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  BFH-Urteil vom 8.7.1992 (XI R 54/89) BStBl. 1992 II S. 867

Wird ein Steuerbescheid nach § 174 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 AO 1977 durch Gerichtsentscheidung geändert, so rechtfertigt Halbsatz 2 der Vorschrift nicht die nochmalige Änderung desselben Bescheids durch die Verwaltungsbehörde.

AO 1977 § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2.

Vorinstanz: FG Berlin

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine KG, an der die Beigeladene im Streitjahr 1972 kurzfristig mit 85 v. H. beteiligt war (ursprüngliche Kommanditbeteiligung von 15 v. H. zuzüglich eines ererbten Komplementäranteils von 70 v. H.). Am 13. Dezember 1972 veräußerte die Beigeladene den ererbten Anteil an ihren Neffen, der sich zuvor an der KG mit einem Kommanditanteil von 15 v. H. beteiligt hatte. Als Gegenleistung für die dadurch bewirkte Minderung ihrer Gesellschaftsrechte erhielt sie aus dem Gesellschaftsvermögen Grundstücke, Bankguthaben und eine Veräußerungsrente. Während die Beteiligten zunächst übereinstimmend von einem dadurch entstandenen Veräußerungsgewinn von 540.384,63 DM ausgingen, versagte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die hierfür in Anspruch genommene Tarifbegünstigung nach § 34 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG), weil bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns weitere stille Reserven von 718.000 DM unberücksichtigt geblieben seien (Grundstück, das auch nach der Veräußerung an die Beigeladene dem Betrieb der Klägerin diente). Die Klage hatte keinen Erfolg. Der Bundesfinanzhof (BFH) gab der Revision der Klägerin durch Urteil vom 21. Juni 1988 VIII R 351/82 mit folgender Begründung statt: Es liege ein Tausch vor. Da sich der Veräußerungspreis nach dem gemeinen Wert der vom Veräußerer erlangten Wirtschaftsgüter bemesse, hätten bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns sämtliche stillen Reserven von 1.258.384,63 DM berücksichtigt werden müssen. Daß der Beklagte hiervon nur 540.384,63 DM festgestellt habe, hindere trotz der aus verfahrensrechtlichen Gründen bestehenden Unmöglichkeit einer Erhöhung des Veräußerungsgewinns um 718.000 DM nicht die Zuerkennung der begehrten Tarifbegünstigung.

Der Beklagte hat nunmehr einen auf § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Bescheid erlassen und darin zum einen den Veräußerungsgewinn um 718.000 DM erhöht, zum anderen die Tarifbegünstigung für einen Betrag von 1.258.384 DM festgestellt.

Nach erfolglosem Einspruch hob das Finanzgericht (FG) den Änderungsbescheid und die Einspruchsentscheidung ersatzlos auf. Zur Begründung führte es aus, § 174 Abs. 1 bis 3 AO 1977 griffen unstreitig nicht ein. Auch ein Fall des § 174 Abs. 4 AO 1977 liege nicht vor. Es sei derselbe Sachverhalt weder mehrfach berücksichtigt worden noch mehrfach unberücksichtigt geblieben.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt das FA die unrichtige Anwendung des § 174 Abs. 4 AO 1977. Zur Begründung führt es aus, im Streitfall sei ein bestimmter Sachverhalt - die Aufdeckung stiller Reserven - durch das FA insofern irrig beurteilt worden, als es in Übereinstimmung mit der Steuerpflichtigen davon ausgegangen sei, nicht alle stillen Reserven brauchten aufgedeckt zu werden. Hieraus habe das FA die steuerlich folgerichtigen Konsequenzen gezogen, nämlich die Versagung der Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 und 2 EStG. Im Rechtsstreit wegen der Versagung der Tarifermäßigung sei erst durch den BFH festgestellt worden, daß das FA die Notwendigkeit der Aufdeckung aller stillen Reserven verkannt hatte. Den in Auswertung dieses BFH-Urteils zugunsten der Steuerpflichtigen geänderten Bescheid habe das FA dann erneut geändert, indem es nach Aufdeckung des Irrtums über den Sachverhalt nunmehr die richtigen steuerlichen Folgerungen daraus gezogen habe. Die Änderungen seien somit durch § 174 Abs. 4 AO 1977 voll gedeckt.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.

Sie trägt vor, es sei derselbe Sachverhalt weder mehrfach berücksichtigt noch mehrfach unberücksichtigt geblieben. Die früheren Rechtsbehelfe der Klägerin hätten nicht eine anderweitige Ermittlung des Veräußerungsgewinns betroffen. Da nur die Tarifbegünstigung nach § 34 Abs. 4 EStG im Streit gewesen sei, sei der Sachverhalt, was die Höhe des Veräußerungsgewinns anbelangt habe, geregelt gewesen. Daß dies irrtümlich falsch erfolgt sei, sei unbeachtlich. Festzustellen bleibe, daß das FA jedenfalls eine Regelung getroffen habe. Damit sei aber dokumentiert, daß hier keine Unklarheit im Sachverhalt bestanden, sondern daß lediglich eine Frage einer zutreffenden rechtlichen Subsumtion im Streit gestanden habe.

Die Beigeladene beantragt ebenfalls die Zurückweisung der Revision. Sie sieht in dem Erlaß des angegriffenen Steuerbescheids eine eklatante Verletzung des Verböserungsverbots.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Der Senat läßt offen, ob er sich der Auffassung des X. Senats anschließen könnte, derzufolge § 174 Abs. 4 AO 1977 auf Steuerbescheide, die vor dem 1. Januar 1977 entstandene Steueransprüche betreffen, nicht anwendbar ist (Urteil vom 16. Mai 1990 X R 72/87, BFHE 161, 451, 454, BStBl II 1990, 1044), oder ob er - wie der I. Senat des BFH - die Vorschrift auch auf derartige Fälle grundsätzlich für anwendbar hält (Urteil vom 17. Oktober 1990 I R 9/89, BFH/NV 1991, 354). Einer Entscheidung dieser Frage und einer evtl. Anrufung des Großen Senats des BFH gemäß § 11 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bedarf es nicht, weil die Vorschrift des § 174 Abs. 4 AO 1977 auch im Falle ihrer grundsätzlichen Anwendbarkeit auf einheitliche Gewinnfeststellungsbescheide betreffend 1972 nicht als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Verwaltungsakt herangezogen werden könnte.

2. § 174 Abs. 4 AO 1977 erlaubt nicht eine nochmalige Änderung eines bereits durch Gerichtsentscheidung modifizierten Steuerbescheids mit dem Ziel, aus dieser Gerichtsentscheidung Folgerungen zu ziehen, die das Gericht aus Gründen des Verböserungsverbots nicht ziehen durfte.

Gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 können, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird.

Die Verwendung der Worte "ein Steuerbescheid" im ersten Halbsatz und die Formulierung "durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheids" im letzten Halbsatz des Satzes 1 der Vorschrift läßt zwar die grammatische Auslegung zu, daß der nämliche Bescheid, der Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung war, nochmals geändert werden kann. Diesem Verständnis der Vorschrift stehen indes der Zweck und die Entstehungsgeschichte entgegen.

Durch § 174 Abs. 4 AO 1977 soll die Möglichkeit eröffnet werden, daß Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt, die zunächst nicht im "richtigen" Bescheid, sondern in einem anderen Verfahren gezogen wurden, durch Änderung des "richtigen" Bescheids oder durch erstmaligen Erlaß eines solchen noch gezogen werden können (vgl. u. a. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Tz. 2; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Tz. 15 a).

Ausweislich der Gesetzesmaterialien regelt § 174 Abs. 4 den Fall, daß die Finanzbehörde oder das Gericht aufgrund eines Rechtsbehelfs oder aus anderen Gründen eine Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen ändert. In diesem Fall läßt die Vorschrift zu, daß aus dem Sachverhalt nunmehr ohne Rücksicht auf die etwaige Bestandskraft einer anderen Steuerfestsetzung nachträglich die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (BTDrucks VI/1982, 153, 154, rechte Spalte Mitte).

Mithin müssen sich begrifflich zwei oder mehrere verschiedene Besteuerungsverfahren gegenüberstehen, in denen der "bestimmte Sachverhalt" möglicherweise geregelt werden könnte. Dementsprechend wird einhellig im Schrifttum von dem Erlaß oder der Änderung einer "anderen" Steuerfestsetzung gesprochen (Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 174 AO 1977 Tz. 18; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 174 Tz. 11; Tipke/Kruse, a. a. O.; Weber-Grellet, Die steuerliche Betriebsprüfung 1982, 29, 34). Auch das Urteil des BFH vom 11. Juli 1991 IV R 52/90 (BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126, 127) beruht auf der Überlegung, daß die weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts nur bei einem anderen Steuerpflichtigen oder bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum in Frage kommt.

Im vorliegenden Fall hat das FA nicht einen anderen Bescheid erlassen oder geändert, sondern den nämlichen durch das Urteil des BFH VIII R 351/82 geänderten Bescheid, in dem der Gewinn aus der Veräußerung des Mitunternehmeranteils festgestellt war. Dies war nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht zulässig.

Daß eine Befugnis des FA zur Änderung ein und desselben bereits durch Gerichtsentscheidung modifizierten Bescheids jedenfalls zuungunsten des Steuerpflichtigen aus § 174 Abs. 4 AO 1977 nicht hergeleitet werden kann, folgt auch aus der abschließenden Entscheidungskompetenz der Gerichte über die Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden. Im vorliegenden Falle war der Gewinnfeststellungsbescheid für 1972 vom 12. Oktober 1979 nur bezüglich der Frage, ob der Veräußerungsgewinn in Höhe von 540.384,63 DM tarifbegünstigt ist oder nicht, angefochten worden. Durch die Entscheidung des VIII. Senats über diese Frage wurde der Bescheid in vollem Umfang rechtskräftig. Ist - wie in diesem Falle - die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts, d. h. eines einzelnen abgrenzbaren Lebensvorgangs (vgl. Urteile des BFH vom 22. Dezember 1988 V B 148/87, BFH/NV 1990, 341, und vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387) durch gerichtliche Entscheidung über einen Verwaltungsakt rechtskräftig abgeschlossen, so ist es der Verwaltungsbehörde grundsätzlich verwehrt, aus diesem Sachverhalt "ergänzende" Rechtsfolgen zu ziehen und diese zur Grundlage einer nochmaligen Änderung des rechtskräftig gewordenen Bescheids zu machen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn diese Rechtsfolgen sich zuungunsten des Bescheidadressaten auswirken würden und vom Gericht bereits in Betracht gezogen, aber aus verfahrensrechtlichen Gründen bewußt unberücksichtigt gelassen worden waren.