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  BFH-Urteil vom 11.5.1993 (IX R 27/90) BStBl. 1993 II S. 820

Nach Erlaß eines sog. negativen Feststellungsbescheides hat die zuständige Finanzbehörde die betreffenden Einkünfte des Steuerpflichtigen selbst zu ermitteln und diese ggf. in einem gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu erlassenden Änderungsbescheid zu berücksichtigen.

AO 1977 §§ 175 Abs. 1 Nr. 1, 182 Abs. 1.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Eheleute. Der Kläger war im Jahre 1980 (Streitjahr) an einer Bauherrengemeinschaft (BHG) beteiligt, die in K Ein- und Zweifamilienhäuser errichtete.

Nachdem in der Einkommensteuererklärung der Kläger für das Streitjahr zunächst keine Einkünfte aus der Beteiligung an der BHG enthalten waren, teilte der Steuerberater der Kläger dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) im Juni 1982 mit, diese seien mit einem Überschuß der Werbungskosten in Höhe von 39.640 DM bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen. Die für die Einkommensteuerveranlagung zuständige Stelle im FA richtete daraufhin eine Anfrage zu den Besteuerungsgrundlagen an die für die BHG zuständige Stelle derselben Behörde, die am 28. Juni 1982 mitteilte, aufgrund der Feststellungserklärung entfalle auf den Kläger für das Streitjahr ein Verlustanteil von 39.609,81 DM; dieser könne jedoch erst nach einer - noch ausstehenden - Außenprüfung im Veranlagungsverfahren anerkannt werden. Daraufhin ließ das FA bei dem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr die Einkünfte aus der Beteiligung an der BHG unberücksichtigt. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Nach einer Außenprüfung bei dem Kläger im Oktober 1982, die sich nicht auf die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erstreckte, erließ das FA für das Streitjahr einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem wiederum die Einkünfte aus dem Objekt des Klägers in K außer Ansatz blieben und mit dem der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde. Der Änderungsbescheid wurde am 10. Mai 1983 zur Post gegeben.

Mit Bescheid vom 3. Mai 1983 lehnte das FA die Durchführung einer gesonderten und einheitlichen Feststellung ab, da nach den Feststellungen der Großbetriebsprüfungsstelle die Voraussetzungen hierfür bei den Ein- und Zweifamilienhäusern des Bauherrenobjektes mit katastermäßig getrennten Grundstücken nicht vorlägen. Der negative Feststellungsbescheid wurde dem in der Feststellungserklärung als Empfangsbevollmächtigten bezeichneten Treuhänder der BHG bekanntgegeben. Dieser unterrichtete die Kläger und ihren Steuerberater nicht über diesen Bescheid, der bestandskräftig wurde.

Mit Schreiben vom 14. Juni 1983 teilte der Steuerberater der Kläger dem FA mit, nach Angabe des "Betriebsfinanzamtes" seien aufgrund einer Außenprüfung die Feststellungen für die BHG geändert worden. Für den Kläger ergebe sich hiernach für das Streitjahr ein Verlustanteil in Höhe von 32.911 DM; er bat "diesbezüglich um Prüfung und ggf. um Berichtigung des Steuerbescheides für 1980". Nachdem das FA erklärt hatte, eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides komme wegen fehlender Berichtigungsmöglichkeit nicht in Betracht, beantragte der Steuerberater der Kläger mit Schreiben vom 22. September 1983, im Wege einer Berichtigung nach § 173 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) den auf den Kläger aus seiner Beteiligung an der BHG für das Streitjahr entfallenden Verlustanteil zu berücksichtigen. Die Feststellungen der Großbetriebsprüfung stellten eine neue Tatsache dar, an deren verspätetem Bekanntwerden die Kläger kein grobes Verschulden treffe. Ggf. könnte auch durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Abhilfe geschaffen werden.

Mit Verfügung vom 17. November 1983 lehnte das FA den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und den Antrag auf Änderung des Einkommensteuerbescheides gemäß § 173 AO 1977 ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch, der sich nach Auffassung des FA infolge einer Rücknahme des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand während des Rechtsbehelfsverfahrens lediglich gegen die Versagung einer Berichtigung des Einkommensteuerbescheides richtete, wies das FA als unbegründet zurück.

Die Klage, mit der die Kläger vorrangig - unter Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist - eine Herabsetzung der Einkommensteuer 1980 unter Berücksichtigung des Werbungskostenüberschusses aus dem Objekt in K und hilfsweise eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheides nach § 173 AO 1977 begehrten, wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.

Mit der Revision rügen die Kläger eine Verletzung der §§ 110, 173 Abs. 1 Nr. 2 und 174 Abs. 3 AO 1977.

Die Kläger beantragen sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Einkommensteuer 1980 in der Weise herabzusetzen, daß der auf den Kläger entfallende Verlustanteil aus der BHG berücksichtigt wird, hilfsweise, das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid in der Weise zu ändern, daß der auf den Kläger entfallende Verlust aus der BHG berücksichtigt wird.

Das FA beantragt sinngemäß, die Anfechtungsklage unter Aufhebung der Vorentscheidung insoweit als unzulässig abzuweisen und im übrigen die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das FA ist der Auffassung, das FG habe die - im Wege einer Klageerweiterung erhobene - Anfechtungsklage unzutreffend als unbegründet abgewiesen. Das FG habe zu Unrecht dahingestellt sein lassen, ob die Kläger den Einkommensteuerbescheid vom 10. Mai 1983 angefochten hatten. Das Schreiben des Steuerberaters der Kläger vom 22. September 1983 könne nicht als Einspruch gewertet werden; daher sei die Klage insoweit als unzulässig abzuweisen. Hinsichtlich der Verpflichtungsklage schließt sich das FA der Beurteilung des FG an.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist teilweise begründet. Sie führt hinsichtlich der Verpflichtungsklage zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Vorentscheidung ist insoweit aufzuheben, weil das FG zu Unrecht die Möglichkeit verneint hat, die Einkommensteuerfestsetzung aufgrund des negativen Feststellungsbescheides vom 3. Mai 1983 nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu ändern.

a) Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid erlassen, aufgehoben oder geändert wird, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt. Diese spezielle Berichtigungsnorm dient zum einen dazu, die vom Grundlagenbescheid ausgehende Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 AO 1977) verfahrensrechtlich zur Geltung zu bringen (vgl. BFH-Urteil vom 9. September 1988 III R 253/84, BFH/NV 1989, 138); zum anderen trägt sie der von der Bindungswirkung ausgehenden Kompetenzverteilung im Verwaltungsverfahren Rechnung (vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 1991 IX R 57/88, BFHE 164, 502, BStBl II 1991, 821).

Ist ein bestimmter steuerlich relevanter Sachverhalt zunächst Gegenstand eines Feststellungsverfahrens, so ist das für den Folgebescheid zuständige FA durch die Bindung an den Feststellungsbescheid (§ 182 Abs. 1 AO 1977) gehindert, abschließend eigene Ermittlungen vorzunehmen. Erst die Aufhebung des Feststellungsbescheides erlaubt es dem FA, das den Folgebescheid zu erlassen hat, den Sachverhalt selbständig zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen (so schon BFH-Urteil vom 8. April 1965 III 132/61 U, BFHE 82, 352, 356, BStBl III 1965, 376, 377, zu § 218 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung), um aufgrund dessen den Folgebescheid entsprechend zu erlassen oder zu ändern. Dieser verfahrensrechtlichen Konsequenz hat die Rechtsprechung des BFH dadurch Rechnung getragen, daß sie im Falle der ersatzlosen Aufhebung eines Grundlagenbescheides eine Änderung des Folgebescheides nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zugelassen hat (vgl. Senatsurteil in BFHE 164, 502, BStBl II 1991, 821; BFH-Urteil vom 30. Oktober 1986 IV R 175/84, BFHE 148, 119, BStBl II 1987, 89).

Dieselben verfahrensrechtlichen Folgerungen ergeben sich auch in den Fällen, in denen ein zunächst eingeleitetes Feststellungsverfahren i. S. von § 180 AO 1977 zu einem sog. negativen Feststellungsbescheid führt. Unter Berücksichtigung der von der Bindungswirkung ausgehenden Kompetenzverteilung im Verwaltungsverfahren sieht - wie auch im Streitfall - die für den Folgebescheid zuständige Finanzbehörde oder Dienststelle regelmäßig von einer selbständigen Ermittlung des Sachverhalts und dessen steuerrechtlichen Beurteilung so lange ab, bis ein - ggf. negativer - Feststellungsbescheid ergeht. Erst der negative Feststellungsbescheid eröffnet dem für den Folgebescheid zuständigen FA die Möglichkeit, den Sachverhalt, der bisher Gegenstand des Feststellungsverfahrens war, in eigener Zuständigkeit zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen. Über diese verfahrensrechtliche Konsequenz hinaus kommt dem negativen Feststellungsbescheid auch Bindungswirkung insoweit zu, als die verfahrensrechtliche Frage der Notwendigkeit einer gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 180 AO 1977 selbständig und abschließend entschieden wird. Dementsprechend sind negative Feststellungsbescheide auch als Grundlagenbescheide mit Bindungswirkung i. S. der §§ 175 Abs. 1 Nr. 1, 171 Abs. 10 AO 1977 beurteilt worden (BFH-Beschlüsse vom 13. Dezember 1985 III B 84/85, BFH/NV 1986, 476; vom 27. März 1991 I B 187/90, BFHE 164, 173, BStBl II 1991, 643; vgl. auch Tipke/Kruse, AO, § 171 Tz. 30).

Einer Berichtigung der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr steht auch nicht entgegen, daß der negative Feststellungsbescheid bereits vor Erlaß des Änderungsbescheides vom 10. Mai 1983 ergangen war (vgl. BFH-Urteil vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, m. w. N.).

Mithin war das FA im Streitfall verpflichtet, nach Ergehen des negativen Feststellungsbescheides die Einkünfte des Klägers aus seiner Beteiligung an der BHG zu ermitteln und diese in einem gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu erlassenden Änderungsbescheid zu berücksichtigen.

b) Im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bedürfen die mit der Revision aufgeworfenen Fragen nach der Anwendbarkeit der §§ 173 Abs. 1 Nr. 2 und 174 Abs. 3 AO 1977 keiner Erörterung.

2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben, ob der von dem FA im erstinstanzlichen Verfahren mit 18.237,28 DM mitgeteilte Werbungskostenüberschuß des Klägers aus seiner Beteiligung an der BHG auch unter Beachtung der Senatsrechtsprechung zur steuerrechtlichen Qualifizierung von Aufwendungen eines Anlegers im sog. Bauherrenmodell (Senatsurteil vom 14. November 1989 IX R 197/84, BFHE 158, 546, BStBl II 1990, 299) zu berücksichtigen ist.