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  BFH-Urteil vom 21.2.1991 (V R 105/84) BStBl. 1991 II S. 498

1. Das Institut des Billigkeitserlasses ist vor allem dazu bestimmt, einem ungewollten Überhang der Regelung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis entgegenzuwirken. Bei der Prüfung eines geltend gemachten Erlaßanspruches können außer den den Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis regelnden Vorschriften auch andere Rechtsnormen zu berücksichtigen sein, insbesondere allgemeine Rechtsgrundsätze.

2. Die Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG schließt ein, daß der Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit zu gewähren ist.

3. Sofern bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung nicht ein konkreter Schaden geltend gemacht wird, kommt als Sanktion ein Aufhalten der sofortigen Vollziehbarkeit des angefochtenen Steuerbescheides in Betracht. Eine weitere Sanktion in Gestalt eines Erlasses von Aussetzungszinsen ist weder aus dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie noch durch Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen geboten.

AO 1977 § 3 Abs. 3, § 37 Abs. 1, § 227 Abs. 1, § 237; FGO §§ 102, 112; GG Art. 19 Abs. 4 Satz 1; Menschenrechtskonvention Art. 6 Nr. 1 Satz 1.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

I.

Die Klägerinnen und Revisionsklägerinnen (Klägerinnen) waren zunächst die alleinigen Gesellschafter der Firma "....-KG" (X-KG) und der Firma "....-KG" (Y-KG). Die Klägerin zu 1 war jeweils persönlich haftende Gesellschafterin, die Klägerin zu 2 jeweils Kommanditistin.

Am .... 1959 wurden die "....gesellschaft mbH" und die "....gesellschaft mbH" (GmbH) als Gesellschafter gegen ein Entgelt von insgesamt .... DM in die X-KG aufgenommen. Die beiden neuen Gesellschafter traten mit Wirkung zum .... 1959 23.00 Uhr ein. Die Klägerinnen schieden mit Wirkung zum .... 1959 (folgender Tag) aus. Die Neugesellschafter waren gemäß Abschn. X Abs. 1 des Vertrages über Aufnahme und Ausscheiden von Gesellschaftern vom .... 1959 u.a. verpflichtet, die Altgesellschafter von sämtlichen Steuern (mit Ausnahme der Einkommensteuer und der Vermögensteuer) freizustellen, die sich aus dem Gesellschafterwechsel ergeben.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) sah den Gesellschafterwechsel umsatzsteuerrechtlich als Geschäftsveräußerung im ganzen an und setzte zunächst die Umsatzsteuer 1959 mit einem an die X-KG gerichteten Bescheid fest. Auf die hiergegen erhobene Klage wurde der Bescheid mit der Begründung aufgehoben (Urteil des Finanzgerichts - FG - vom 7. Juli 1964 III 184/63), zwischen der X-KG und der Y-KG habe Unternehmereinheit bestanden, so daß nicht die X-KG, sondern die aus den beiden Klägerinnen bestehende Personengruppe Unternehmerin und damit Schuldnerin der Umsatzsteuer gewesen sei.

Das FA erließ darauf am 9. November 1964 einen zweiten, inhaltsgleichen Umsatzsteuerbescheid, der an ".... (Klägerin zu 1) und .... (Klägerin zu 2) Lebensmittelgroßhandel und Einzelhandel" gerichtet war. Einspruch und Klage (Az. des FG: III 73/65) blieben ohne Erfolg. Die Revision wurde vom Bundesfinanzhof (BFH) gemäß Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) mit Beschluß vom 5. August 1976 V R 115/73 als unbegründet zurückgewiesen.

Die Vollziehung des zweiten Umsatzsteuerbescheides war vom Zeitpunkt seines Erlasses an hinsichtlich des auf die - angenommene - Geschäftsveräußerung entfallenden Umsatzsteuerbetrages ausgesetzt. Nach der Zurückweisung der Revision erließ das FA am 4. Januar 1977 einen an die ".... und ...., GbR" gerichteten Zinsbescheid und setzte in diesem gemäß § 112 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für die Zeit vom 1. Januar 1966 bis 2. September 1976 Zinsen fest, deren Höhe später (Änderungsbescheid vom 17. März 1977) antragsgemäß auf .... DM berichtigt wurde. Der Betrag wurde von der GmbH im Februar 1977 entrichtet.

Mit Schreiben vom 9. Januar 1981 beantragten die Klägerinnen Erlaß der Zinsen. Zur Begründung führten sie aus, die Erhebung der Zinsen sei im Hinblick darauf sachlich unbillig, daß der BFH im November 1978 seine Rechtsprechung zur Unternehmereinheit aufgegeben habe. Sie hätten im Revisionsverfahren diejenigen Gründe vorgetragen, die letztlich zur Änderung der die Unternehmereinheit betreffenden Rechtsprechung geführt hätten. Es könne nicht angehen, daß aufgrund einer nicht mit Gründen versehenen BFH-Entscheidung ein Steuerpflichtiger mit Zinsen belastet werde. Das FA lehnte den Antrag ab, die Beschwerde blieb erfolglos.

Die Klage wurde vom FG in seinem - in Steuer und Wirtschaft (StuW) 1984, 379 teilweise abgedruckten - Urteil mit der Begründung abgewiesen, es lägen weder die Voraussetzungen für die hauptsächlich beantragte Verpflichtung des FA vor, den beantragten Erlaß auszusprechen, noch für die hilfsweise beantragte Aufhebung der ablehnenden finanzbehördlichen Entscheidungen und Verpflichtung des FA zur Neubescheidung.

Mit der Revision beantragen die Klägerinnen, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) und des ablehnenden Bescheides des FA auszusprechen, daß die festgesetzten Aussetzungszinsen erlassen werden, hilfsweise, das angefochtene Urteil, die Beschwerdeentscheidung der OFD und den ablehnenden Bescheid des FA aufzuheben, weiter hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Sie rügen Verletzung formellen und materiellen Rechts und machen geltend, das FG habe verkannt, daß die Ablehnung des Erlasses ermessensfehlerhaft sei. Die Finanzbehörden hätten ihrer Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt, in dem diese sie, die Klägerinnen, als Prozeßführende im finanzgerichtlichen Verfahren III 184/63 angesehen und außerdem zu Unrecht angenommen hätten, die Voraussetzungen des Tatbestandes der Geschäftsveräußerung im ganzen seien erfüllt. Ferner seien die Finanzbehörden von einer unzutreffenden Einschränkung ihres Ermessensspielraums ausgegangen; denn diese hätten die Bedeutung, die der Aufgabe der Rechtsprechung zur Unternehmereinheit durch den BFH für den vorliegenden Fall zukomme, verkannt und ferner ihrer Entscheidung das Urteil des BFH vom 7. Oktober 1965 IV 139/65 U (BFHE 83, 555, BStBl III 1965, 700) zugrunde gelegt, das durch einen Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BStBl II 1972, 603) überholt sei. Die Finanzbehörden hätten schließlich die Besonderheiten des Falles nicht gewürdigt, die in der Anwendung des BFHEntlG nach überlanger Prozeßdauer lägen und eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl II 1952, 685) - Menschenrechtskonvention - bedeuteten.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Klägerinnen ist unbegründet; sie wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 FGO).

1. Die Klägerinnen wollen mit Haupt- und Hilfsantrag einen Erlaß der festgesetzten Aussetzungszinsen erreichen. Nach den Anträgen der Klägerinnen soll der Erlaß in erster Linie vom Gericht und hilfsweise von den Finanzbehörden ausgesprochen werden. Grundlage des Anspruchs ist bei beiden Klageanträgen § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), wonach die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen können, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, und wonach unter den gleichen Voraussetzungen bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden können. Aussetzungszinsen sind steuerliche Nebenleistungen (vgl. jetzt § 3 Abs. 3 i.V.m. § 237 AO 1977; für die Streitjahre siehe: § 112 FGO i.V.m. § 5 des Steuersäumnisgesetzes - StSäumG -; vgl. hierzu BFH-Urteil vom 24. Juli 1979 VII R 67/76, BFHE 128, 331, BStBl II 1979, 712, bzw. § 4c StSäumG), so daß der sie betreffende Anspruch zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört (vgl. § 37 Abs. 1 AO 1977) und damit Gegenstand der Erlaßbefugnis ist, ebenso wie Beträge, die auf einen Anspruch auf Aussetzungszinsen bereits entrichtet worden sind.

Ob die Einziehung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis i.S. des § 227 Abs. 1 AO 1977 nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ist von den Gerichten im Rahmen des § 102 FGO nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen. Der Maßstab der Billigkeit bestimmt den Inhalt und die Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes in BStBl II 1972, 603).

2. Das FG hat die Klage zum Hauptantrag im Ergebnis zu Recht abgewiesen, weil die Klägerinnen keinen Anspruch darauf haben, daß vom Gericht auf den beantragten Erlaß erkannt wird (keine "Ermessensreduzierung auf Null").

a) Die Klägerinnen haben zur Begründung ihres Erlaßantrages im Beschwerdeverfahren im wesentlichen ausgeführt, ihre Erfolglosigkeit in dem den Aussetzungszinsen zugrunde liegenden Klage- und Revisionsverfahren sei darauf zurückzuführen, daß das FG zu Unrecht von der Rechtsfigur der Unternehmereinheit ausgegangen sei und eine Geschäftsveräußerung im ganzen angenommen habe, daß ferner der BFH trotz der in der Revisionsbegründung enthaltenen Angriffe gegen die erwähnte Rechtsfigur es unterlassen habe, ihr Revisionsverfahren (V R 115/73) mit dem bereits anhängigen Revisionsverfahren V R 22/73 zu verbinden, in dem der BFH später mit Urteil vom 16. November 1978 V R 22/73 (BFHE 127, 243, BStBl II 1979, 347) von der bisherigen Rechtsprechung zur Unternehmereinheit abgerückt ist, und daß schließlich der BFH ihre Revision am 5. August 1976, d.h. vor der Rechtsprechungsänderung (zu den vertretbaren Schlußfolgerungen bei Entscheidungen gemäß Art. 1 Nr. 7 BFHEntlG s. Hellwig, Betriebs-Berater - BB - 1990, 1389), ohne mündliche Verhandlung und ohne Bekanntgabe von Gründen durch einen Beschluß gemäß Art. 1 Nr. 7 BFHEntlG als unbegründet zurückgewiesen habe. Außerdem haben sich die Klägerinnen darauf berufen, daß das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren zusammen mit dem gerichtlichen Rechtsmittelverfahren übermäßig lange gedauert habe, nämlich rd. zwölf Jahre, und daß die Höhe der Aussetzungszinsen aufgrund dieser nicht mehr vertretbaren Verfahrensdauer bemessen worden sei.

Vor dem FG haben die Klägerinnen als weiteren einen Erlaß gebietenden Grund ausgeführt, daß der BFH nach Abschluß ihres Revisionsverfahrens zu der die Klageabweisung tragenden Ansicht auf Distanz gegangen sei, ein vollständiger Wechsel der Gesellschafter einer KG stelle umsatzsteuerrechtlich eine Geschäftsveräußerung im ganzen dar (Hinweis auf das BFH-Urteil vom 13. Januar 1977 V R 94/75, BFHE 122, 364, BStBl II 1977, 654).

b) Hieraus ergibt sich nicht, daß ein Sachverhalt vorliegt, bei dem Gründe für einen Erlaß vorhanden sind; dies wäre für eine Stattgabe auf den Hauptantrag erforderlich.

aa) Soweit es um die Änderung in der BFH-Rechtsprechung nach Abschluß des von den Klägerinnen betriebenen Revisionsverfahrens geht, fehlt es an einem den Erlaß der Aussetzungszinsen rechtfertigenden Grund. Daß die Zinsfestsetzung rechtswidrig sei, ist nicht ernstlich in Betracht zu ziehen.

Ein Erlaß hätte allerdings dann gerechtfertigt sein können, wenn die gegen die Klägerinnen ergangene Festsetzung der Umsatzsteuer 1959 offensichtlich und eindeutig unrichtig wäre und es den Klägerinnen weder möglich noch zumutbar gewesen wäre, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wenden. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Auch wenn die Klägerinnen sich bereits damals, wie sie jetzt geltend machen, gegen die Konstruktion einer Unternehmereinheit und dagegen gewandt haben, im vollständigen Gesellschafterwechsel eine Geschäftsveräußerung im ganzen zu sehen, läßt sich nicht bezweifeln, daß das FA bei der Festsetzung der Umsatzsteuer 1959 nach dem damaligen Erkenntnisstand von der Maßgeblichkeit der Rechtsfigur der Unternehmereinheit hat ausgehen und ferner hat annehmen dürfen, ein vollständiger Gesellschafterwechsel bei einer KG stelle umsatzsteuerrechtlich eine Geschäftsveräußerung im ganzen dar. Mithin fehlt es an den Voraussetzungen, unter denen im Rahmen eines Erlaßverfahrens wegen sachlicher Unbilligkeit ausnahmsweise in die Überprüfung einer rechtskräftigen Abgabenfestsetzung wiedereingetreten werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 29. Juni 1987 X R 22/81, BFH/NV 1987, 693).

bb) Soweit sich die Klägerinnen auf die lange Dauer ihres Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelverfahrens berufen, sprechen gegen den mit dem Hauptantrag begehrten Erlaß nicht nur die regelmäßig im Erlaßverfahren zu berücksichtigende Erwägung, daß die Einziehung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis grundsätzlich nicht als unbillig angesehen werden kann, sondern auch die ebenfalls zu berücksichtigenden schutzwürdigen Interessen der öffentlichen Hand (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 227 AO 1977, Tz. 11 f.).

3. Die Vorentscheidung ist auch insoweit frei von Rechtsfehlern, als das FG die Klage zum Hilfsantrag abgewiesen hat, mit dem die Klägerinnen außer der Aufhebung der finanzbehördlichen Entscheidungen begehren, daß das FA zur Neubescheidung des Erlaßantrages verpflichtet wird. Denn das FG hat zu Recht und mit zutreffender Begründung angenommen, daß die Abwägung des Für und Wider durch die OFD keine Ermessensfehler aufweist.

a) Die diesbezüglichen Erwägungen der OFD sind in der Beschwerdeentscheidung wie folgt dargelegt: Die Verzinsung ausgesetzter Beträge sei in § 237 AO 1977 eindeutig geregelt. Die Zinsen entständen kraft Gesetzes. Überlegungen in der Hinsicht, ob sich der Gesetzgeber möglicher Härten im Einzelfall bewußt gewesen sei, seien nicht erforderlich. Es stehe nämlich einem Steuerpflichtigen frei, in einem Rechtsbehelfsverfahren Vollziehungsaussetzung zu beantragen. Wähle er diesen Weg, so nehme er das Zinsrisiko bewußt in Kauf. Soweit sich die Klägerinnen wegen der langen Prozeßdauer an der Höhe der Zinsen stießen, sei ihnen entgegenzuhalten, daß für die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens die Entrichtung der Umsatzsteuer hinausgeschoben worden sei. Der damit verbundene Zinsvorteil für rd. zwölf Jahre sei den Klägerinnen zuzurechnen. Wenn dieser Vorteil nachträglich durch die Aussetzungszinsen gemindert, egalisiert oder gar übertroffen werde, so liege darin kein sachlicher Erlaßgrund i.S. der §§ 227, 234 AO 1977.

b) Hierauf ist das FG im Rahmen seiner der Klageabweisung zum Hilfsantrag gewidmeten Entscheidungsgründe (S. 13 f. der Vorentscheidung) zwar nicht ausdrücklich eingegangen. Es hat jedoch in dem den Hauptantrag betreffenden Teil der Entscheidungsgründe ausgeführt (S. 12 f. der Vorentscheidung), die Festsetzung der für die Dauer des Prozesses angefallenen Aussetzungszinsen bedeute keine unzumutbare Belastung der Klägerinnen. Eine festgesetzte Steuer sei an sich bei Fälligkeit zu entrichten. Wer der Zahlungspflicht nicht nachkommen wolle und die Aussetzung der Vollziehung erwirke, nehme als angemessenen Ausgleich für die ihm dadurch entstehenden Vorteile die Zahlung von Aussetzungszinsen in Kauf.

Hieraus geht hervor, daß das FG sich mit den Überlegungen der OFD auseinandergesetzt, sie geprüft und als ermessensfehlerfrei gebilligt hat.

c) Die Billigung der von der OFD zur Erlaßablehnung angestellten Erwägungen durch das FG hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das FG hat zutreffend angenommen, daß die OFD keinen in Betracht kommenden Erlaßgrund übergangen und daß sie ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

aa) Von der OFD ist nicht übersehen worden, daß der Billigkeitserlaß vor allem dazu bestimmt ist, einem ungewollten Überhang gesetzlicher Tatbestände entgegenzuwirken (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 227 Tz. 7 m.w.N.). Die OFD hat ferner nicht verkannt, daß daneben auch andere Vorschriften sowie allgemeine Rechtsgrundsätze maßgebend sein können (vgl. BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, unter II.2. m.w.N., BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489; Tipke/Kruse, a.a.O., § 5 Tz. 21 und 25 ff., insbesondere 31).

bb) Die OFD brauchte den Erlaß schließlich nicht im Hinblick darauf zu gewähren, daß die Klägerinnen geltend machen, das der Festsetzung der Aussetzungszinsen zugrunde liegende Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelverfahren wegen der Umsatzsteuer 1959 habe bei weitem die vertretbare Dauer überschritten, und daß sie sich insoweit auf die Menschenrechtskonvention sowie auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen.

Nach Art. 6 Nr. 1 Satz 1 der Menschenrechtskonvention, soweit die Bestimmung hier von Interesse ist, hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache innerhalb angemessener Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das u.a. über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat. Hieraus ergibt sich, daß das den Verfahrensabschluß betreffende Beschleunigungsgebot (".... innerhalb einer angemessenen Frist ....") für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen gilt. Ob auch ein finanzgerichtlicher Prozeß wegen der Rechtmäßigkeit einer Umsatzsteuerfestsetzung als eine Streitsache über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen angesehen werden kann (vgl. zur Auslegung der zitierten Bestimmung: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 6 Rdnr. 7 ff.; Kirchhof in Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 439 ff., 456 f.; Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, 1966, S. 141 ff.; Peukert, Europäische Grundrechte Zeitschrift - EuGRZ - 1979, 261 ff., 266 f.; Stöcker, Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1989, 367 dd., 368 f.), bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn selbst bei Verletzung der Bestimmung des Art. 6 Nr. 1 Satz 1 der Menschenrechtskonvention wäre der beantragte Erlaß der Aussetzungszinsen, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergibt, nicht geboten.

Nach der vorbezeichneten Grundrechtsvorschrift steht einem durch die öffentliche Gewalt Verletzten der Rechtsweg offen. Hierdurch wird verfassungsrechtlich ein wirksamer Rechtschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt gewährt, und zwar auch demjenigen, der bloß glaubt, durch die öffentliche Gewalt verletzt zu sein. Die Einbeziehung der Wirksamkeit des Rechtsschutzes in die Garantie gebietet, daß der Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit zu gewähren ist (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 28. Oktober 1975 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74, BVerfGE 40, 237 ff., 256 f.; vom 16. Dezember 1980 2 BvR 419/80, BVerfGE 55, 349 ff., 369; vom 29. April 1981 2 BvR 348/81, EuGRZ 1982, 75; vom 22. Januar 1987 1 BvR 103/85, Der Betrieb - DB - 1987, 1722; vom 20. Mai 1988 1 BvR 273/88, unter 5 a, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz 1975, § 5 Rücklage Rechtsspruch 2; siehe auch: Kirchhof, a.a.O., S. 448 ff. und in DStZ 1989, 55 ff., 57 f.; Maunz/Dürig/Herzog/Scholtz, Grundgesetz, Art. 19 IV Rdnr. 262 f.).

Selbst wenn, wie die Klägerinnen geltend machen, ihr Anspruch auf Rechtsschutzgewährung innerhalb angemessener Zeit verletzt worden wäre, konnte die OFD ermessensfehlerfrei den Standpunkt einnehmen, mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen sei deren Erlaß nicht geboten. Dementsprechend durfte die OFD von der Ermittlung absehen (vgl. zu den Ermittlungspflichten BFH-Urteile vom 25. März 1988 III R 186/84, BFH/NV 1989, 426, unter 2.b; vom 2. Juli 1986 I R 5/83, BFH/NV 1987, 684, unter 2.; in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, unter II.2., und vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BFHE 139, 146, BStBl II 1983, 672, unter II.2.), ob und inwieweit die angemessene Frist überschritten worden ist sowie ob und inwieweit die lange Verfahrensdauer ganz oder teilweise auf das Verhalten der Klägerinnen zurückzuführen ist (siehe hierzu: Kirchhof in Doehring-Festschrift, a.a.O., S. 446 und in DStZ, a.a.O., S. 56 f.).

Sofern nicht im Einzelfall ein konkreter Schaden geltend gemacht wird, kommt bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung als Sanktion in Betracht, daß die sofortige Vollziehbarkeit des angefochtenen Steuerbescheides (vgl. § 361 Abs. 1 AO 1977 und § 69 Abs. 1 FGO) aufgehalten wird (vgl. Kirchhof in Doehring-Festschrift, a.a.O., S. 452 f., und in DStZ, a.a.O., S. 59). Der hierin liegende Vorteil ist den Klägerinnen für die gesamte Verfahrensdauer durch Gewährung der Aussetzung der Vollziehung zuteil geworden.

Eine weitere Sanktion durch teilweisen Erlaß der Aussetzungszinsen ist aus dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie nicht geboten, ebenfalls nicht vom Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen her. Die Erhebung von Aussetzungszinsen soll zum einen verhindern, daß durch Anfechtungsklagen "ohne ernsthafte Erfolgsaussichten", verbunden mit einer gleichwohl erlangten Aussetzung der Vollziehung, die Abgabenentrichtung zinslos hinausgeschoben wird. Zum anderen sollen der Zinsnachteil des Steuergläubigers, der den Abgabenbetrag nicht schon bei Fälligkeit, sondern erst nach Beendigung der Aussetzung der Vollziehung erhält, und der Zinsvorteil des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 128, 331, BStBl II 1979, 712). Beide vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke behalten auch in denjenigen Fällen ihre Berechtigung, in denen ohne Hinzutun des Steuerpflichtigen die angemessene Verfahrensdauer überschritten wird, und zwar auch für die Zeitspanne zwischen dem zeitlich angemessenen und dem tatsächlichen, späteren Prozeßende.

Soweit es um den Zweck des Ausgleichs geht, ist folgendes zu berücksichtigen: Zinsvorteil und - nachteil werden nicht im Einzelfall genau errechnet, sondern pauschal ermittelt; dies kommt im festen Zinssatz für die Berechnung der Aussetzungszinsen zum Ausdruck. Aufgrund der Höhe des Zinssatzes läßt sich nicht ausschließen, daß es für den Steuerpflichtigen auch in Prozessen mit überlanger Verfahrensdauer trotz der Aussetzungszinsen sogar vorteilhaft sein kann, von dem ihm eingeräumten Zahlungsaufschub Gebrauch zu machen, und daß er - im Unterschied zum Steuergläubiger, dem entsprechende Einflußmöglichkeiten auf den Zahlungseingang und damit auf den Zinslauf fehlen - anderenfalls die Steuer vor Beendigung der Aussetzung der Vollziehung entrichten könnte. Schließlich ist anzuführen, daß der pauschalierten Vornahme des Ausgleichs zwischen Zinsvorteil und - nachteil der Gedanke einer Kompensation unter den einzelnen Zinsberechnungsabschnitten als wichtiges Element zugehört.