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  BFH-Urteil vom 7.5.1993 (III R 95/88) BStBl. 1993 II S. 818

Wurde durch einen Brand im FA, der vor Beginn der letzten sechs Monate des Laufes der Festsetzungsfrist ausgebrochen ist und dessen unmittelbare Folgen vor dieser Zeit beseitigt worden sind, eine von einem anderen FA übersandte ESt-4 B-Mitteilung vernichtet, stellt die durch den Brand verursachte Unkenntnis des FA vom Entstehen eines höheren Steueranspruchs kein Ereignis höherer Gewalt i. S. von § 171 Abs. 1 AO 1977 dar.

AO 1977 § 171 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Düsseldorf

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) reichten am 31. März 1980 die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1978 ein. Darin erklärten sie auch Einkünfte aus Beteiligungen an auswärtigen Firmen, u. a. an der Firma L KG (KG) im Betrag von .... DM. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) führte die Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) durch. Der Bescheid wurde in der Folgezeit mehrfach nach § 164 Abs. 2 AO 1977 geändert. Am 23. November 1984 wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben.

Im Jahre 1981 wurde bei der KG eine Außenprüfung durchgeführt, die auch das Streitjahr umfaßte. Am 15. April 1982 erließ das für die KG zuständige FA B entsprechend dem Ergebnis der Außenprüfung einen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid für das Streitjahr. Gleichzeitig wurden dem FA Mitteilungen über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte der KG (sog. ESt-4 B-Mitteilungen) betreffend den Gewinnanteil der Klägerin im Prüfungszeitraum übersandt.

Beim FA ist in der Nacht vom 19. zum 20. April 1982 ein Brand ausgebrochen.

Aufgrund einer Anfrage der Großbetriebsprüfungsstelle vom 11. April 1985 nach dem Mehrergebnis rechtskräftig festgesetzter Steuern wurde beim FA festgestellt, daß die im Jahre 1982 übersandten ESt-4 B-Mitteilungen nicht vorlagen. Das FA ging davon aus, daß die Mitteilungen in der Zentralstelle des FA mit allen sonst darin lagernden Vorgängen durch den Brand vernichtet worden waren. Es erbat vom FA B die nochmalige Übersendung der berichtigten Mitteilungen und erließ unter dem 5. Juni 1985 den angefochtenen auf § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützten Änderungsbescheid, mit dem es den Gewinnanteil der Klägerin an der KG im Betrag von .... DM berücksichtigte.

Der hiergegen erhobene Einspruch und die Klage blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, der Ablauf der Festsetzungsfrist sei wegen höherer Gewalt gehemmt gewesen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei die das Streitjahr betreffende ESt-4 B-Mitteilung des FA B bei dem Brand im Finanzamtsgebäude untergegangen, bevor die Veranlagungsstelle von ihr Kenntnis erlangt habe. Die Mitteilung sei am 15. April 1982 (Mittwoch) vom FA B abgesandt worden. Es sei davon auszugehen, daß sie am 16. oder 17. April 1982 beim FA eingegangen sei. Da auf der Mitteilung die Angabe einer Steuernummer der Kläger gefehlt habe, sei als sicher anzunehmen, daß die Mitteilung zunächst zur Ermittlung der Steuernummer in die Zentralstelle des FA gegeben worden sei. Da sie von dort nicht in die Steuerakten der Kläger gelangt sei, müsse angenommen werden, daß sie bei dem Brand in der Nacht vom 19. zum 20. April 1982 vernichtet worden sei.

Der Brand aufgrund eines technischen Defekts sei für das FA ein unabwendbarer Zufall gewesen, zumal auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft keinen Verdacht auf eine strafbare Handlung ergeben hätten. Durch höhere Gewalt verursacht sei somit nicht nur das Verbrennen des Papiers, sondern auch die dadurch verursachte Unkenntnis des Veranlagungsbeamten von der ESt-4 B-Mitteilung. Die Verhinderung i. S. von § 171 Abs. 1 AO 1977 habe solange wie die Unkenntnis des Veranlagungsbeamten angedauert. Es sei nicht Sache des FA gewesen, durch Sichtung des gesamten Aktenbestandes festzustellen, in welchen Fällen Rückfragen bei anderen Behörden zweckdienlich gewesen seien. Ein solches Vorgehen hätte die Verwaltungsarbeit im FA unzumutbar belastet.

Da die Unkenntnis des Veranlagungsbeamten noch in den letzten sechs Monaten der regulär am 31. Dezember 1984 abgelaufenen Festsetzungsfrist aus Gründen höherer Gewalt fortbestanden habe, habe sich die Frist um den Zeitraum, während dessen die Hemmung innerhalb der letzten sechs Monate gedauert habe, verlängert, mithin um sechs Monate bis zum 30. Juni 1985. Der angefochtene Bescheid vom 5. Juni 1985 sei sonach noch innerhalb der verlängerten Festsetzungsfrist ergangen.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügen die Kläger die Verletzung von § 171 AO 1977.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung des FA sowie den angefochtenen Änderungsbescheid aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und des angefochtenen Steuerbescheids in der Gestalt der Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Kläger machen zu Recht geltend, daß der Erlaß des angefochtenen Einkommensteuer-Änderungsbescheides wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist unzulässig war.

Die Festsetzungsfrist begann, da die Kläger die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr im März 1980 eingereicht haben, mit Ablauf des Jahres 1980 (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) und endete gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 aufgrund der grundsätzlich vierjährigen Frist mit Ablauf des Jahres 1984. Anhaltspunkte für eine längere Frist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 liegen nicht vor.

Im Streitfall ist auch keine Hemmung der Festsetzungsverjährung durch die Außenprüfung bei der KG im Jahre 1981 eingetreten. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ergeht aufgrund einer Außenprüfung, die den für die einheitliche und gesonderte Feststellung von Einkünften maßgeblichen Sachverhalt betrifft, nur der unmittelbar darauf beruhende Grundlagenbescheid, hier der Feststellungsbescheid betreffend die Einkünfte der KG, nicht hingegen der dadurch ausgelöste Folgebescheid, hier der angefochtene Einkommensteuer-Änderungsbescheid (BFH-Urteile vom 4. April 1989 VIII R 265/84, BFHE 156, 371, BStBl II 1989, 593, und vom 13. Dezember 1989 X R 179/87, BFH/NV 1990, 681). Die abweichende Entscheidung vom 10. August 1989 III R 5/87 (BFHE 158, 109, BStBl II 1990, 38) ist zum früheren Rechtszustand nach § 146 a der Reichsabgabenordnung (AO) ergangen. Eine Ausnahme, die dann angenommen wird, wenn in die bei der Personengesellschaft durchgeführte Außenprüfung auch steuerliche Verhältnisse einbezogen wurden, die nur für den Folgebescheid bedeutsam sind (§ 194 Abs. 2 AO 1977), ist hier nicht gegeben.

Eine Hemmung der Festsetzungsverjährung ist ferner nicht nach § 171 Abs. 10 AO 1977 eingetreten. Der geänderte Gewinnfeststellungsbescheid betreffend die Einkünfte der KG ist bereits am 15. April 1982 ergangen. Die Frist von einem Jahr nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheides liegt sonach innerhalb der regulären Festsetzungsfrist bis zum Ablauf des Jahres 1984.

Auch die Voraussetzungen für die Hemmung des Fristablaufs wegen höherer Gewalt liegen nicht vor.

Nach § 171 Abs. 1 AO 1977 läuft die Festsetzungsfrist nicht ab, solange die Steuerfestsetzung wegen höherer Gewalt innerhalb der letzten sechs Monate des Fristlaufes nicht erfolgen kann. Unter höherer Gewalt sind alle von außen kommenden Ereignisse zu verstehen, die es bei Anwendung der äußersten den Umständen nach zu erwartenden Sorgfalt nicht zulassen, daß der Anspruch verfolgt wird. Geringstes Verschulden schließt höhere Gewalt aus. Beispiele sind: Krieg, Naturkatastrophen und andere unabwendbare Zufälle (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 171 AO Tz. 2).

Solche Störungen durch höhere Gewalt können freilich nur dann zu einer Ablaufhemmung führen, wenn sich das betreffende unvermeidbare Vorkommnis entweder innerhalb der letzten sechs Monate der Festsetzungsfrist ereignet hat oder seine Folgen unmittelbar in die letzten sechs Monate des Fristlaufes hineinwirken. Die Festsetzungsfrist verlängert sich dann um den Zeitraum, während dessen die Steuer innerhalb der letzten sechs Monate der Frist wegen des als höhere Gewalt zu qualifizierenden Ereignisses nicht festgesetzt werden konnte, mithin um höchstens sechs Monate (Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 171 AO Bem. II. 1).

Der in der Nacht vom 19. zum 20. April 1982 in den Räumen des FA ausgebrochene Brand mag als nicht zu verhinderndes von außen kommendes Geschehen ein Ereignis höherer Gewalt darstellen. Die Frage kann hier allerdings letztlich dahinstehen. Denn der Brand als solcher und seine unmittelbaren Folgen wie die damit notwendigerweise verbundenen Aufräumungsarbeiten im FA waren jedenfalls längst vor dem hier maßgeblichen Zeitraum, den letzten sechs Monaten vor Ablauf der Festsetzungsfrist zum Jahresende 1984, beendet und konnten die Veranlagungstätigkeit des FA nicht mehr störend beeinflussen.

Die bloße Unkenntnis des FA davon, daß gegen die Kläger für das Streitjahr ein höherer Steueranspruch entstanden war, den es hätte festsetzen und - nach Vornahme von Abrechnungen - geltend machen müssen, ging zwar auf die Vernichtung der vom FA B zeitnah im Anschluß an die Änderung des Gewinnfeststellungsbescheides betreffend die KG übersandte ESt-4 B-Mitteilung zurück. Die mangelnde Kenntnis des FA beruhte damit noch - zumindest mittelbar - auf dem Brand. Entgegen der Meinung des FG stellt indes die Unkenntnis der Finanzbehörde vom Bestehen eines Steueranspruchs kein Ereignis höherer Gewalt i. S. von § 171 Abs. 1 AO 1977 dar. Bei Unkenntnis des FA von der Entstehung eines Steueranspruchs ist der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht gehemmt. Dies gilt selbst dann, wenn - wie hier vom FA geltend gemacht - die mangelnde Kenntnis auf einem vor Ablauf der letzten sechs Monate des Fristlaufes eingetretenen Vorfall beruht, der als höhere Gewalt angesehen werden kann.

Zum einen legt dies der Wortlaut des § 171 Abs. 1 AO 1977 nahe. Danach tritt eine Ablaufhemmung nur dann ein, wenn wegen höherer Gewalt die Steuerfestsetzung innerhalb des maßgeblichen Zeitraums nicht erfolgen kann. Die Umstände höherer Gewalt müssen somit ursächlich dafür sein, daß das FA daran gehindert ist, seinen Willen, eine Steuerfestsetzung vorzunehmen, insbesondere einen Steuerbescheid zu erlassen, auszuführen. Ein solcher Wille setzt die Kenntnis des FA voraus, daß ein entsprechender Steueranspruch entstanden ist. Fehlt dem FA diese Kenntnis und hat es aus diesem Grunde gar nicht den Willen, einen Steueranspruch zu verfolgen, ist die eigentliche Ursache dafür, daß die Steuerfestsetzung nicht rechtzeitig erfolgen kann, nicht die höhere Gewalt, sondern der fehlende Wille, einen nicht bekannten Anspruch durch einen Steuerbescheid zu konkretisieren.

Ferner ergibt sich dies aus der Parallele zu § 203 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Im bürgerlichen Recht ist anerkannt, daß die Unkenntnis des Gläubigers von der Entstehung seines Rechts den Beginn und den Lauf der Verjährung nicht hindert (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. April 1968 V ZR 13/65, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1968, 1381; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 52. Aufl., § 203 Rdnr. 6; von Feldmann in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Aufl., § 203 Rdnr. 8). § 203 Abs. 2 BGB bezieht sich nur auf die Fälle, in denen der an sich vorhandene Wille des Berechtigten, sein Recht geltend zu machen, infolge einer auf höherer Gewalt beruhenden Verhinderung nicht verwirklicht werden kann. Hierunter fällt die bloße Nichtkenntnis des Gläubigers von dem ihm zustehenden Recht nicht. Andernfalls würde der Wirkungsbereich der Verjährung zum Nachteil des Schuldners unangemessen eingeschränkt (BGH in NJW 1968, 1381, m. w. N.). Ausgehend von dieser Wertung ist auch im Rahmen des § 171 Abs. 1 AO 1977 die Hemmung des Fristablaufs nur in den Fällen gerechtfertigt, in denen das FA den Steueranspruch kennt, es aber aus Gründen höherer Gewalt an der beabsichtigten Verfolgung des Steueranspruchs (z. B. der Steuerfestsetzung) gehindert ist.

Dies gilt selbst dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Unkenntnis des FA auf Umstände zurückgeht, die möglicherweise als höhere Gewalt zu qualifizieren sind.