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  BFH-Urteil vom 26.3.1991 (VII R 15/89) BStBl. 1991 II S. 552

Die Ablehnung einer nach § 130 Abs. 1 AO 1977 beantragten Zurücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakts ist in der Regel dann ermessensfehlerfrei, wenn der Betroffene zur Begründung seines Antrags nur solche Umstände vorträgt, die er bei fristgerechter Einlegung des statthaften Rechtsmittels im Rechtsbehelfsverfahren vorzubringen in der Lage gewesen wäre.

AO 1977 §§ 5, 130 Abs. 1; FGO § 102.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

I.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) als Haftungsschuldner für Umsatzsteuerschulden des Jahres 1978 einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) in Anspruch. Eine Steuerfestsetzung gegenüber der GbR war nicht erfolgt. Das FA ging davon aus, daß der Kläger gemeinsam mit dem Schweizer Staatsbürger X. eine GbR betrieben habe, deren Gesellschaftszweck in der Vermittlung eines Tennisprojekts auf Teneriffa sowie der Vermittlung des Grundstückskaufs bestanden habe. Es legte seiner Steuerberechnung eine der Höhe nach zwischen den Beteiligten unstreitige Provisionszahlung zugrunde.

Die gegen diesen Haftungsbescheid erhobene Klage nahm der Kläger wegen Versäumung der Klagefrist zurück. Er beantragte beim FA die Aufhebung des Haftungsbescheides wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit. Das FA lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Haftungsbescheid sei rechtmäßig. Hilfsweise wies es darauf hin, daß eine andere Entscheidung auch nicht bei einer Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides getroffen worden wäre. Es sei nicht Sinn und Zweck des § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), versäumte Rechtsbehelfsfristen zu umgehen.

Nach erfolglosem Einspruch erhob der Kläger Klage mit dem Begehren, das FA zu verpflichten, den Haftungsbescheid zurückzunehmen. Das Finanzgericht (FG) verurteilte das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides und der Einspruchsentscheidung, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Zur Begründung führte das FG aus: Der Haftungsbescheid sei nicht nichtig gewesen. Es sei zweifelhaft, ob zwischen dem Kläger und X. ein Gesellschaftsverhältnis bestanden habe. Das Nichtbestehen eines Gesellschaftsverhältnisses sei jedoch keineswegs offenkundig i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977. Der Haftungsbescheid sei aber entgegen der vom FA in dem Ablehnungsbescheid vertretenen Auffassung und in Übereinstimmung mit den Ausführungen im Urteil .... insoweit rechtswidrig gewesen, als darin ohne weiteres von Inlandsumsätzen ausgegangen worden sei. Der Betriebsprüfungsbericht (Bp-Bericht), der auf ihm aufbauende Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung gäben für die Annahme, der Ort der sonstigen Leistung habe im Inland gelegen, keinerlei tatsächliche Feststellungen an. Dies ergebe sich deutlich aus dem Bp-Bericht, in dem die angeblichen Feststellungen des Prüfers mit dem Hinweis endeten, daß Unterlagen von der GbR nicht vorgelegt worden seien. Der Haftungsbescheid leide hiernach an einem grundsätzlichen und erheblichen Mangel der Rechtsanwendung, nämlich der Feststellung bzw. Mitteilung des zu subsumierenden Sachverhalts. Danach sei davon auszugehen, daß der Haftungsbescheid rechtswidrig sei. Auch die hilfsweisen Ausführungen des FA darüber, daß bei einem rechtswidrigen unanfechtbaren Verwaltungsakt die Finanzbehörde "in der Regel" nicht fehlerhaft handele, wenn sie die Rücknahme ablehne, entsprächen nicht dem Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung. Dem FA sei eine Ermessensunterschreitung unterlaufen. Die Entscheidung des FA würde dazu führen, daß "in der Regel" Haftungsbescheide mit der erhöhten Bestandskraft von Steuerbescheiden versehen würden. Dieses Ergebnis liefe der Wertung der AO 1977 zuwider.

Seine vom FG zugelassene Revision stützt das FA auf Verfahrensmängel und die Verletzung materiellen Rechts und führt aus:

Die Meinung des FG, daß das FA im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977, wonach ein rechtswidriger bestandskräftiger Verwaltungsakt zurückgenommen werden könne, die öffentlichen Interessen gegeneinander abzuwägen habe, widerspreche dem Interesse an einem effektiven Verwaltungshandeln. Die Vorschrift könne nur so ausgelegt werden, daß der Verwaltung die Möglichkeit gegeben werde, einen unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt aufzuheben, wenn sich seine Rechtswidrigkeit durch die Entwicklung der Verhältnisse ergebe.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Die Klage ist unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Der Senat kann die Frage offenlassen, ob der Haftungsbescheid, dessen Zurücknahme der Kläger begehrt, rechtswidrig ist. Denn selbst wenn zu Lasten des FA und in Übereinstimmung mit der Vorentscheidung die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides angenommen wird, ist die Ablehnung der Zurücknahme des Haftungsbescheides durch das FA rechtmäßig. Die Entscheidung der Behörde, ob sie einen rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakt zurücknimmt, steht gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977 in ihrem Ermessen. Das FA war sich im Streitfall bewußt, daß es eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte, und hat sein Ermessen, hilfsweise für den Fall der Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides, dahin ausgeübt, daß es eine Zurücknahme ablehnte. Die vom FA für seine Entscheidung angeführten Gründe halten entgegen der Ansicht der Vorentscheidung einer Überprüfung im Rahmen des § 102 FGO stand.

1. Der Senat hat, soweit die Änderung bestandskräftiger Bescheide im Ermessen der Verwaltung steht, entschieden, daß die Ablehnung der Zurücknahme eines bestandskräftigen Bescheids in der Regel nicht als ermessensfehlerhaft angesehen werden kann, wenn der Betroffene in der Lage war, die Gründe, die nach seiner Auffassung eine Rücknahme rechtfertigen, bei fristgerechter Einlegung des statthaften Rechtsmittels vorzubringen. Mit dieser Begründung kann eine Zurücknahme oder Berichtigung nur dann nicht abgelehnt werden, wenn vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte (vgl. Senatsurteile vom 27. Mai 1982 VII R 30/80, BFHE 136, 433, 435, zu § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977; vom 9. Juli 1985 VII R 108/83, BFH/NV 1986, 441, zu §§ 130, 172 AO 1977; Senatsbeschluß vom 18. November 1986 VII S 16/86, BFH/NV 1987, 669, zu § 130 Abs. 1 AO 1977).

Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest. Sie steht im Einklang mit der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) zu § 48 VwVfG (§ 44 des Entwurfs), der in seinem Wortlaut § 130 Abs. 1 AO 1977 entspricht. Zur Zurücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte ist ausgeführt, daß eine ermessensmißbräuchliche Entscheidung der Behörde bei Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes immer dann ausgeschlossen sein wird, wenn der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden, die Sach- und Rechtslage seit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit unverändert geblieben und keine Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S. des § 51 VwVfG (§ 47 des Entwurfs) gegeben sind (vgl. BTDrucks 7/910, S. 69). Nach § 51 VwVfG hat die Behörde auf Antrag über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn

1. sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat,

2. neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden,

3. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozeßordnung gegeben sind.

Soweit die Vorinstanz demgegenüber die Ansicht vertritt, daß eine Regel des oben angeführten Inhalts für die Ausübung des nach § 130 Abs. 1 AO 1977 gewährten Ermessens im Wortlaut des Gesetzes selbst nicht zum Ausdruck gekommen ist, kann dies schon deshalb nicht das maßgebende Kriterium sein, weil in § 130 Abs. 1 AO 1977 ausdrücklich überhaupt keine Grundsätze für die Ausübung des Ermessens aufgestellt worden sind. Die Behörde muß sich daher bei ihrer Ermessensausübung gemäß der in § 5 AO 1977 für alle Ermessensvorschriften getroffenen Regelung an dem Zweck der Ermächtigung orientieren. Da der Gesetzgeber - anders als z.B. in § 44 des Sozialgesetzbuches X - die Zurücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nicht für obligatorisch erklärt hat, kann der Zweck der Ermessensermächtigung nur darin gesehen werden, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits als dem äußeren Rahmen für die Ausübung des durch § 130 Abs. 1 AO 1977 eingeräumten Ermessens eine Abwägung zu treffen. Es ist bei der nach § 102 FGO nur in eingeschränktem Umfang zulässigen gerichtlichen Überprüfung einer Ermessensentscheidung jedenfalls nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen, wenn die Behörde dem Rechtsfrieden und damit der aufgrund gesetzlicher Regelungen eingetretenen Bestandskraft des Verwaltungsakts grundsätzlich eine derart gewichtige Bedeutung beimißt, daß sie die Zurücknahme ablehnt, wenn außer der von Anfang an vorliegenden Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zusätzlich nach Eintritt der Bestandskraft eingetretene oder bekanntgewordene Umstände geltend gemacht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Behörde bei einem Antrag auf Zurücknahme nach § 130 Abs. 1 AO 1977 ohnehin als Vorfrage zu prüfen hat, ob nicht ein besonders schwerwiegender und offenkundiger Fehler des Verwaltungsakts vorliegt, der seine jederzeit zu beachtende Nichtigkeit nach § 125 Abs. 1 AO 1977 begründet. Liegt ein die Nichtigkeit herbeiführender Mangel nicht vor, so unterschreitet die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen in der Regel nicht, wenn sie die ausschließlich wegen eines materiellen Mangels des Verwaltungsakts begehrte Zurücknahme ablehnt und sich auf den Standpunkt stellt, daß im allgemeinen nach ihrem Ermessen die materielle Rechtswidrigkeit nur in Verbindung mit weiteren Umständen die Zurücknahme rechtfertigt.

Nach alledem genügen die Ausführungen des FA im Ablehnungsbescheid vom 17. Februar 1984 und in der Einspruchsentscheidung den Anforderungen, die an die Begründung einer Ermessensentscheidung in dem Fall zu stellen sind, daß nur solche Gründe für den Antrag auf Zurücknahme vorgetragen werden oder sonst ersichtlich sind, die bereits im Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren hätten geltend gemacht werden können.

2. Soweit der VI. Senat des Bundesfinanzhofs im Urteil vom 9. März 1989 VI R 101/84 (BFHE 157, 1, BStBl II 1989, 749, 751) von einer fehlerfreien Ausübung des durch § 130 Abs. 1 AO 1977 eingeräumten Ermessens nur dann ausgeht, wenn die Behörde bei einer schlüssigen Darlegung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts durch den Steuerpflichtigen in eine Sachprüfung eintritt, sich also nicht auf einen Hinweis auf die Bestandskraft beschränkt, liegt darin im Ergebnis keine Abweichung von der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Der VI. Senat hat nämlich in dem von ihm entschiedenen Fall die Ablehnung der Rücknahme durch die Verwaltungsbehörden für ermessensfehlerfrei gehalten, ein Ergebnis, zu dem auch die Anwendung der vom entscheidenden Senat für maßgeblich gehaltenen Kriterien einer fehlerfreien Ermessensausübung im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977 geführt hätte.