| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 12.6.1991 (III R 106/87) BStBl. 1991 II S. 806

1. Hat der Kläger im Klageverfahren der Beiziehung der familiengerichtlichen Scheidungsakten widersprochen, verstößt das FG gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn es die Akten dennoch beizieht und ihren Inhalt seiner Entscheidung zugrunde legt, obwohl die Erhebung unmittelbarer Beweise möglich ist.

2. Ist die Erhebung des unmittelbaren Beweises nicht möglich, zulässig oder zumutbar, so sind die familiengerichtlichen Akten ohne das Einverständnis der Ehegatten nur beizuziehen, wenn dies im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebotes erforderlich ist (Beschluß des BVerfG vom 15. Januar 1970 1 BvR 13/68, BVerfGE 27, 344).

FGO § 81 Abs. 1 Satz 1.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) und seine von ihm im Jahre 1984 geschiedene Ehefrau waren seit 1966 verheiratet. Im Mai 1980 verließ die nicht berufstätige Ehefrau mit den gemeinsamen Kindern die Familienwohnung und bezog eine eigene Mietwohnung in L. Im Juli 1980 gab der Kläger die Familienwohnung auf und mietete ebenfalls eine eigene Wohnung in L. Nachdem der Kläger im August 1982 die Scheidung der Ehe beantragt hatte und eine Regelung über den nachehelichen Unterhalt von Ehefrau und Kindern getroffen worden war, wurde die Ehe im März 1984 geschieden.

Für das Streitjahr 1981 hatten die Kläger eine gemeinsame, von beiden unterschriebene Einkommensteuererklärung abgegeben und die getrennte Veranlagung beantragt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) führte aufgrund seiner Ermittlungen jedoch eine Einzelveranlagung für den Kläger durch. Der dagegen gerichtete Einspruch, mit dem der Kläger die Zusammenveranlagung mit seiner Ehefrau begehrte, führte lediglich zur Berücksichtigung einer Steuerermäßigung für den Unterhalt der Ehefrau.

Mit der Klage machte der Kläger weiter geltend, die Voraussetzungen der Zusammenveranlagung hätten vorgelegen. Im Streitjahr habe er seine Ehefrau regelmäßig besucht. Man habe die Kinder gemeinsam erzogen, über das verfügbare Einkommen disponiert und sich wiederholt bemüht, die Ehe zu retten. Erst nach mehreren gescheiterten Versöhnungsversuchen habe man sich im Herbst 1982 zur endgültigen Trennung entschlossen.

Nachdem der Kläger der Aufforderung, das Scheidungsurteil vorzulegen, nicht nachgekommen war und nur einzelne Schriftsätze aus dem Verfahren vor dem Familiengericht vorgelegt hatte, zog das Finanzgericht (FG) die Scheidungsakten bei, obwohl der Kläger einer Beiziehung und Verwertung der Akten widersprochen hatte. Diesen Akten entnahm das FG, daß der Kläger in einer Anhörung vor dem Familiengericht gemäß § 613 der Zivilprozeßordnung (ZPO) geäußert hatte, er habe seit dem Auszug seiner Ehefrau ununterbrochen von dieser getrennt gelebt und keine Versuche unternommen, wieder zusammenzufinden. Die geschiedene Ehefrau des Klägers hatte diese Angaben vor dem Familiengericht bestätigt.

Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, die objektiven Umstände der Auflösung des gemeinsamen Haushalts und der Anmietung jeweils eigener Wohnungen seien ein gewichtiges Indiz dafür, daß die Ehegatten seit dem Mai 1980 nicht nur vorübergehend getrennt gelebt hätten. Dies bestätige auch das übereinstimmende Vorbringen der Ehegatten im Scheidungsverfahren. Die beigezogenen Akten seien auch ohne das Einverständnis der geschiedenen Eheleute verwertbar, denn im finanzgerichtlichen Verfahren gelte das Amtsermittlungsprinzip. Im übrigen habe das Familiengericht vor Gewährung der Akteneinsicht nach § 299 ZPO geprüft, ob der Schutz der Intimsphäre einer Beiziehung der Akten durch das FG entgegenstehe. Nach dem ab 1. Juli 1977 geltenden Zerrüttungsprinzip sei der vertrauliche Inhalt von Scheidungsakten weitgehend entfallen. Jedenfalls könne dem FG nach dieser grundlegenden Änderung des Scheidungsrechts die Einsichtnahme in die Scheidungsakten aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr verweigert werden.

Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Verletzung formellen Rechts rügt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FG hat allein aus dem Umstand, daß die Eheleute ihre gemeinsame eheliche Wohnung aufgegeben hatten und aus den Äußerungen im Verfahren vor dem Familiengericht das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ehegattenveranlagung nach § 26 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) verneint. Es hat damit gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, der sich aus § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO ergibt, verstoßen. Danach hat das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung zu erheben. Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren dürfen zwar im Wege des Urkundenbeweises in den Prozeß eingeführt werden. Eine Beiziehung von Akten eines anderen Gerichts und eine Verwertung darin enthaltener Beweiserhebungen ist jedoch gegen den Widerspruch eines Beteiligten nicht zulässig, so lange die erneute Beweisaufnahme durch das Gericht selbst möglich ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 23. Januar 1985 I R 30/81, BFHE 143, 117, BStBl II 1985, 305 m.w.N.; ferner Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 81 FGO Anm. 6).

Das bloß mittelbare Beweismittel kann zulässigerweise nur verwendet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar erscheint (BFH in BFHE 143, 117, BStBl II 1985, 305). Aber auch in einem solchen Falle ist die Beiziehung der familiengerichtlichen Akten ohne das Einverständnis der Ehegatten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nur gerechtfertigt, wenn diese Maßnahme im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebotes erfolgt (vgl. Beschluß des BVerfG vom 15. Januar 1970 1 BvR 13/68, BVerfGE 27, 344). Dieser Güterabwägung kann sich das die Akten beiziehende FG nicht mit der Begründung entziehen, das Familiengericht habe vor Gewährung der Akteneinsicht nach § 299 ZPO geprüft, ob der Schutz der Intimsphäre einer Beiziehung der Akten entgegenstehe. Denn die bloße Glaubhaftmachung eines rechtlichen Interesses kann nicht den Anforderungen genügen, von denen das BVerfG die Beiziehung familiengerichtlicher Akten gegen den Willen der Beteiligten abhängig gemacht hat (BVerfGE 27, 344).

Entgegen der Auffassung des FG sieht der Senat auch keine Veranlassung, im Hinblick auf das seit dem 1. Juli 1977 geltende Ehescheidungsrecht von den dargelegten Grundsätzen abzuweichen. Das FG hat hierzu zwar ausgeführt, nach der Einführung des Zerrüttungsprinzips sei der vertrauliche Inhalt von Scheidungsakten weitgehend entfallen. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Eheleuten sind jedoch auch nach der grundlegenden Reform des Ehescheidungsrechts von entscheidender Bedeutung, wenn es etwa um die Anwendung der Härteklauseln der §§ 1565 Abs. 2, 1568 des Bürgerlichen Gesetzbuches geht.

Im Streitfall hat das FG gegen den Widerspruch des Klägers dessen Äußerungen im Ehescheidungsverfahren zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und sich seine Überzeugung nicht in einer unmittelbaren Beweiserhebung gebildet. Die angefochtene Entscheidung konnte daher keinen Bestand haben. Die Sache geht an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück. Dabei wird das FG den Behauptungen des Klägers nachzugehen haben, die Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft der Ehegatten habe auch noch im Streitjahr bestanden und man habe mehrere Versöhnungsversuche unternommen. Zu diesem Zweck bietet sich eine Beweisaufnahme durch Vernehmung der früheren Ehefrau oder die Anhörung des Klägers als Beteiligten an.

Nach der Rechtsprechung des VI. Senats des BFH können die Erklärungen der Ehegatten vor dem Familiengericht zwar ein wichtiges Indiz für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzung des nicht dauernden Getrenntlebens sein (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 VI R 190/82, BFHE 145, 549, BStBl II 1986, 486). Im Streitfall hat das FG jedoch zunächst zu prüfen, ob die Beiziehung der familiengerichtlichen Akten im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt war. Sind diese Voraussetzungen, wie für den Regelfall anzunehmen, nicht erfüllt, so besteht ein Verwertungsverbot für die Tatsachen, die sich aus den unzulässigerweise beigezogenen Akten ergeben. Das FG kann auch aus der Weigerung des Klägers, sein Einverständnis zur Beiziehung der Akten zu erklären, nicht ohne weiteres nachteilige Folgerungen für den Kläger ziehen. Im Falle eines non liquet wird das FG jedoch den Tatbestand des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG zu verneinen haben. Denn für die Voraussetzung des nicht dauernden Getrenntlebens i.S. des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG trifft die Ehegatten die Feststellungslast (Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 9. Aufl., § 26 Anm. 5).