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  BFH-Beschluß vom 25.8.1993 (X B 32/93) BStBl. 1993 II S. 797

Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO kann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, dem FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn mit der Klage ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge (§ 10 Abs. 3 EStG) geltend gemacht wird (Anschluß an die BFH-Beschlüsse vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, und vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123).

FGO § 74, § 128 Abs. 2, Halbsatz 2; EStG § 10 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) machte bei der Einkommensteuerveranlagung 1989 Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 6.546 DM als Sonderausgaben geltend. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte diese Aufwendungen mit dem Sonderausgabenhöchstbetrag (§ 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) in Höhe von 3.510 DM. Auf das zu versteuernde Einkommen wendete das FA den Grundtarif (§ 32 a Abs. 1 bis 4 EStG) an. Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1989, mit dem der Kläger die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrags rügte, war erfolglos.

Mit der Klage brachte der Kläger vor, die Höhe des Grundfreibetrags nach § 32 a EStG sei realitätsfremd im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Auf Antrag des Klägers setzte das Finanzgericht (FG) durch Beschluß vom 24. Februar 1992 das Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags aus.

Mit Schreiben vom 29. Dezember 1992 teilte das FG dem Kläger mit, im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG zum Grundfreibetrag lägen die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nicht mehr vor. Es beabsichtige daher, das Verfahren wieder aufzunehmen.

Der Kläger äußerte daraufhin, er halte den Klageantrag zum Grundfreibetrag nicht mehr aufrecht, werde aber in der mündlichen Verhandlung beantragen, die geltend gemachten Versicherungsbeiträge in voller Höhe abzuziehen. Zur Begründung verwies er auf die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1220/88. Ferner beantragte er, das Verfahren nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt zu lassen.

Durch Beschluß vom 25. Januar 1993 hob das FG die Aussetzung des Verfahrens auf. Eine erneute Verfahrensaussetzung lehnte es ab, weil es gegen den beschränkten Abzug der Vorsorgeaufwendungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken habe. Das BVerfG habe bereits mit Beschluß vom 28. Dezember 1984 (1 BvR 1472/84 und 1 BvR 1473/84) festgestellt, daß die Grundhöchstbetragsregelung sowie die Regelung des Vorwegabzugs in § 10 Abs. 3 EStG in den Jahren 1977 und 1980 nicht den Gleichheitssatz verletzt habe. Es habe entsprechende Verfassungsbeschwerden gegen die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 4. Oktober 1984 IX R 21/83 und IX R 2/81 nicht zur Entscheidung angenommen (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1985, 337). Das FG sehe keine Veranlassung, hiervon für das Streitjahr 1989 abzuweichen. Auch im Hinblick auf "hauswirtschaftliche Gesichtspunkte" halte es die vom Kläger genannte Verfassungsbeschwerde für aussichtslos. Im übrigen sei beim hiesigen FG keine Vielzahl gleichartiger Fälle anhängig.

Mit der Beschwerde trägt der Kläger vor, nach dem Urteil des BFH vom 18. Juli 1990 I R 12/90 (BFHE 161, 409, BStBl II 1990, 986) reduziere sich der Ermessensspielraum, ob eine Klage auszusetzen sei, auf Null, wenn die Aussetzung ausdrücklich mit dem Hinweis beantragt werde, im Falle einer negativen Entscheidung des BVerfG die Klage wieder zurückzunehmen. Es bestünden keine Gründe, die Aussetzung zu verweigern. Die Auffassung, es handle sich nicht um ein Massenverfahren, treffe nicht zu. Der BFH stelle ausdrücklich darauf ab, daß der BFH bzw. das BVerfG nicht mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle überschwemmt werden solle. Es sei daher nicht allein auf das FG Rheinland-Pfalz abzustellen; vielmehr seien alle deutschen FG bei der Frage, ob ein Massenverfahren vorliege, zu berücksichtigen. Nicht gefolgt werden könne der Aussage im Beschluß, die Verfassungsbeschwerden seien aussichtslos. Nach der Rechtsprechung des BVerfG in Sachen Kinderfreibetrag 1983 bis 1985 und in Sachen Grundfreibetrag sei davon auszugehen, daß die Begrenzung der Versicherungsbeiträge verfassungswidrig sei. Es könne nicht Sache des FG sein, der Entscheidung des BVerfG vorzugreifen. Auch die Verwaltung enthalte sich einer Meinung, was durch die Vorläufigkeitsvermerke im Hinblick auf die Höhe der Vorsorgeaufwendungen in den Steuerbescheiden deutlich werde.

Das FG half der Beschwerde nicht ab. Es beraumte mündliche Verhandlung auf den 17. Februar 1993 an und wies die Klage durch Urteil ab. Es führte aus: Das nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist geltend gemachte Rechtsschutzbegehren unter gleichzeitiger Abstandnahme von dem ursprünglichen Gegenstand des Klagebegehrens sei eine nicht sachdienliche und daher unzulässige Klageänderung. Im übrigen halte der Senat § 10 Abs. 3 EStG für verfassungsmäßig.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Nach § 128 Abs. 2, Halbsatz 2 FGO ist gegen Entscheidungen über eine Aussetzung des Verfahrens die Beschwerde gegeben. Die Beschwerde ist nicht dadurch unzulässig geworden, daß das FG nach Ablehnung der Aussetzung zur Hauptsache entschieden hat. Das Rechtsschutzinteresse für die Beschwerde besteht weiter fort, weil eine rechtswidrige Ablehnung des Aussetzungsantrags gegen die Grundordnung des Verfahrens verstößt, die als Verfahrensfehler i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auf entsprechende Beschwerde zur Zulassung der Revision führt. Für diese Nichtzulassungsbeschwerde ist dem Kläger ggf. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BFH-Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123).

2. Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das FG eine weitere Aussetzung des Verfahrens abgelehnt.

Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Klageverfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (BFH-Beschluß vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, m. w. N.).

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Vor dem BVerfG sind zahlreiche Verfassungsbeschwerden anhängig, die sich gegen die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen richten (1 BvR 1220/88, 1523/88, 1300/89; 2 BvR 496/90, 661/90, 40/91, 41/91, 640/91, 1480/91). Den FG liegen nach Kenntnis des Senats eine Vielzahl gleichartiger Fälle zur Entscheidung vor. Unerheblich ist, daß bei dem zur Entscheidung berufenen FG nur einige Klagen dieser Art erhoben worden sind. Im übrigen erklärt die Finanzverwaltung im Hinblick auf die zu erwartenden Einsprüche und Klagen seit einiger Zeit die Einkommensteuerbescheide im Hinblick auf den beschränkten Sonderausgabenabzug für vorläufig. Bei den Verfahren, mit denen die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge geltend gemacht wird, handelt es sich also um Massenverfahren im Sinne der Rechtsprechung des III. Senats des BFH.

Die dem BVerfG vorliegenden Verfassungsbeschwerden sind auch nicht offensichtlich aussichtslos. Dies ergibt sich schon daraus, daß das BVerfG den BFH ersucht hat, zu den einschlägigen Rechtsfragen der Verfahren 1 BvR 1523/88 und 1 BvR 1300/89 Stellung zu nehmen. Die Aussetzung des Verfahrens kann auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Entscheidungen über die Verfassungsbeschwerden würden sich auf das Streitjahr nicht auswirken, weil das BVerfG selbst bei einer Verfassungswidrigkeit des § 10 Abs. 3 EStG den Gesetzgeber im Interesse einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung erst für die Zukunft zu einer Änderung des Gesetzes verpflichten werde. Das BVerfG ist zwar bei der Entscheidung über die Grundfreibeträge so verfahren (vgl. Beschluß vom 25. September 1992 2 BvL 5/91, 2 BvL 8/91, 2 BvL 14/91, BStBl II 1993, 413). In der Entscheidung über die Kinderfreibeträge 1983 bis 1985 hat das BVerfG dagegen den Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben (vgl. Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86, BStBl II 1990, 664). Im Interesse des Steuerpflichtigen ist daher das Verfahren offenzuhalten.

Unentschieden bleiben kann, ob das Verfahren auch dann im Hinblick auf anhängige Verfahren beim BVerfG auszusetzen ist, wenn das FG die Klage für unzulässig hält. Denn im Streitfall führt die Rücknahme des ursprünglichen Klageantrags auf Berücksichtigung eines höheren Grundfreibetrags und der gleichzeitige Antrag auf Abzug der vollen Vorsorgeaufwendungen nicht zur Unzulässigkeit der Klage. Nach der Entscheidung des Großen Senats des BFH (Beschluß vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327, 330) ist eine Änderung des Klagebegehrens nach Ablauf der Klagefrist nur dann unzulässig, wenn der angefochtene Verwaltungsakt bereits - teilweise - bestandskräftig ist, z. B. weil der Kläger nur eine Teil-Anfechtungsklage erhoben hat. In einem solchen Fall muß der Kläger aber eindeutig zum Ausdruck gebracht haben, daß er von einem weitergehenden Klagebegehren absieht. Im Streitfall hat der Kläger zunächst erklärt, er "beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung" den Antrag zu stellen, einen Grundfreibetrag in Höhe der Sozialhilfesätze anzusetzen. Hieraus wird deutlich, daß er sich den Umfang der Anfechtung des Einkommensteuerbescheids bis zur mündlichen Verhandlung offenhalten wollte. Dies ist zulässig, weil die FGO nicht vorschreibt, innerhalb der Klagefrist das Klagebegehren zu konkretisieren. Unerheblich ist, daß sich der ursprüngliche Klageantrag gegen den Steuertarif, der spätere Klageantrag dagegen gegen die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer richtete. Streitgegenstand der Anfechtungsklage ist die Rechtmäßigkeit des die Steuer festsetzenden Steuerbescheids. Im Rahmen des Klagebegehrens hat das FG den Steuerbescheid sowohl im Hinblick auf die Bemessungsgrundlage als auch auf den angewendeten Tarif zu prüfen. Daher kann der Kläger, auch wenn er sich zunächst nur gegen die Besteuerungsgrundlagen wendet, später auch die Tarifvorschriften angreifen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592) und umgekehrt.

Es sind im Streitfall auch keine Gesichtspunkte ersichtlich, die ein berechtigtes Interesse des FA an einer Entscheidung des FG vor der Entscheidung der Musterverfahren durch das BVerfG begründen könnten.

Die Aussetzung des Klageverfahrens durch das FG ist nach § 74 FGO eine Ermessensentscheidung, auch wenn sich die Aussetzung des Verfahrens bei vor dem BVerfG anhängigen Musterverfahren zu einer Aussetzungspflicht verdichten kann. Bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung des FG hat der erkennende Senat ein eigenes Ermessen auszuüben (BFH-Beschlüsse vom 18. Februar 1992 III B 20/91, BFH/NV 1992, 754, und in BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240). Aus den oben dargestellten Gründen hält der erkennende Senat die Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens für gegeben. Der ablehnende Beschluß des FG ist daher aufzuheben.