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  BFH-Urteil vom 9.9.1993 (V R 45/91) BStBl. 1994 II S. 131

Die nach § 14 Abs. 3 Satz 2 UStG 1980 gegenüber dem Rechnungsaussteller festgesetzte Umsatzsteuer ist nicht allein deshalb gemäß § 227 AO 1977 zu erlassen, weil der Unternehmer, der die im Abrechnungspapier ausgewiesene Leistung anstelle des Ausstellers erbracht hat, die Umsatzsteuer anmeldet und abführt (Ergänzung zum Senatsurteil vom 21. Februar 1980 V R 146/73, BFHE 129, 569, BStBl II 1980, 283).

AO 1977 § 227; UStG 1980 § 14 Abs. 3 Satz 2.

Vorinstanz: FG Münster

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) - ein Rentner - rechnete mit Urkunden vom 28. Oktober 1981 und vom 2. August 1982 über die Vermittlung von Geschäften ab und wies die Umsatzsteuer jeweils gesondert aus. Der Kläger gab keine Umsatzsteuererklärungen ab. Die in den Abrechnungspapieren berechneten Vermittlungsleistungen hatte jedoch nicht der Kläger, sondern sein - unternehmerisch tätig gewordener - Schwiegersohn erbracht und die Urkunden vom Kläger unterschreiben lassen, weil er - der Schwiegersohn - abredegemäß seinen Namen nicht im Zusammenhang mit den zugrunde liegenden Vermittlungsleistungen nach außen hin bekanntwerden lassen wollte. Die Umsätze aus den Vermittlungsleistungen erfaßte er in den Umsatzsteuererklärungen 1981 und 1982.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) setzte gegenüber dem Kläger gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980) die Umsatzsteuer 1981 und 1982 bestandskräftig fest. Den Antrag des Klägers, die festgesetzte Umsatzsteuer wegen sachlicher und persönlicher Unbilligkeit zu erlassen, lehnte das FA ab. Die Beschwerde des Klägers blieb erfolglos. Auf seine Klage verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA, die festgesetzte Umsatzsteuer 1981 und 1982 zu erlassen.

Das FG führte zur Begründung im wesentlichen aus, im Streitfall sei es gelungen, eine Gefährdung des Steueraufkommens zu verhindern. Hierzu reiche es aus, wenn entweder ein ungerechtfertigter Vorsteuerabzug vermieden (= Beseitigung der Gefährdungslage auf der Empfängerseite) oder wenn - wie im Streitfall - erreicht werde, daß anstelle des Rechnungsausstellers der den Leistungsaustausch bewirkende Unternehmer die Umsatzsteuer anmelde und abführe (= Beseitigung der Gefährdungslage auf der Seite des Rechnungsausstellers/Leistenden).

Hiergegen richtet sich die auf Verletzung des § 227 der Abgabenordnung - AO 1977 - und des § 102 der Finanzgerichtsordnung - FGO - gestützte Revision des FA.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Das Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das FG hat unzutreffend einen Erlaß der festgesetzten Umsatzsteuer für zwingend geboten erachtet.

a) Gemäß § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Entscheidung ist eine Ermessensentscheidung (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603), die durch das Gericht nur nach Maßgabe des § 102 FGO auf Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens oder Ermessensfehlgebrauchs geprüft werden kann.

b) Die vom FG ausgesprochene Erlaßverpflichtung ist nach diesem Prüfungsmaßstab nicht gerechtfertigt. Das Ermessen des FA war nicht auf Null reduziert. Das Urteil war daher aufzuheben.

aa) Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer aus sachlichen Gründen - wie sie vom Kläger geltend gemacht und vom FG bejaht wurde - kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) in Betracht, wenn die Besteuerung - unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen - im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist. Das ist der Fall, soweit nach dem erklärten oder mutmaßlichen - objektivierten - Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, der Gesetzgeber würde die Frage - hätte er sie geregelt - im Sinn der beantragten Billigkeitsentscheidung beantwortet haben. Erfüllt ein Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand, läuft aber die Besteuerung den Wertungen des Gesetzgebers zuwider, kann ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein. Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewußt in Kauf genommen hat, stehen jedoch dem Erlaß entgegen (Senatsentscheidung vom 24. September 1987 V R 76/78, BFHE 151, 221, BStBl II 1988, 561, m. w. N. - ständige Rechtsprechung des BFH -).

bb) Im Streitfall war die Festsetzung der Umsatzsteuer gemäß § 14 Abs. 3 Satz 2 UStG 1980 durch den Sachverhalt gerechtfertigt; denn der Kläger hat die Abrechnungspapiere unterschrieben und damit ausgestellt (BFH-Urteil vom 16. März 1993 XI R 103/90, BFHE 171, 125, BStBl II 1993, 531). Er hat wie ein leistender Unternehmer abgerechnet und einen Steuerbetrag gesondert ausgewiesen, obwohl er nicht Unternehmer ist und die Leistung nicht ausgeführt hat.

cc) Diese Besteuerung läuft entgegen der Auffassung des FG nicht bereits deshalb den Wertungen des § 14 Abs. 3 Satz 2 UStG 1980 zuwider, weil der Schwiegersohn, der die Leistungen tatsächlich erbracht hat, die Umsatzsteuer seinerseits angemeldet und abgeführt hat.

Zweck des § 14 Abs. 3 UStG 1980 ist es, Mißbräuchen in bezug auf den Vorsteuerabzug zu begegnen. Dementsprechend ist die Vorschrift als Gefährdungstatbestand ausgestaltet. Wer mit einer Rechnung oder anderen Urkunde eine Gefährdung bzw. Schädigung des Umsatzsteueraufkommens ausgelöst hat, muß hierfür einstehen.

Auf ein vorwerfbares Verhalten kommt es dabei nicht an. Der gesetzliche Tatbestand verlangt weder die Kenntnis des Ausstellers der Rechnung oder der anderen Urkunde darüber, daß der Empfänger diese mißbräuchlich verwendet, noch ist eine dahingehende Absicht erforderlich (ständige Rechtsprechung; vgl. Senatsentscheidung vom 30. Juli 1992 V R 73/88, BFH/NV 1993, 443; BFH-Urteile vom 5. August 1988 X R 66/82, BFHE 155, 193, BStBl II 1988, 1019, und in BFHE 171, 125, BStBl II 1993, 531).

Der Senat hat in seinem Urteil vom 21. Februar 1980 V R 146/73 (BFHE 129, 569, BStBl II 1980, 283, unter 4. der Gründe) eine Billigkeitsmaßnahme für geboten erachtet, wenn der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens durch eigene Maßnahmen rechtzeitig und vollständig beseitigt und es ihm gelingt, das von ihm ausgestellte Abrechnungspapier vor Verwendung durch den Rechnungsadressaten wieder in die Hand zu bekommen. Dem steht gleich, wenn der Aussteller zwar die ausgestellte Rechnung nicht wieder zurückerlangen kann, aber die Gefährdungslage durch rechtzeitige andere Maßnahmen (z. B. Anzeige bei seinem oder bei dem für den Rechnungsadressaten zuständigen FA) beseitigt. Als andere Maßnahme, die die Gefährdungslage vollständig entfallen läßt, reicht es jedoch entgegen der Auffassung des FG nicht aus, wenn der Unternehmer, der die Leistung anstelle des Ausstellers des Abrechnungspapiers erbracht hat, die streitige Umsatzsteuer anmeldet und abführt. Damit erfüllt dieser Unternehmer seine von einer Rechnungsausstellung unabhängige Steuerschuld. Er kommt lediglich seiner eigenen umsatzsteuerrechtlichen Erklärungs- und Abführungspflicht nach. Auch in diesem Fall besteht indes die Gefahr, daß der Empfänger der Urkunden die vom Aussteller zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abzieht, obwohl die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG 1980 nicht vorliegen. Denn gemäß § 15 Abs. 1 UStG 1980 darf der Unternehmer unter bestimmten weiteren Voraussetzungen nur die vom leistenden Unternehmer in einer Rechnung i. S. des § 14 Abs. 4 UStG 1980 gesondert ausgewiesene Steuer als Vorsteuer abziehen.

2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat noch nicht über die vom Kläger geltend gemachten weiteren sachlichen und die persönlichen Billigkeitsgründe entschieden. Dies muß das FG in einer neuen Verhandlung und Entscheidung nachholen.