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BFH-Urteil vom 9.8.1991 (III R 24/87) BStBl. 1992 II S. 65

Ein Steuerpflichtiger handelt regelmäßig grob schuldhaft i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet. Daran vermag auch eine etwaige Verletzung der Aufklärungs- oder Fürsorgepflicht durch das FA nichts zu ändern.

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2; EStG § 33 a Abs. 2.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine mit ihm in den Streitjahren (1979 bis 1981) zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehefrau haben eine gemeinsame, im Jahr 1960 geborene Tochter. Diese besuchte 1978 und 1979 sowie bis zum 30. Juni 1980 ein Gymnasium. Anschließend absolvierte sie bis Juni 1981 ein Praktikum. Im weiteren Verlauf des Jahres 1981 begann sie mit dem Studium an einer Fachhochschule. Erhebliche eigene Einkünfte oder Bezüge hatte die Tochter bis 1980 nicht. Im Jahr 1981 verdiente sie während ihres Praktikums insgesamt 4.440 DM.

Der Kläger und seine Ehefrau haben die Steuererklärungen für die Jahre 1978 bis 1981 ohne Mithilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe angefertigt und jeweils persönlich beim zuständigen Veranlagungssachbearbeiter des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) abgegeben. Die auf dem amtlichen Vordruck gefertigten Erklärungen enthalten unter der Rubrik "Ausbildungsfreibetrag" (S. 4 des amtlichen Vordrucks, Zeilen 105 bis 108) keine Angaben. Auf S. 2 des Erklärungsvordrucks ist unter der Rubrik "Angaben zu Kindern" in allen Jahren die Tochter des Klägers sowie deren Geburtsdatum angegeben (Zeile 30 des Vordrucks). Unter der Rubrik "Zusätzliche Angaben zu Kindern, die vor dem .... geboren sind" (S. 2, Zeilen 42 ff. des Vordrucks) ist in den einzelnen Jahren folgendes ausgeführt:

1978:                         keine Angaben

1979:                         "Gymnasium 1.1.-31.12."

1980:                         "Gymnasium 1.1.-30.6. - Praktikum ...

                                   1.9.-31.12."

1981:                         "Praktikum ... 1.1.-30.6. 81,

                                 Studium Fachhochschule ... 1.10.-31.12. 81"

Das FA berücksichtigte bei der Steuerfestsetzung in allen Jahren für die Tochter des Klägers keinen Ausbildungsfreibetrag gemäß § 33 a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die entsprechenden Steuerbescheide wurden bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 14. Juli 1983 beantragte der Kläger, die Steuerfestsetzung zu ändern und Ausbildungsfreibeträge in Höhe von 1.000 DM (1978), 2.400 DM (1979 und 1980) sowie 360 DM (1981) steuermindernd zu berücksichtigen. Zur Begründung führte der Kläger aus, er habe die Ausbildungsfreibeträge bislang nicht geltend gemacht, weil er als Hilfsmittel bei der Erstellung der Einkommensteuererklärungen jeweils die Anleitung der Zeitschrift "...." verwendet habe. Aufgrund dieser Anleitung sei er der irrigen Ansicht gewesen, der Ausbildungsfreibetrag sei wegen Berücksichtigung der zumutbaren Belastung (§ 33 Abs. 3 EStG) für ihn ohne Bedeutung.

Das FA versagte - auch im Einspruchsverfahren - die begehrte Änderung der Steuerbescheide.

Die Klage hatte teilweisen Erfolg. Nach Ansicht des Finanzgerichts (FG) trifft den Kläger und seine Ehefrau zwar in allen Jahren ein Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) an den unvollständigen Angaben in den Erklärungsvordrucken. In den Streitjahren 1979 bis 1981 habe das FA jedoch seine Amtsermittlungspflicht verletzt; denn aus den zusätzlichen Angaben über die Tochter habe sich eine weitere Sachverhaltsaufklärung aufgedrängt. Das FA könne dem Kläger in den Jahren 1979 bis 1981 daher nicht dessen schuldhaftes Verhalten beim Ausfüllen der Erklärungsvordrucke vorhalten.

Im Jahr 1978 enthalte die vom Kläger gefertigte Erklärung allerdings keine Hinweise, aus denen sich eine Ermittlungspflicht für das FA ableiten lasse. Insoweit sei die Klage daher abzuweisen.

Mit der vom FG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

Es beantragt, das Urteil des FG - soweit es die Einkommensteuer 1979 bis 1981 betrifft - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, ihn treffe kein grobes Verschulden. Nach den Feststellungen des FG liege lediglich ein leicht fahrlässiges Verhalten vor. So habe er - der Kläger - durch die persönliche Abgabe seiner Steuererklärungen gerade solche Fehler vermeiden wollen, die ein steuerrechtlich nicht bewanderter Laie begehe.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

1. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Diese Voraussetzungen liegen - entgegen der Ansicht des FG - im Streitfall nicht vor.

a) Der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 steht allerdings nicht schon entgegen, daß der Kläger den Antrag, ihm für seine Tochter einen Ausbildungsfreibetrag nach § 33 a Abs. 2 EStG zu gewähren, erst nach Bestandskraft der für die Streitjahre ergangenen Einkommensteuerbescheide gestellt hat. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1989 III R 303/84 (BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960) entschieden hat, kann der Antrag für die Gewährung einer antragsgebundenen Steuerermäßigung grundsätzlich noch nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides nachgeholt werden. Wenn die übrigen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorliegen, muß der Einkommensteuerbescheid entsprechend geändert werden.

b) Das FG ist auch rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, daß dem FA eine Tatsache nachträglich bekanntgeworden ist.

Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117, m. w. N.). Im Streitfall sind die Einkommensverhältnisse der Tochter des Klägers in den Streitjahren derartige Tatsachen.

Diese Tatsachen sind dem FG auch erst nachträglich bekanntgeworden.

2. Den Kläger trifft am nachträglichen Bekanntwerden der Einkommensverhältnisse seiner Tochter jedoch ein grobes Verschulden.

a) Als grobes Verschulden i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn er die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (vgl. BFH-Urteile vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693, und in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960). Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen eine Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - von der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht. Dies hindert allerdings das Revisionsgericht nicht, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 21. April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann das Urteil des FG keinen Bestand haben.

Aus den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen, den erkennenden Senat damit bindenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) ergibt sich, daß der Kläger die in der Steuererklärung erforderlichen Angaben für die Gewährung des Ausbildungsfreibetrages im Hinblick auf die von ihm mißverstandenen Angaben in einer Zeitschrift bewußt unterlassen hat. Das FG ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, daß es als grob fahrlässig angesehen werden muß, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er z. B. unvollständige Steuererklärungen abgibt.

Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 müssen die Angaben in den Steuererklärungen nach bestem Wissen und Gewissen gemacht werden. Um eine Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muß ein Steuerpflichtiger das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Auch ein steuerrechtlich nicht ausgebildeter Laie handelt daher grob fahrlässig, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte und auch verstandene Frage nur deshalb nicht beantwortet, weil er der Ansicht ist, eine steuerliche Vergünstigung habe im Einzelfall keine Auswirkung. Die Fragen zum Ausbildungsfreibetrag im Steuererklärungsformular waren eindeutig und unmißverständlich. Um sich hier nicht dem Vorwurf grober Fahrlässigkeit auszusetzen, hätte der Kläger zumindest einen kurzen Hinweis an der entsprechenden Stelle im Erklärungsvordruck machen müssen.

Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf die in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960 veröffentlichte Entscheidung berufen. Anders als im dort entschiedenen Einzelfall ist der Ausbildungsfreibetrag nach § 33 a Abs. 2 EStG eine bereits seit vielen Jahren gewährte steuerliche Vergünstigung. Rechtliche Unsicherheiten über Anwendung und Auslegung dieser Vorschrift bestanden im Streitjahr nicht.

Im Gegensatz zur Ansicht des FG wird das einer Änderung der Steuerbescheide entgegenstehende grobe Verschulden des Klägers nicht durch eine mögliche Verletzung der Aufklärungs- oder Fürsorgepflicht des FA ausgeschlossen. Zweifelhaft ist schon, ob die Steuerbehörde bei der Ermittlung des im Streitfall steuerlich relevanten Sachverhalts überhaupt eine Pflichtverletzung begangen hat. Denn angesichts der klaren Fragestellungen zum Ausbildungsfreibetrag im Steuererklärungsvordruck konnte das FA möglicherweise davon ausgehen, daß ein Steuerpflichtiger den Ausbildungsfreibetrag wegen zu hoher Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht in Anspruch nehmen kann, wenn er dazu keine Angaben macht. Auch aus dem Umstand, daß der Kläger seine Steuererklärungen ohne Zuhilfenahme eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe selbst angefertigt und die ausgefüllten Formulare persönlich beim zuständigen Veranlagungssachbearbeiter des FA abgegeben hat, kann im Hinblick auf die steuerlichen Massenverfahren deshalb noch nicht auf eine Pflicht des FA geschlossen werden, den Kläger auf die Möglichkeit der Gewährung des Ausbildungsfreibetrages hinzuweisen. Der erkennende Senat braucht diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden.

Selbst wenn das FA seine Fürsorgepflicht dem Kläger gegenüber vernachlässigt hätte, würde dies nicht zu einem Ausschluß des Verschuldens des Klägers führen. Bei der Würdigung des Begriffs des groben Verschuldens hat das Verhalten des FA nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls dann außer Betracht zu bleiben, wenn ein Steuerpflichtiger eine Änderung der Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten begehrt (vgl. BFH-Urteile vom 9. März 1990 VI R 19/85, BFH/NV 1990, 619; vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789; vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161, jeweils m. w. N.). Es sind keine Gründe ersichtlich, die ein Abweichen von dieser auch in der Literatur vertretenen Ansicht (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 173 AO 1977 Tz. 32; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 173 Anm. 14 b; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl., S. 101) rechtfertigen würden. Die Voraussetzungen für eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerveranlagungen 1979 bis 1981 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 liegen somit nicht vor.

3. Das FG ist von anderen Voraussetzungen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Die Streitsache ist entscheidungsreif. Die Klage ist abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).