zweigniederlassung i.S. des § 13 HGB diese Voraussetzung regelmäßig erfüllt. Sollte die Frage zu 1. zu verneinen sein, hinge die Entscheidung über den Streitfall von diesen weitergehenden Fragestellungen ab. Ihrer vorsorglichen Klärung dient die Frage zu 2. Zu deren Klarstellung wird darauf hingewiesen, daß Zweigniederlassungen i.S. des § 13 HGB eine Zwischenform zwischen der Bildung eigenständiger Unternehmen und bloßer Abteilungen darstellen. Für die Zweigniederlassung ist charakteristisch, daß sie einerseits in Abhängigkeit vom Unternehmen steht und auf der anderen Seite eine gewisse Selbständigkeit aufweist. Das Reichsgericht (Urteil vom 3. März 1902 VI 10/02, RGZ 50, 428) sprach von einem Zweiggeschäft, von dem aus selbständige Geschäfte getätigt werden, und zwar nicht bloß nebensächliche, sondern auch für das Geschäft wesentliche, die dem Leiter eine gewisse Entscheidungsfreiheit belassen. Zweigniederlassungen müssen im Handelsregister eingetragen werden.

4. Bezüglich der Fragestellungen sind die Voraussetzungen des Art. 177 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfüllt, weshalb die Vorlage geboten ist.