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  BFH-Urteil vom 2.10.1991 (II R 153/88) BStBl. 1992 II S. 274

Bei der Schätzung des gemeinen Werts nichtnotierter Anteile an Kapitalgesellschaften nach dem sog. Stuttgarter Verfahren sind latente Belastungen der stillen Reserven eines Versicherungsunternehmens mit der Verpflichtung, einen Teil der laufenden Überschüsse an die Versicherungsnehmer auszukehren, nicht zu berücksichtigen.

BewG 1965 § 11 Abs. 2, § 9.

Vorinstanz: FG Hamburg (EFG 1989, 8)

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine AG, betreibt ein Lebensversicherungsunternehmen. Ihr voll eingezahltes Grundkapital in Höhe von .... DM wurde am streitigen Stichtag (31. Dezember 1972) allein von dem Beigeladenen gehalten.

Die Versicherungsnehmer waren nach Maßgabe der von der Aufsichtsbehörde genehmigten Geschäftspläne an den von der Klägerin erzielten Überschüssen beteiligt. Ausweislich § .... der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der Klägerin waren mindestens 90 v. H. des von der Gesellschaft in einem Geschäftsjahr erzielten Überschusses in die Rückstellung für Beitragsrückerstattung (RfB) einzustellen. Die einzelnen Lebensversicherungsarten (z. B. Kapital- und Risikoversicherungen; Rentenversicherungen, Zusatzversicherungen) bildeten jeweils gesonderte "Gewinnverbände". Für jeden der .... Gewinnverbände bestand ein gesonderter Geschäftsplan. Nach den Geschäftsplänen A bis .... waren 90 v. H. und nach den Geschäftsplänen K bis .... 85 v. H. der Überschüsse der Gewinnreserve des jeweiligen Gewinnverbandes zuzuführen. Den Gewinnreserven durften Beträge, die nicht zur Ausschüttung von Gewinnanteilen der Versicherten erforderlich waren, nur mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde entnommen werden.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Januar 1979 stellte das Finanzamt (FA) den gemeinen Wert der Anteile an der Klägerin auf den 31. Dezember 1972 nach dem sog. Stuttgarter Verfahren mit 361 v. H. für je 100 DM des Grundkapitals fest. Dabei legte es der Berechnung des Vermögenswerts (vgl. Abschn. 77 der Vermögensteuer-Richtlinien - VStR - 1972) ein Vermögen von .... DM zugrunde.

Nach erfolglosem Einspruch begehrte die Klägerin mit ihrer Klage, das der Ermittlung des Vermögenswerts zugrundeliegende Vermögen um einen zusätzlichen Abschlag in Höhe von .... DM zu vermindern....

Zur Rechtfertigung dieses Abschlags führte die Klägerin an, es müsse dem Umstand Rechnung getragen werden, daß sie ausweislich ihrer aufsichtsbehördlich genehmigten Geschäftspläne 85 v. H. bzw. 90 v. H. der aus dem laufenden Geschäftsbetrieb erzielten Überschüsse über die RfB an ihre Versicherungsnehmer auszukehren gehabt habe. Den Versicherungsnehmern habe damit auch ein entsprechender Anspruch auf die in ihrem - der Klägerin - Unternehmen ruhenden stillen Reserven zugestanden.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1989, 8 veröffentlichten Urteil ab.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den angefochtenen Feststellungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung mit der Maßgabe abzuändern, daß der gemeine Wert der Anteile auf den 31. Dezember 1972 auf 225 DM für je 100 DM des Grundkapitals festgestellt werde.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

1. Anteile an Kapitalgesellschaften, für die ein Kurswert i. S. von § 11 Abs. 1 BewG nicht besteht, sind gemäß § 11 Abs. 2 des Bewertungsgesetzes (BewG) mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Liegen - wie im Streitfall - zeitnahe Verkäufe, aus denen der gemeine Wert abgeleitet werden könnte, nicht vor, so ist dieser Wert unter Berücksichtigung des Vermögens und der Ertragsaussichten der Gesellschaft zu schätzen (§ 11 Abs. 2 Satz 2 BewG). Diese Schätzung erfolgt nach dem in Abschn. 76 ff. VStR 1972 geregelten Stuttgarter Verfahren, das der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung als ein geeignetes Schätzungsverfahren anerkannt hat, soweit es nicht in Ausnahmefällen zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt (vgl. z. B. Urteile vom 6. März 1991 II R 18/88, BFHE 164, 91, BStBl II 1991, 558, und vom 28. März 1990 II R 108/85, BFHE 159, 568, BStBl II 1990, 493).

2. In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat es das FG zu Recht abgelehnt, den von der Klägerin begehrten Abschlag bei der Ermittlung des Vermögenswerts zu berücksichtigen.

a) Zutreffend hat das FG angenommen, daß sich der Vermögenswert der Anteile an der Klägerin nach den Regeln des Abschn. 77 VStR 1972 bemißt. Ausgangspunkt der danach maßgeblichen tatsächlichen Werte der am streitigen Stichtag vorhandenen Wirtschaftsgüter ist - aus Praktikabilitätsgründen - der Einheitswert des Betriebsvermögens (Abschn. 77 Abs. 1 Satz 2 VStR 1972). Dieser kann freilich für die Anteilsbewertung nicht unbesehen übernommen werden. Er bedarf vielmehr einer Korrektur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Diese Korrektur darf allerdings nicht dazu führen, daß am streitigen Stichtag noch nicht vorhandenes, erst künftig entstehendes (Aktiv- oder Passiv-) Vermögen bei der Vermögenswertermittlung berücksichtigt wird. Wie das FG zu Recht bemerkt hat, dient die Schätzung des gemeinen Werts der Anteile dem Zweck, einen Steuerwert zu ermitteln. Dies gebietet es, die Grundsätze des Bewertungsrechts und damit insbesondere das Stichtagsprinzip zu beachten (Senatsurteil vom 13. August 1986 II R 213/82, BFHE 147, 531, BStBl II 1987, 48, 50, unter 2., m. w. N.). Hiernach dürfen sich bei der Ermittlung des Vermögenswerts nur solche Verhältnisse und Gegebenheiten auswirken, die im Bewertungszeitpunkt so hinreichend konkretisiert sind, daß mit ihnen als Tatsache zu rechnen ist. Daraus folgt, daß bei der Ermittlung des Vermögenswerts nur entstandene Schulden oder wenigstens ausreichend begründete Verhältnisse für ein Leistungsgebot berücksichtigt werden dürfen (vgl. BFH-Urteil vom 2. Oktober 1981 III R 27/77, BFHE 134, 167, BStBl II 1982, 8, 9, unter 2.a). Alles andere liefe auf die unzulässige Ermittlung des künftigen und nicht des allein maßgeblichen, am streitigen Stichtag vorhandenen Vermögens hinaus.

b) Dementsprechend hat es der BFH in ständiger Rechtsprechung abgelehnt, die in den stillen Reserven des (steuerbilanziellen) Betriebsvermögens enthaltene latente Ertragsteuerbelastung bei der Ermittlung des Vermögenswerts abzusetzen (Urteile vom 9. September 1966 III 263/63, BFHE 87, 108, BStBl III 1967, 43; vom 18. Dezember 1968 III R 135/67, BFHE 95, 266, BStBl II 1969, 370; vom 20. Dezember 1968 III R 122/67, BFHE 95, 280, BStBl II 1969, 373; vom 20. Oktober 1978 III R 31/76, BFHE 126, 227, BStBl II 1979, 34; in BFHE 134, 167, BStBl II 1982, 8). Nichts anderes kann für die hier in Rede stehende latente Belastung der stillen Reserven mit der geschäftsplanmäßigen Verpflichtung der Klägerin gelten, einen Teil der bei der künftigen Auflösung der stillen Reserven entstehenden Erträge in die RfB einzustellen und in der Folgezeit an die Versicherten auszuschütten.

Denn auch hier bestand am Bewertungsstichtag Ungewißheit darüber, ob, wann und in welcher Höhe die vor dem Stichtag in der Steuerbilanz gebildeten stillen Reserven ertragswirksam aufgelöst werden würden. So war am streitigen Stichtag offen, wann die Klägerin Realisationstatbestände (z. B. Veräußerungen der betreffenden Wirtschaftsgüter) verwirklichen würde. Eine solche Verwirklichung war im übrigen weitgehend in ihr Belieben gestellt (vgl. auch Urteil in BFHE 87, 108, BStBl III 1967, 43, 44). Offen war überdies auch, ob die im Bewertungszeitpunkt bestehenden stillen Reserven bei der künftigen Verwirklichung eines Realisationstatbestands noch vorhanden sein würden, oder ob sie sich nicht vielmehr im Realisationszeitpunkt infolge zwischenzeitlich eingetretener Wertminderungen (z. B. Kursverluste bei Wertpapieren) bereits verflüchtigt haben würden. Offen war ferner, ob die ertragswirksame Auflösung etwa vorhandener stiller Reserven trotz Vorliegens eines Realisationstatbestands durch die Bildung einer steuerfreien Rücklage oder durch die Übertragung auf andere Wirtschaftsgüter (z. B. nach § 6 b des Einkommensteuergesetzes - EStG -) vermieden werden würde, oder ob ein durch die Aufdeckung von stillen Reserven realisierter Ertrag durch Verluste in anderen Bereichen werde ausgeglichen werden können.

Hinzutreten folgende weitere Unwägbarkeiten, auf die bereits das FG mit Recht hingewiesen hat: Angesichts der mit Zustimmung des Bundesaufsichtsamts für Versicherungswesen (BAV) möglichen Änderung des § .... AVB stand am streitigen Stichtag keineswegs fest, welcher genaue Anteil der künftig erzielten Erträge der RfB zuzuführen war. Auch ergab sich aus der Verpflichtung der Klägerin, einen bestimmten Anteil der künftigen Erträge in die RfB einzustellen, nicht die zwangsläufige Folge, diese Beträge (in voller Höhe) an die Versicherten auszuschütten (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 8. Juni 1983 IV a ZR 150/81, Versicherungsrecht - VersR - 1983, 746).

Diese Unwägbarkeiten belegen, daß in bezug auf die hier streitige latente Belastung der stillen Reserven mit möglichen künftigen Verpflichtungen der Klägerin gegenüber ihren Versicherten von bereits am Bewertungsstichtag hinlänglich konkretisierten Verhältnissen, mit denen als Tatsache zu rechnen war, nicht die Rede sein kann. Dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob die stillen Rücklagen beim abnutzbaren oder nichtabnutzbaren Anlage- oder beim Umlaufvermögen gelegt sind. Eine hinsichtlich der einzelnen Vermögensteile unterschiedliche Beurteilung verbietet insbesondere die mit der Anwendung des Stuttgarter Verfahrens angestrebte Praktikabilität der Anteilsbewertung (Urteil in BFHE 134, 167, BStBl II 1982, 8, 10, betr. die latente Ertragsteuerbelastung).

Die genannten Unwägbarkeiten lassen sich auch nicht mit den Behauptungen der Klägerin in Abrede stellen, eine Aufdeckung der stillen Rücklagen sei bereits aus Wettbewerbsgründen vonnöten bzw. wirtschaftlich sinnvoll gewesen, die Inanspruchnahme des § 6 b EStG stelle bei Versicherungsunternehmen die Ausnahme dar, ein Ausgleich der aus der Auflösung stiller Reserven resultierenden Erträge mit Verlusten scheide infolge der versicherungstechnischen Besonderheiten aus und eine Änderung der geschäftsplanmäßigen Verpflichtungen komme deswegen nicht in Betracht, weil das BAV einer solchen Änderung nicht zustimmen würde. Abgesehen davon, daß diese Einwendungen lediglich einen Teil der aufgezeigten Unwägbarkeiten betreffen und selbst insoweit die bestehenden Ungewißheiten allenfalls partiell zu entkräften vermögen, handelt es sich hierbei um unternehmens- und branchenspezifische Besonderheiten, die im Rahmen des typisierenden, auf Praktikabilität bedachten und grundsätzlich für Gesellschaften aller Wirtschaftszweige geltenden Stuttgarter Verfahrens nicht berücksichtigt werden können. Gewisse in diesem objektivierten Bewertungsverfahren liegende Unebenheiten müssen im Interesse seiner praktikablen Handhabung im Massenverfahren hingenommen werden (vgl. auch Urteil in BFHE 95, 266, BStBl II 1969, 370, 372, linke Spalte). Ihnen wirken im übrigen die pauschalen Abschläge (vgl. z. B. Abschn. 77 Abs. 5 VStR 1972) entgegen.

Ebenfalls nicht zu überzeugen vermag das Argument der Klägerin, die Berücksichtigung der stillen Reserven bei der Ermittlung des Vermögenswerts habe zwangsläufig zur Konsequenz, daß auch die latente Belastung der stillen Reserven berücksichtigt werden müsse. Hierbei wird übersehen, daß die Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens, auch soweit ihr Ansatz in der Steuerbilanz stille Reserven in sich birgt, am Stichtag in Höhe ihres wirtschaftlichen Werts tatsächlich vorhanden sind (vgl. auch Urteil in BFHE 134, 167, BStBl II 1982, 8, 9, unter 2.a), wohingegen die latenten Belastungen dieser stillen Rücklagen mit Ertragsteuern oder den hier in Rede stehenden Verpflichtungen - wie dargelegt - von der noch in mehrfacher Hinsicht ungewissen Realisierung der stillen Reserven in der Zukunft abhängen und daher im Bewertungszeitpunkt als passive Vermögensposten noch nicht existieren. Ebensowenig wie als selbständige gegenwärtige Schuldposten können die besagten latenten Verpflichtungen als wertmindernde Eigenschaft der mit den stillen Reserven behafteten (aktiven) Wirtschaftsgüter begriffen werden. Denn sie stehen mit diesen Wirtschaftsgütern nicht in so engem Zusammenhang, daß sie als deren immanente Bestandteile anzusehen wären (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 95, 266, BStBl II 1969, 370, 371). Die latenten Verpflichtungen hängen von den künftigen Überschüssen des Unternehmens ab, die nicht allein von der Auflösung stiller Reserven, sondern von einer Vielzahl verschiedener - auch gegenläufig wirkender - Faktoren beeinflußt werden. Diese latenten Verpflichtungen belasten im übrigen nur die zukünftigen Erträge. Bei der Ermittlung des Ertragshundertsatzes sind die geschäftsplanmäßigen Verpflichtungen der Klägerin, einen Großteil der von ihr erzielten Überschüsse in die RfB einzustellen, dadurch berücksichtigt worden, daß der als zukünftiger Ertrag prognostizierte Durchschnittsgewinn der letzten drei Jahre vor dem Stichtag um die in diesem Zeitraum getätigten RfB vermindert wurde.