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  BFH-Urteil vom 16.10.1991 (I R 65/90) BStBl. 1992 II S. 322

1. Nichtveranlagungsbescheinigungen gemäß §§ 36 b Abs. 2 und 44 a Abs. 2 EStG sind keine Freistellungsbescheide (§ 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977), sondern begünstigende Verfügungen i. S. des § 130 Abs. 2 AO 1977.

2. Gegen den Widerruf einer Nichtveranlagungsbescheinigung gemäß §§ 36 b Abs. 2 und 44 a Abs. 2 EStG ist der Rechtsbehelf der Beschwerde gegeben.

AO 1977 §§ 118 ff., 130 Abs. 2, 155 Abs. 1 Satz 3, 171 Abs. 10, 348 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, 368 Abs. 2 Satz 2; EStG §§ 36 b Abs. 2 Satz 2, 44 a Abs. 2.

Sachverhalt

I.

1. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau beantragten am 27. November 1979 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) die Ausstellung einer Nichtveranlagungsbescheinigung gemäß §§ 36 b Abs. 2, 44 a Abs. 2 und 44 b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das FA stellte die Bescheinigung am gleichen Tage für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis 31. Dezember 1982 aus.

Anläßlich der vom Kläger für die Jahre 1979 und 1980 eingereichten Einkommensteuererklärungen stellte das FA fest, daß der Kläger und seine Ehefrau einen Wohnsitz in London begründet hatten. Das FA widerrief daraufhin am 10. Oktober 1983 die erteilte Nichtveranlagungsbescheinigung für die Jahre 1981 und 1982 mit der Begründung, daß der Kläger in diesem Zeitraum nicht mehr unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen sei. Nach der beigefügten Rechtsmittelbelehrung sollte gegen die Verfügung die Beschwerde gegeben sein.

2. Der Kläger legte gegen die Widerrufsverfügung mit der Begründung Beschwerde ein, daß ein Widerruf nur mit Wirkung für die Zukunft möglich sei. Abweichend von der Rechtsbehelfsbelehrung vertrat das FA im Beschwerdeverfahren die Auffassung, daß gegen den Widerruf der Nichtveranlagungsbescheinigung der Einspruch gegeben sei. Die Bescheinigung enthalte eine Freistellung von der Einkommensteuer und stehe deshalb einem Steuerbescheid gleich. Das FA deutete die Beschwerde des Klägers dementsprechend in einen Einspruch um, den es durch Einspruchsentscheidung vom 23. Oktober 1984 als unbegründet zurückwies.

3. Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen erhobenen Klage statt. Der zutreffende Rechtsbehelf gegen die Nichtveranlagungsbescheinigung sei die Beschwerde. Da über die Einwendungen des Klägers somit eine funktionell unzuständige Behörde entschieden habe, sei die Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das FA stützt seine Revision auf Verletzung der §§ 348 der Abgabenordnung (AO 1977) i. V. m. 36 b, 44 a und 44 b EStG.

Das FA beantragt, das Urteil des FG Düsseldorf aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, hilfsweise, die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist unbegründet. Sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Gemäß § 36 b Abs. 1 und Abs. 2 EStG wird einem unbeschränkt steuerpflichtigen Anteilseigner die anrechenbare Körperschaftsteuer vergütet, wenn er durch eine Bescheinigung des für ihn zuständigen Wohnsitzfinanzamts nachweist, daß für ihn eine Veranlagung zur Einkommensteuer voraussichtlich nicht in Betracht kommt. Die Bescheinigung ist gemäß § 36 b Abs. 2 Satz 2 EStG unter dem Vorbehalt des Widerrufs auszustellen.

Bei Vorlage einer inhaltlich gleichen, ebenfalls vom Wohnsitz-Finanzamt auszustellenden Bescheinigung ist bei Kapitalerträgen i. S. des § 43 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 EStG kein Steuerabzug vorzunehmen (§ 44 a Abs. 1 EStG). Auch diese Bescheinigung ist kraft Gesetzes unter Vorbehalt des Widerrufs auszustellen (§ 44 a Abs. 2 Satz 2 EStG).

2. Das FG hat ohne Rechtsirrtum angenommen, daß gegen den Widerruf der dem Kläger erteilten Nichtveranlagungsbescheinigung gemäß §§ 36 b Abs. 2 und 44 a Abs. 2 EStG der Rechtsbehelf der Beschwerde gegeben ist.

a) Die Bescheinigungen sind keine Freistellungsbescheide i. S. des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977, gegen die der Rechtsbehelf des Einspruchs gegeben wäre (§ 348 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977).

Freistellungsbescheide sind begrifflich Steuerbescheide, die nach dem Willen des FA den Steuerpflichtigen verbindlich davon unterrichten, daß eine Steuer von ihm aufgrund des geprüften Sachverhalts dem Grunde nach überhaupt nicht oder für einen bestimmten Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum nicht gefordert werde (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. November 1979 VIII R 175/77, BFHE 129, 240, BStBl II 1980, 193, m. w. N.; vgl. auch BFH-Urteil vom 26. März 1969 I R 38/67, BFHE 95, 482, BStBl II 1969, 473; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 155 AO 1977 Tz. 3).

b) Diese Voraussetzung erfüllt die dem Kläger erteilte Nichtveranlagungsbescheinigung nicht.

aa) Mit der Bescheinigung gemäß § 36 b Abs. 2 Satz 1 EStG wird nicht über den Anspruch auf Körperschaftsteuervergütung entschieden. Die Bescheinigung ist lediglich Entscheidungsunterlage für das über die Körperschaftsteuervergütung entscheidende Bundesamt für Finanzen (§ 36 b Abs. 3 EStG). Die Bescheinigung ist zwar Verwaltungsakt (vgl. unten Nr. 3). Sie ist aber nur tatbestandliche Voraussetzung für die Entscheidung über den Vergütungsanspruch. Definitiv wird über die Vergütung von Körperschaftsteuer erst im Vergütungsbescheid des Bundesamtes für Finanzen entschieden. Der Vergütungsbescheid wird dementsprechend dem Steuerbescheid ausdrücklich gleichgestellt (§§ 218 Abs. 1, 155 Abs. 6 AO 1977).

bb) Auch die Bescheinigung gemäß § 44 a Abs. 2 EStG hat nur vorläufigen Charakter. Sie enthält zwar eine Ermächtigung für den Schuldner der Kapitalerträge oder das die Kapitalerträge auszahlende Kreditinstitut (§ 44 a Abs. 2 Satz 1 EStG), vom Steuerabzug abzusehen. Für den Gläubiger der Kapitalerträge stellt der fehlende Steuerabzug jedoch keine endgültige Entscheidung über die Steuerpflicht der von ihm bezogenen Kapitalerträge dar. Auch wenn eine Nichtveranlagungsbescheinigung ausgestellt wurde, entscheidet die Finanzbehörde über die Steuerpflicht der Kapitalerträge erst bei der Veranlagung.

cc) Der vorläufige Charakter der Bescheinigungen nach §§ 36 b Abs. 2 und 44 a Abs. 2 EStG wird vom gesetzlich (teilweise) vorgegebenen Wortlaut der Bescheinigung bestätigt. Sie wird erteilt, wenn "anzunehmen" ist, daß für den Steuerpflichtigen eine Veranlagung zur Einkommensteuer "voraussichtlich" nicht in Betracht kommt (§ 36 b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 44 a Abs. 1 EStG).

c) Nichtveranlagungsbescheinigungen sind keine Grundlagenbescheide, gegen die ebenfalls der Rechtsbehelf des Einspruchs gegeben wäre (§ 348 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977).

Nach dieser Vorschrift ist der Einspruch gegeben gegen Bescheide, die für die Festsetzung von Steuern verbindlich sind. Wie unter a) ausgeführt, ist die Freistellungsbescheinigung weder für die Festsetzung einer Körperschaftsteuervergütung noch für die Festsetzung der Einkommensteuer der Gläubiger der Kapitalerträge verbindlich.

3. Nichtveranlagungsbescheinigungen gemäß §§ 36 b Abs. 2, 44 a Abs. 2 EStG sind begünstigende Verfügungen i. S. des § 130 Abs. 2 AO 1977.

a) Es handelt sich um Verwaltungsakte i. S. des § 118 AO 1977. Sie regeln einen Einzelfall, da sie über den Anspruch auf Erteilung einer solchen Bescheinigung entscheiden. Die Bescheinigungen entfalten auch Außenwirkung, da sie dem antragstellenden Gläubiger der Kapitalerträge bekanntgegeben werden (vgl. Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 36 b-d Anm. 2 c, § 44 a Anm. 2 d).

b) Da die Bescheinigungen keine Freistellungsbescheide sind (vgl. oben Abschn. a), sind die Vorschriften über Verwaltungsakte in den §§ 118 ff. AO 1977 anzuwenden. Sie gelten für alle Verwaltungsakte der Finanzbehörden, wenn die Sonderbestimmungen über Steuerbescheide nicht eingreifen. Damit sind auch §§ 130, 131 AO 1977 anzuwenden (Gail/Goutier, Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 36 b EStG Tz. 17; Riegler in Littmann/Bitz/Meincke, Das Einkommensteuerrecht, § 44 a EStG Rz. 9; Scholtz in Hartmann/Böttcher/Nissen/Bordewin, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 36 b Rz. 60). Gegen ihren Widerruf ist die Beschwerde gemäß § 349 AO 1977 gegeben (Gail/Goutier, a. a. O., § 36 b EStG Tz. 19; vgl. auch Bordewin in Lademann/Söffing/Brockhoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 36 b Rz. 20).

c) Der Charakter der Bescheinigungen ist auch aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Widerrufsvorbehalt abzuleiten (§§ 36 b Abs. 2 Satz 2, 44 a Abs. 2 Satz 2 EStG).

Für Steuerbescheide und Vergütungsbescheide sieht das Gesetz bei Unsicherheiten in der Tatbestandsermittlung den Vorbehalt der Nachprüfung vor (§§ 164, 155 Abs. 6 AO 1977). Dieser Vorbehalt erlaubt eine uneingeschränkte Änderung des Steuerbescheids. Für andere rechtswidrige, begünstigende Verwaltungsakte ist in § 130 Abs. 2 i. V. m. § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 eine Rücknahme u. a. vorgesehen, wenn in dem Verwaltungsakt ein Widerruf vorbehalten ist (BFH-Urteile vom 30. November 1982 VIII R 9/80, BFHE 137, 209, 211, BStBl II 1983, 187; vom 16. Juli 1985 VII R 31/81, BFHE 144, 189).

Der Gesetzgeber hat für Nichtveranlagungsbescheinigungen keinen Nachprüfungsvorbehalt i. S. des § 164 AO 1977, sondern einen Widerrufsvorbehalt angeordnet, da er die Bescheinigungen nicht der Kategorie der Steuerbescheide i. S. der §§ 155 ff. AO 1977, sondern den allgemeinen Verwaltungsakten zuordnete.

4. Anstelle einer Einspruchsentscheidung hätte somit auf die Beschwerde des Klägers nur eine Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion ergehen dürfen (§ 368 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Die vom FA erlassene Einspruchsentscheidung ist von einer sachlich und funktionell unzuständigen Behörde erlassen worden. Sie war rechtswidrig und wurde vom FG zu Recht aufgehoben. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 127 AO 1977 liegen nicht vor.