| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

 

BFH-Urteil vom 16.12.1992 (I R 46/88) BStBl. 1993 II S. 677

Die Merkmale einer Zweigniederlassung i. S. des § 13 HGB erfüllen im Regelfall die Voraussetzungen eines Teilbetriebs i. S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972.

KVStG 1972 § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 9 Abs. 2 Nr. 3; Richtlinie 69/335/EWG Art. 7 Abs. 1 Buchst. b.

Vorinstanz: FG des Saarlandes

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine inländische Aktiengesellschaft, die Bankgeschäfte aller Art betreibt und am 4. April 1974 von insgesamt fünf Aktionären gegründet wurde. Zu den Gründungsaktionären gehörten u. a. die A-AG und die B-SA, die heute sämtliche Aktien an der Klägerin halten.

Nach der Satzung der Klägerin verpflichteten sich die A-AG und die B-SA zu Sacheinlagen in Höhe von 14,2 Mio. DM. Die A-AG übertrug als Sacheinlage zum Wert von knapp 9 Mio. DM sämtliche Filialen, die sie vorher in S unterhalten hatte. Die B-SA übertrug als Sacheinlage im Werte von 5,25 Mio. DM eine zuvor in S unterhaltene Filiale. Sämtliche Filialen waren vor ihrer Übertragung auf die Klägerin als Zweigniederlassungen i. S. des § 13 des Handelsgesetzbuches (HGB) in den Handelsregistern der örtlich zuständigen Amtsgerichte eingetragen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte die Gründung der Klägerin als einen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Kapitalverkehrsteuergesetzes i. d. F. vom 17. November 1972 (KVStG 1972) steuerpflichtigen Rechtsvorgang. Er lehnte die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes i. S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 insoweit ab, als Gesellschaftsteuer auf das von der A-AG eingebrachte Vermögen entfiel. Das FA sah die eingebrachten Filialen nicht als Teilbetrieb im Sinne der Vorschrift an.

Der Einspruch und die sich anschließende Klage gegen den Gesellschaftsteuerbescheid vom 11. September 1981 blieben ohne Erfolg.

Mit ihrer vom Finanzgericht (FG) zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 9 Abs. 2 Nr. 3 Satz 1 KVStG 1972.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG des Saarlandes vom 30. Juni 1987 2 K 177/82 aufzuheben, den Gesellschaftsteuerbescheid vom 11. September 1981 zu ändern und die Gesellschaftsteuer auf 75.000 DM herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Der erkennende Senat hat durch Beschluß vom 31. Oktober 1990 (BFHE 163, 243, BStBl II 1991, 370) dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Setzt die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG gewählte Formulierung "einen oder mehrere Zweige ihrer Tätigkeit" einen Teilbetrieb im Sinne eines mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteten Teils eines Gesamtbetriebes voraus, der für sich lebensfähig ist und dessen Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer Betätigung dienen, die sich ihrer Natur nach von der gewerblichen Tätigkeit des übrigen Unternehmens deutlich unterscheidet?

2. Für den Fall, daß die Frage zu 1. zu verneinen sein sollte:

a) Welche wesentlichen Merkmale machen den "Zweig einer Tätigkeit" i. S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG aus?

b) Ist eine Zweigniederlassung i. S. des § 13 HGB "Zweig einer Tätigkeit" i. S. des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG?

Auf Grund des Ersuchens um Vorabentscheidung hat der EuGH durch Urteil vom 13. Oktober 1992 C-50/91 entschieden:

"Eine Filiale ist ein Tätigkeitszweig im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital, wenn sie eine Gesamtheit von Vermögensgegenständen und Personen darstellt, die zur Durchführung einer bestimmten Tätigkeit beitragen können."

Den Beteiligten ist das Urteil des EuGH bekannt. Sie hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie halten an ihren zuvor gestellten Anträgen fest.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist überwiegend begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, zur Änderung des angefochtenen Gesellschaftsteuerbescheids und zu einer anderweitigen Steuerfestsetzung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Soweit sie unbegründet ist, war sie zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

1. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972 unterliegt der Erwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft durch den ersten Erwerber der Gesellschaftsteuer. Ergänzend dazu regeln § 5 KVStG 1972, was unter einer inländischen Kapitalgesellschaft, und § 6 KVStG 1972, was unter Gesellschaftsrechten zu verstehen ist. Danach ist eine nach deutschem Aktienrecht errichtete Aktiengesellschaft eine inländische Kapitalgesellschaft (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 KVStG 1972). Die Aktien an einer solchen Aktiengesellschaft sind Gesellschaftsrechte (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972).

Dazu hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und den erkennenden Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt, daß die Klägerin im April 1974 als Aktiengesellschaft nach deutschem Aktienrecht errichtet und rd. 2,5 Monate später im Handelsregister eingetragen wurde. Durch diesen Vorgang entstanden erstmalig Gesellschaftsrechte an der Klägerin. Damit war der Tatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972 verwirklicht.

2. Bei einem Erwerb von Gesellschaftsrechten i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVStG 1972 wird die Gesellschaftsteuer vom Wert der Gegenleistung berechnet, wenn eine solche zu bewirken ist (§ 8 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a KVStG 1972). Dazu hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und den erkennenden Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt, daß der Wert der von den Aktionären zu erbringenden Gegenleistung 15 Mio. DM betrug. Damit ist die Gesellschaftsteuer nach dem Steuermaßstab von 15 Mio. DM zu berechnen.

3. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 KVStG 1972 beträgt die Gesellschaftsteuer grundsätzlich 1 v. H. des Steuermaßstabes. Gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 ermäßigt sie sich allerdings auf 0,5 v. H. des Steuermaßstabes beim Erwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft, wenn und soweit auf diese Kapitalgesellschaft als Gegenleistung das gesamte Vermögen, ein Betrieb oder ein Teilbetrieb einer anderen Kapitalgesellschaft übertragen wird. Zu diesen Tatbestandsvoraussetzungen hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und den erkennenden Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt, daß die aus Anlaß des Ersterwerbs zu bewirkenden Gegenleistungen im Werte von 14.247.500 DM aus Sacheinlagen und im Werte von 752.500 DM aus Bareinlagen bestanden. Die Sacheinlagen waren von der A-AG und der B-SA zu erbringen. Die A-AG war inländische und die B-SA französische Kapitalgesellschaft. Die A-AG brachte näher bezeichnete Filialen (Wert: 8.997.500 DM) und die B-SA ihre Geschäftsstelle in S (Wert: 5,25 Mio. DM) ein. Sowohl die näher bezeichneten Filialen als auch die Geschäftsstelle in S waren vorher als Zweigniederlassungen der A-AG bzw. der B-SA im Handelsregister der örtlich zuständigen Amtsgerichte eingetragen. Aus diesen Feststellungen folgt, daß im Werte von 14.247.500 DM als Gegenleistung mehrere Teilbetriebe der A-AG bzw. der B-SA i. S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 übertragen wurden. Die Klägerin hat deshalb Anspruch auf Anwendung des ermäßigten Steuersatzes von 0,5 v. H. des Steuermaßstabes.

a) Der erkennende Senat hat durch Beschluß in BFHE 163, 243, BStBl II 1991, 370 die Vorabentscheidung des EuGH zu der Frage eingeholt, ob die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG gewählte Formulierung "einen oder mehrere Zweige ihrer Tätigkeit" einen Teilbetrieb im Sinne eines mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteten Teils eines Gesamtbetriebes voraussetzt, der für sich lebensfähig ist und dessen Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer Betätigung dienen, die sich ihrer Natur nach von der gewerblichen Tätigkeit des übrigen Unternehmens deutlich unterscheidet. Zu dieser Frage hat der EuGH durch Urteil vom 13. Oktober 1992 C-50/91 entschieden, daß eine Filiale ein Tätigkeitszweig i. S. von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital ist, wenn sie eine Gesamtheit von Vermögensgegenständen und Personen darstellt, die zur Durchführung einer bestimmten Tätigkeit beitragen können. An diese Entscheidung ist der erkennende Senat gebunden, soweit auch er über die Auslegung der Richtlinie 69/335/EWG zu befinden hat (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 8. April 1987 2 BvR 687/85, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1988, 77).

b) Für die Entscheidung über den Streitfall kommt es auf die Auslegung der Richtlinie 69/335/EWG deshalb an, weil das KVStG 1972 der Umsetzung der Richtlinie dient. § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 kann daher nicht anders als Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 69/335/EWG ausgelegt werden. Dann aber ist eine Filiale auch Teilbetrieb i. S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972, wenn sie eine Gesamtheit von Vermögensgegenständen und Personen darstellt, die zur Durchführung einer bestimmten Tätigkeit beitragen können.

c) Zwar hat das FG in tatsächlicher Hinsicht nicht festgestellt, welche Vermögensgegenstände auf die Klägerin übertragen wurden. Das FG hat jedoch festgestellt, daß Zweigniederlassungen auf die Klägerin übergingen. Die Merkmale einer Zweigniederlassung sind:

a) sie muß räumliche Selbständigkeit besitzen;

b) sie muß sachlich die gleichen, nicht notwendigerweise alle gleichartigen Geschäfte wie die Hauptniederlassung tätigen;

c) sie muß auf eine gewisse Dauer angelegt sein;

d) die äußere Einrichtung muß der einer Hauptniederlassung ähnlich sein (eigenes Geschäftslokal, gesonderte Buchführung usw.) und

e) der Leiter der Zweigniederlassung muß die Befugnis zu selbständigem Handeln in nicht ganz unwesentlichen Angelegenheiten haben

(vgl. Baumbach/Duden/Hopt, Kommentar zum HGB, 28. Aufl., § 13 Anm. 1 c). Diese Merkmale einer Zweigniederlassung erfüllen im Regelfall auch die Voraussetzungen eines Teilbetriebes i. S. des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972. Dazu geht der Senat auf der Grundlage des ihn bindenden Urteils des EuGH in der Rechtssache C-50/91 davon aus, daß die im Falle der Einbringung eines oder mehrerer Tätigkeitszweige (= Teilbetriebe) gewährte Steuervergünstigung nicht von der Anzahl der Tätigkeiten abhängt, die die Gesellschaft, zu der die übertragene Einheit gehörte, im Zeitpunkt der Einbringung ausübte. Entscheidend kommt es auf die Fähigkeit der Einheit an, durch ihre Tätigkeit zur Entwicklung des Unternehmens beizutragen, auf das sie übertragen wurde. Die entsprechende Fähigkeit ergibt sich bei einer Zweigniederlassung regelmäßig aus der örtlichen und organisatorischen Trennung von der Hauptniederlassung und der daraus sich ergebenden Selbständigkeit (eigenes Personal, eigene Geschäftsräume, eigener Zweigniederlassungsleiter, eigener Kundenstamm). Auch der Mangel an eigener Rechtspersönlichkeit hindert die Zweigniederlassung nicht daran, wirtschaftlich tätig zu sein. Insoweit kommt es nur auf die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit an. Unerheblich ist dagegen, ob diese Tätigkeit mit von der Hauptniederlassung bereitgestellten Mitteln finanziert oder von der betreffenden Einheit in Durchführung von Weisungen ausgeübt wird.

d) Sind demnach im Streitfall alle Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Nr. 3 KVStG 1972 erfüllt, so hätte die Gesellschaftsteuer wie folgt berechnet und festgesetzt werden müssen:

0,5 v.H. von 14.247.500 DM =

71.237,50 DM

   1 v.H. von      752.500 DM =

7.525,00 DM

 

---------------------

festzusetzende Gesellschaftsteuer

78.726,00 DM

Die Abrundung folgt aus § 156 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) i. V. m. § 8 der Kleinbetragsverordnung.

4. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Seine Entscheidung kann deshalb keinen Bestand haben. Die Sache ist entscheidungsreif. Die Vorentscheidung war aufzuheben. Der angefochtene Gesellschaftsteuerbescheid war zu ändern. Die Gesellschaftsteuer war auf 78.762 DM festzusetzen. Die weitergehende Revision war als unbegründet zurückzuweisen.