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  BFH-Urteil vom 7.7.1993 (II R 69/90) BStBl. 1994 II S. 6

Allein die Lage eines (Wohn-)Grundstücks in einem Tieffluggebiet reicht nicht aus, um von einer ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ausgehen zu können. Vielmehr müssen besondere und außergewöhnliche Belastungsfaktoren hinzutreten, die das betroffene Grundstück und dessen näheres Umfeld deutlich von den im einschlägigen Mietspiegel erfaßten Grundstücken und von der Gesamtheit der im Tieffluggebiet gelegenen Bewertungsobjekte unterscheiden.

BewG 1965 § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1.

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Eigentümer eines am Stadtrand von A gelegenen Grundstücks, das er 1980 mit einem Einfamilienhaus bebaute. A liegt am Rand des Tieffluggebietes "area 1", in dem Militärflugzeuge Tiefflüge in einer geringen Höhe bis zu 75 m durchführten.

Mit dem Wertfortschreibungsbescheid auf den 1. Januar 1981 stellte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) den Einheitswert für das streitbefangene Grundstück im Ertragswertverfahren auf 120.500 DM fest. Dabei legte er die im Mietspiegel für A ausgewiesene übliche Miete von monatlich 3,55 DM/qm zugrunde. Am 5. September 1984 beantragte der Kläger beim FA, den Einheitswert auf den 1. Januar 1984 wegen des Tieffluglärms, der im Jahr 1983 beträchtlich zugenommen habe, um 10 v. H. zu ermäßigen. Mit Bescheid vom 11. September 1984 lehnte das FA diesen Antrag ab. Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt und gewährte einen Abschlag in Höhe von 5 v. H. des Grundstückswerts (= 5.500 DM). Es führte unter anderem aus, die Tatsache allein, daß das streitbefangene Grundstück in einem Tieffluggebiet liege, reiche für eine wesentliche Lärmbelästigung nicht aus. Es hänge vielmehr von den Umständen des Einzelfalles ab, ob ein Grundstück in einem Tieffluggebiet vom Fluglärm ungewöhnlich stark beeinträchtigt werde. Beim Grundstück des Klägers liege diese Beeinträchtigung vor. Im militärischen Tieffluggebiet "area 1" hätten nach Auskunft des Bundesministers der Verteidigung an 120 bis 140 Tagen im Jahr Tiefflüge in einer geringen Höhe von nur 75 m stattgefunden. Im Jahr 1983 seien etwa 15.600 Einflüge in das Tieffluggebiet erfolgt; das entspreche etwa 120 Flugbewegungen pro Flugtag. Wie bei einer Messung im August 1983 in B (acht bis zehn km von A entfernt) festgestellt worden sei, entstehe bei einem direkten Überflug eines Tieffliegers ein Schallpegel von 98 bis 109 dB(A). Beim Krankenhaus in A sei ein Schallpegel von über 100 dB(A) gemessen worden. In einer Schule in A seien beim Überflug einer Militärmaschine sogar mehr als 110 dB(A) registriert worden. Dieser Lärm sei nicht nur wegen seiner Stärke für menschliche Ohren besonders unangenehm. Er trete überfallartig auf und verursache Schreck- und Angstreaktionen bei Menschen und Tieren. Er habe außerdem eine Frequenz, die doppelt oder dreifach so hoch liege wie die von Verkehrsflugzeugen (Urteil des FG Nürnberg vom 11. Mai 1989 IV 153/85, EFG 1989, 500).

Bei derart hohen Schallpegelwerten von über 100 dB(A) liege jedenfalls bei Wohngebäuden eine ungewöhnlich starke Beeinträchtigung gemäß § 82 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes (BewG) vor. Dies gelte auch dann, wenn - wovon der Senat ausgehe - nicht alle der 15.600 Einflüge in das Tieffluggebiet über A geführt hätten. Daß der Lärm an den Flugtagen dennoch nicht nur vereinzelt und vorübergehend aufgetreten sei, sondern zwischen 7.00 Uhr und 17.00 Uhr immer wieder zu vernehmen gewesen sei, ergebe sich aus dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien. Wegen seines schnellen und überfallartigen Anstiegs unterscheide sich der Tieffluglärm erheblich vom übrigen Fluglärm. Er könne daher nicht in einen äquivalenten Dauerschallpegel umgerechnet werden (FG Nürnberg in EFG 1989, 500).

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Zutreffend gehen das FG und die Beteiligten davon aus, daß der Einheitswert des streitbefangenen Einfamilienhauses im Ertragswertverfahren (§§ 78 bis 82 BewG) zu ermitteln ist (vgl. § 76 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 Nr. 1 BewG).

2. Nach § 82 Abs. 1 BewG ist der durch die Anwendung des Vervielfältigers auf die Jahresrohmiete sich ergebende Grundstückswert zu ermäßigen, wenn wertmindernde Umstände vorliegen, die weder in der Höhe der Jahresrohmiete noch in der Höhe des Vervielfältigers berücksichtigt worden sind. Als solche wertmindernden Umstände kommen gemäß § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG u. a. ungewöhnlich starke Beeinträchtigungen durch Lärm in Betracht.

a) Ein Abschlag vom Grundstückswert nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats nur dann gerechtfertigt, wenn die bestimmungsgemäße ortsübliche Nutzung in erheblichem Maße beeinträchtigt wird. Bei einem Wohngebiet ist das der Fall, wenn die Bewohner gezwungen sind, ihre Lebensgewohnheiten bezüglich der Nutzung des Grundstücks in einer Weise einzuschränken, die bei einer üblichen Benutzung des Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit nicht mehr hingenommen würde (Senatsurteile vom 12. Dezember 1990 II R 97/87, BFHE 163, 229, 231, BStBl II 1991, 196, 197, unter 1., betreffend die von einer Mülldeponie ausgehenden Schadstoffemissionen, und vom 18. Dezember 1991 II R 6/89, BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279, betreffend Straßenverkehrslärm). Der gewöhnliche, übliche, wenn auch mitunter starke Lärm vermag dagegen einen Abschlag nicht zu rechtfertigen.

Die Frage, welche (möglicherweise starke) Lärmbeeinträchtigung sich noch im Rahmen des "Gewöhnlichen" ("Üblichen") hält und welche Geräuschimmissionen diese Grenzen überschreiten und eine "ungewöhnlich starke Beeinträchtigung" darstellen, kann nur unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles entschieden werden, wobei insbesondere auch die konkrete Nutzungsart des Grundstücks (z. B. Wohngrundstück, Bürogebäude, gewerblich genutzte Räume), die bauplanungsrechtliche Lage (z. B. Wohngebiet, Mischgebiet, Gewerbegebiet) und die sonstigen regionalen Verhältnisse (z. B. Lage des Grundstücks in einer Großstadt oder im ländlichen Raum) eine Rolle spielen.

Dementsprechend hat der Bundesfinanzhof (BFH) die Einwirkungen des Straßenverkehrslärms auf ein in einer Großstadt gelegenes Grundstück, die sich innerhalb der üblichen Schwankungsbreite des Straßenverkehrslärms in Großstädten bewegt, nicht als ungewöhnlich starke Lärmbeeinträchtigung i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG angesehen. In dem ebenfalls zur Frage der Ermäßigung des Grundstückswerts wegen Straßenverkehrslärms ergangenen Urteil in BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279 hat der erkennende Senat den Umstand hervorgehoben, daß die stetig zunehmende Motorisierung besonders in Großstädten und Ballungsräumen bereits am Hauptfeststellungszeitpunkt (1. Januar 1964) zu einer erheblichen Zunahme des Straßenverkehrslärms geführt habe und dieser Lärm - abgesehen von bestimmten Extrembelastungen - von der Bevölkerung weitgehend für "gewöhnlich" und "üblich" gehalten werde.

Eine ähnliche Entwicklung hat sich beim Fluglärm vollzogen. Dies galt - aus der Sicht des streitigen Stichtages - sowohl für die vom zivilen Luftverkehr als auch für die von militärischen Luftfahrzeugen ausgehenden Emissionen. Anders als beim Straßenverkehr, dessen beträchtlich gestiegene Lärmbeeinträchtigungen sich vor allem auf die Ballungszentren konzentrierten, betraf die im besonderen von Militärflugzeugen ausgehende Lärmbelastung nahezu die gesamte Fläche des (alten) Bundesgebietes. So waren Tiefflüge mit militärischen Strahlflugzeugen in einer Höhe zwischen 450 m und 150 m über dem gesamten Bundesgebiet erlaubt, ausgenommen über Großstädten, in Gefahrengebieten, in Gebieten mit genereller Flugbeschränkung, in der Flugüberwachungszone parallel zur ehemaligen DDR-Grenze sowie in bestimmten anderen Grenzgebieten. In den sieben besonderen Tieffluggebieten (areas) waren darüber hinaus Tiefstflüge bis zu einer Mindesthöhe von 75 m gestattet.

Eine "ungewöhnlich" starke Lärmbeeinträchtigung i. S. von § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG kommt dann nicht in Betracht, wenn sie weite Teile des Bewertungsgebietes oder größere Teilregionen in mehr oder minder gleicher Weise betrifft und belastet. Diese Allgemeinbetroffenheit ändert zwar nichts daran, daß bestimmte Lärmquellen erhebliche, unter Umständen gesundheitsgefährdende Belästigungen und Beeinträchtigungen hervorrufen können, wie dies insbesondere beim großstädtischen Verkehrslärm und auch bei dem hier in Rede stehenden Tieffluglärm der Fall sein kann.

Gleichwohl fehlt diesen Belastungen im Hinblick auf ihre Häufigkeit und Ortsüblichkeit der Charakter des "Un- und Außergewöhnlichen". Demgemäß hat der erkennende Senat in seinem zum Straßenverkehrslärm ergangenen Urteil in BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279 betont, § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG verlange, daß die auf das betroffene Grundstück einwirkenden Immissionen den gegendüblichen (Straßenverkehrs-)Lärm in erheblichem Umfang überträfen. Als Gegend in diesem Sinne sei der örtliche Bereich zu verstehen, den das FA in seinem, den jeweiligen Streitfall betreffenden Mietspiegel zusammengefaßt hat. Ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker (Verkehrs-)Lärmbeeinträchtigung werde im allgemeinen nur bei einzelnen, besonders intensiven Lärmbelastungen ausgesetzten Grundstücken bzw. einer kleinen - überschaubaren - Gruppe extrem belasteter Grundstücke in Betracht kommen. Würden demgegenüber ganze Stadt- oder Ortsteile mit annähernd gleicher Intensität in Mitleidenschaft gezogen, so spreche dies für die Gegendüblichkeit der Lärmimmissionen.

b) Bei Anwendung der vorstehend dargelegten Grundsätze kann im Streitfall ein Abschlag vom Gebäudewert wegen Fluglärm nicht gewährt werden.

aa) Ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker Fluglärmbeeinträchtigung schiede von vornherein dann aus, wenn dieser wertmindernde Umstand bereits in der Höhe der Jahresrohmiete berücksichtigt worden wäre (§ 82 Abs. 1 Satz 1 BewG). Letzteres träfe im Streitfall zu, wenn die hier zu beurteilende konkrete Lärmquelle oder eine vergleichbare - ähnliche - Emissionsquelle bereits am Hauptfeststellungszeitpunkt (1. Januar 1964) vorhanden gewesen wäre sowie auf alle oder einen Großteil der im Geltungsbereich des einschlägigen Mietspiegels gelegenen und vermieteten Wohngrundstücke eingewirkt und folglich die im Streitfall maßgebliche Spiegelmiete beeinflußt hätte (Senatsurteil in BFHE 166, 382, BStBl II 1992, 279, unter II. 2. a, aa).

Ohne hierzu nähere Feststellungen zu treffen, hat das FG gemeint, der Tieffluglärm habe im einschlägigen Mietspiegel von A deswegen noch keine Berücksichtigung gefunden, weil der Lärm erst im Jahre 1983 auf das vom Kläger behauptete Ausmaß angestiegen sei. Allein mit dieser Begründung läßt sich jener Schluß indessen nicht rechtfertigen. Das FG hätte vielmehr untersuchen müssen, ob und ggf. in welchem Ausmaß A bereits am und vor dem Hauptfeststellungszeitpunkt durch die Tiefflüge betroffen wurde und ob die spätere Zunahme der Lärmbelastungen auf einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (etwa einer Verlagerung der Belastungen innerhalb des Tieffluggebietes) oder lediglich auf einer wegen § 27 BewG irrelevanten allgemeinen Steigerung des Flugaufkommens beruhte. Die vom FG getroffenen Feststellungen lassen daher in diesem Punkt eine abschließende Beurteilung nicht zu. Dies ändert indessen nichts an der Spruchreife der Sache, weil die Klage aus den nachstehenden Gründen auch dann abzuweisen ist, wenn sich der in Rede stehende Fluglärm nicht in der im Streitfall zugrunde gelegten Spiegelmiete niedergeschlagen hat.

bb) Dem FG ist darin zu folgen, daß entgegen der Auffassung des FA ein Abschlag wegen ungewöhnlich starker Fluglärmbeeinträchtigung nicht ausschließlich für solche Grundstücke in Betracht kommt, die innerhalb der für die Umgebung von Verkehrsflughäfen und militärischen Flugplätzen nach den §§ 2 und 4 des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm - FlugLG - (BGBl I 1971, 282) festgesetzten Schutzzonen 1 und 2 liegen. Denn auch außerhalb dieser Schutzzonen kann die Fluglärmbelastung - namentlich durch den hier in Rede stehenden Tieffluglärm - in besonderen Ausnahmefällen ein Ausmaß erreichen, das einen Abschlag vom Grundstückswert nach § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG gebietet. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt - wie bereits dargelegt und wie auch das FG nicht verkannt hat - von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab.

Ebenso zutreffend hat das FG angenommen, daß allein die Lage eines Grundstücks in einem Tieffluggebiet nicht ausreicht, um von einer ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung i. S. des § 82 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ausgehen zu können. Die Schwere dieser Beeinträchtigungen und der dadurch verursachte Verlust an Lebensqualität für die Betroffenen werden vom Senat nicht verkannt. Nach den oben unter II. 2. a dargestellten Grundsätzen des Bewertungsrechts rechtfertigen die allgemein und üblicherweise mit der Belegenheit in einem Tieffluggebiet verbundenen Beeinträchtigungen jedoch keinen Abschlag vom Einheitswert. Vielmehr müssen besondere und außergewöhnliche Belastungsfaktoren hinzutreten, die das streitbefangene Grundstück und dessen näheres Umfeld deutlich von den vom einschlägigen Mietspiegel erfaßten Grundstücken sowie von der Gesamtheit der im Tieffluggebiet und im Geltungsbereich des BewG gelegenen Bewertungseinheiten unterscheiden. Dabei muß die Lärmbeeinträchtigung in ihrer Stärke, Häufigkeit und Dauer ein Ausmaß erreichen, das der Belastung in den Schutzzonen 1 und 2 von Militärflugplätzen vergleichbar ist.

Solche besonderen Umstände liegen im Streitfall nicht vor. Ihr Vorhandensein ist denn auch weder vom Kläger behauptet noch vom FG festgestellt worden. Soweit das FG gemeint hat, die ungewöhnlich starke Beeinträchtigung des klägerischen Grundstücks entfalle nicht dadurch, "daß im Bereich des Tieffluggebietes eine Vielzahl von Grundstücken im wesentlichen den gleichen Lärmeinwirkungen ausgesetzt (seien)", vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Die Ansicht des FG beruht auf der rechtsirrigen These, daß die Frage der ungewöhnlich starken Lärmbeeinträchtigung anhand eines Vergleichs der auf das Grundstück des Klägers einwirkenden Immissionen mit den (durchschnittlichen) Belastungen aller Grundstücke im Geltungsbereich des BewG beantwortet werden müsse.