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  BFH-Urteil vom 29.10.1993 (VI R 4/87) BStBl. 1994 II S. 194

1. Kommt es wegen fehlerhafter Abführung der Sozialversicherungsbeiträge zu einer Beitragsnachentrichtung durch den Arbeitgeber an den Träger der Sozialversicherung, so liegt hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile nur dann die Gewährung zusätzlichen steuerpflichtigen Arbeitslohnes vor, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Nettolohnvereinbarung getroffen haben oder der Arbeitgeber zwecks Steuer- und Beitragshinterziehung die Unmöglichkeit einer späteren Rückbelastung beim Arbeitnehmer bewußt in Kauf genommen hat.

2. Eine Gewährung zusätzlichen Arbeitslohnes liegt dagegen nicht vor, wenn es der Arbeitgeber irrtümlich unterläßt, den Barlohn des Arbeitnehmers um den gesetzlichen Arbeitnehmeranteil zu kürzen und die Unmöglichkeit einer Rückbelastung wegen Eintritts der gesetzlichen Lastenverschiebung (§ 395 Abs. 2 und § 1397 Abs. 3 RVO a. F., § 28 g SGB IV) zum endgültigen Verbleiben des Vorteils beim Arbeitnehmer führt (Anschluß an das BFH-Urteil vom 21. Februar 1992 VI R 41/88, BFHE 166, 558, BStBl II 1992, 443).

EStG § 19 Abs. 1 Nr. 1; RVO a. F. §§ 395, 1397; SGB IV § 28 g.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG

Sachverhalt

Aufgrund der Feststellungen einer 1977 durchgeführten sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfung hatte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) für verschiedene Leistungen an Arbeitnehmer (u. a. unentgeltliches Mittagessen des Kantinenpersonals, Zuschüsse zum Mittagessen der Auszubildenden) Sozialversicherungsbeiträge nachzuentrichten. Die Beitragsnachzahlung wurde pauschal in einer Summe ermittelt und deshalb nicht auf die persönlichen Versicherungskonten der Arbeitnehmer verteilt. In der Nachzahlung waren Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung in Höhe von 8.045,94 DM enthalten.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) sah im Anschluß an eine 1979 durchgeführte Lohnsteueraußenprüfung die Übernahme der Arbeitnehmeranteile durch die Klägerin als zusätzlichen Arbeitslohn an und forderte mit Pauschalierungsbescheid vom 13. September 1979 (geändert durch Bescheid vom 19. September 1986) gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Lohnsteuer in Höhe von 1.770,11 DM nach.

Die hiergegen erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) setzte den Nachforderungsbetrag um 1.064,41 DM herab. Es führte aus, die Klage sei begründet, soweit sie sich gegen die Nachversteuerung der auf die unentgeltlichen Kantinenmahlzeiten sowie auf die Essenszuschüsse entfallenden Arbeitnehmeranteile richte. Diese zusätzlichen Leistungen seien offenbar gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG pauschal lohnversteuert worden und gehörten deshalb nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 der Arbeitsentgeltverordnung 1977 (ArEV) nicht zum sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelt. Da die Arbeitnehmer insoweit nicht beitragspflichtig gewesen seien, stelle die Übernahme der Arbeitnehmeranteile für sie keinen Vorteil dar und könne mithin nicht als Arbeitslohn nachversteuert werden. Zwar hätten die Beteiligten nicht angeben können, ob und wie die den Arbeitnehmern gewährten Leistungen lohnversteuert worden seien. Entsprechend den Gepflogenheiten im Wirtschaftsleben sowie der Vorgehensweise der Klägerin in anderen Fällen gehe das FG jedoch davon aus, daß die Klägerin für diese Leistungen tatsächlich Lohnsteuer mit einem Pauschsteuersatz abgeführt habe.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verfahrensfehler (Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten) sowie Verstöße gegen materielles Recht.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das Niedersächsische Finanzministerium (NdsFM) sind dem Verfahren beigetreten.

Das BMF trägt u. a. vor:

Die Beitragslastverschiebung auf den Arbeitgeber gemäß § 28 g Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) bewirke, daß der Arbeitnehmer nicht mehr mit einem Abzug seines Beitragsanteils vom Bruttoarbeitsentgelt zu rechnen brauche und er in dieser Höhe endgültig bereichert sei. Steuerlich sei in Höhe dieser endgültigen Bereicherung ein geldwerter Vorteil für den einzelnen Arbeitnehmer zu sehen. Es komme nicht darauf an, ob die individuelle Rechtsposition des Arbeitnehmers gebessert oder nur allgemein die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung gestärkt werde. Auch bei der pauschalen Nachentrichtung des Arbeitnehmeranteils zur Sozialversicherung durch den Arbeitgeber werde der Arbeitnehmer von seiner ursprünglichen Beitragslast befreit. Darin liege eine steuerpflichtige Lohnzuwendung. Der Zufluß des geldwerten Vorteils sei endgültig mit dem Zeitpunkt der gesetzlichen Beitragslastverschiebung anzunehmen, von dem an die Rückbelastung durch den Arbeitgeber ausgeschlossen sei. Die beitragsrechtliche Bewertung der vom Arbeitgeber nachentrichteten Arbeitnehmeranteile sei für den steuerlichen Arbeitslohnbegriff nicht von Bedeutung.

Das BMF hat eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) eingeholt, welches seinerseits die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger beteiligt hat. Das BMA führt u. a. aus:

Verzichte der Arbeitgeber bei irrtümlich unterbliebenem Beitragsabzug ausdrücklich oder konkludent darauf, diesen nachzuholen, stelle die Befreiung von der Beitragslast für den Arbeitnehmer einen zugewendeten geldwerten Vorteil und damit Arbeitsentgelt dar. Sei jedoch die gesetzliche Beitragslastverschiebung nach § 28 g SGB IV eingetreten, könne der Arbeitgeber nicht mehr verzichten, sondern müsse den Arbeitnehmeranteil nun kraft Gesetzes tragen. Insoweit fehle es an einer Zuwendung des Arbeitgebers, das Arbeitsentgelt erhöhe sich daher nicht. Dieses Ergebnis werde im Interesse eines möglichst einfachen Steuer- und Beitragsabzugs auch für die Besteuerung befürwortet.

Für die Sozialversicherungsträger hat sich der AOK-Bundesverband geäußert. Er vertritt die Ansicht, die aufgrund der gesetzlichen Beitragslastverschiebung vom Arbeitgeber allein zu tragenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge stellten kein nochmals der Beitragsberechnung zu unterwerfendes Arbeitsentgelt dar. Anderenfalls würde die gerade mit § 28 g SGB IV bezweckte Freistellung des Arbeitnehmers von Beitragsabzügen konterkariert.

Das NdsFM legt dar:

Hole der Arbeitgeber den bei der Lohnzahlung unterlassenen Abzug des Arbeitnehmeranteils vom Arbeitsentgelt nicht in der Frist des § 28 g Satz 3 SGB IV nach, so erlösche seine Rückgriffsmöglichkeit kraft Gesetzes. Aus der Sicht des Arbeitnehmers erlösche die Rückgriffsschuld. In diesem Freiwerden von einer Verbindlichkeit liege eine Vermögensmehrung auf seiten des Arbeitnehmers. Werde diese Vermögensmehrung vom Arbeitgeber willentlich herbeigeführt (z. B. bei Nettolohnvereinbarungen oder Zahlung von Schwarzlöhnen), so liege steuerrechtlich Arbeitslohn vor (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 21. Februar 1992 VI R 41/88, BFHE 166, 558, BStBl II 1992, 443). Aber auch im Falle der Bereicherung des Arbeitnehmers durch fahrlässiges Erlöschenlassen des Rückgriffsanspruchs sei steuerlich Lohn anzunehmen. Die beim Arbeitnehmer eintretende Bereicherung beruhe zwar auf dem Gesetz, sei aber auf ein dem Arbeitgeber zurechenbares Verhalten zurückzuführen. Verneinte man hier den Lohnbegriff, so würde der Arbeitnehmer eines unsorgfältigen Arbeitgebers steuerlich ohne überzeugenden Grund bessergestellt als der Arbeitnehmer eines pflichtbewußten Arbeitgebers.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das FG das Vorliegen von steuerpflichtigem Arbeitslohn verneint.

1. Es kann dahinstehen, ob das FG bei seiner Feststellung, die Klägerin habe die Essenszuschüsse gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG pauschal versteuert, gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen hat. Denn die Nachzahlung der Arbeitnehmeranteile durch die Klägerin kann selbst dann nicht als Gewährung zusätzlichen Arbeitslohns angesehen werden, wenn entsprechend dem Vortrag des FA nur eine pauschale Nacherhebung von Lohnsteuer gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG stattgefunden haben sollte und demzufolge die Zuschüsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 ArEV (bzw. für Lohnzahlungen vor dem 30. Juni 1977 nach Nr. 1 Ziff. 4 des gemeinsamen Erlasses des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 10. September 1944, RStBl 1944, 580) von der Beitragspflicht befreit und somit dem Arbeitsentgelt zuzurechnen wären (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 27. September 1983 12 RK 10/82, BSGE 55, 297; ebenso Landessozialgericht Bayern vom 16. Dezember 1986 L 4 Kr 46/84, Wirtschaftsrechtliche Entscheidungen - EWiR - § 14 SGB IV 1/87, 1237).

2. Gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit sämtliche Bezüge und Vorteile, die dem Arbeitnehmer für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden.

a) Die Nachentrichtung der Arbeitnehmeranteile durch die Klägerin hat zwar zu einem zusätzlichen geldwerten Vorteil auf seiten der Arbeitnehmer geführt, denen die Kantinenmahlzeiten und Essenszuschüsse gewährt worden waren. Der Vorteil besteht allerdings nicht in der Nachzahlung der Beiträge als solcher, denn damit erfüllte die Klägerin rechtlich (vgl. § 28 e Abs. 1 SGB IV) wie wirtschaftlich (vgl. § 28 g SGB IV) lediglich ihre originäre eigene Verbindlichkeit als Arbeitgeber. Die Bereicherung der Arbeitnehmer liegt vielmehr darin, daß ihnen nach Ablauf der hierfür geltenden Frist der Arbeitgeber nicht mehr den Arbeitnehmeranteil des Sozialversicherungsbeitrags vom Arbeitslohn einbehalten konnte (§ 395 Abs. 2, § 1397 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - a. F., § 179 Nr. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -; jetzt § 28 g Satz 3 SGB IV). Durch ihre endgültige Befreiung von der sozialversicherungsrechtlichen Beitragslast hat sich die Vermögenslage der Arbeitnehmer verbessert.

b) Dieser Vorteil ist den Arbeitnehmern aber nicht i. S. von § 19 Abs. 1 Satz 1 EStG von der Klägerin "für eine Beschäftigung gewährt" worden. Bei den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit gilt grundsätzlich das Veranlassungsprinzip (vgl. BFH-Urteil vom 25. Mai 1992 VI R 85/90, BFHE 167, 542, BStBl II 1992, 655, m. w. N.). Für die Qualifizierung eines Vorteils als Arbeitslohn ist maßgebend, ob der Vorteil durch das individuelle Arbeitsverhältnis veranlaßt ist, insbesondere ob ihm Entlohnungscharakter zukommt. Im Streitfall hängt die Bereicherung der Arbeitnehmer zwar objektiv mit ihrem Arbeitsverhältnis zusammen. An einer Lohnzuwendung fehlt es jedoch deshalb, weil die Bereicherung durch die Verschiebung der sozialversicherungsrechtlichen Beitragslast, d. h. kraft Gesetzes, eingetreten ist. Der objektive Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis tritt bei wertender Betrachtung hinter der Schutzfunktion der gesetzlichen Beitragslastverschiebung zurück. Insoweit wirkt sich die Regelung, daß der Arbeitnehmer nach einer gewissen Zeit nicht mehr mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden soll, obwohl er dadurch eine Bereicherung erfährt, als Schutznorm auch im Steuerrecht aus.

c) Dieses Ergebnis dient insoweit der Klarheit, als damit ein gegenseitiges Hochrechnen von Steuern und Beiträgen vermieden wird. Denn die Übernahme einer Steuer auf die Beitragsnachentrichtung durch den Arbeitgeber wäre ihrerseits als beitragsrechtliches Arbeitsentgelt zu bewerten mit der Folge, daß darauf Sozialversicherungsbeiträge entfielen. Die Auffassung des Senats befindet sich damit auf der Linie der Rechtsprechung des BSG, das bei der Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen durch den Arbeitgeber die Zuwendung eines zusätzlichen Vorteils zum gezahlten Barlohn verneint, so daß eine Erhebung von "Beiträgen auf Beiträge", d. h. von Beiträgen auf nicht einbehaltene und nunmehr vom Arbeitgeber zu tragende Arbeitnehmeranteile, ausscheidet (Urteil vom 22. September 1988 12 RK 36/86, BSGE 64, 110, Betriebs-Berater - BB - 1989, 1762).

3. Die Gewährung zusätzlichen steuerpflichtigen Arbeitslohnes ist demgegenüber nur dann anzunehmen, wenn der Eintritt der gesetzlichen Lastenverschiebung auf einem bewußten und gewollten Rückbelastungsverzicht des Arbeitgebers beruht.

a) Ein derartiger Verzicht liegt einmal bei einer Nettolohnvereinbarung vor, bei der im wirtschaftlichen Ergebnis Steuer auf Steuer und Steuer auf Beiträge zu entrichten ist. Dementsprechend ist für die Sozialversicherung in § 14 Abs. 2 SGB IV ausdrücklich bestimmt, daß bei der Nettolohnvereinbarung als beitragsrechtliche Bemessungsgrundlage die Einnahmen des Arbeitnehmers einschließlich der darauf entfallenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge anzusehen sind.

b) Die Nachentrichtung von Arbeitnehmeranteilen führt auch dann zur Gewährung zusätzlichen Arbeitslohnes, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Auszahlung von sog. Schwarzlöhnen vereinbart hatten (BFH-Urteil in BFHE 166, 558, BStBl II 1992, 443). Denn bei dieser Fallgestaltung muß berücksichtigt werden, daß die gesetzliche Verschiebung der Beitragslast auf dem zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages von Anfang an gefaßten Gesamtplan zur Beitrags- und Steuerhinterziehung beruht und der Arbeitgeber hierbei für den Fall der Aufdeckung der Hinterziehung die Unmöglichkeit einer Rückbelastung des Arbeitnehmers in Kauf genommen hat (vorweggenommener Rückbelastungsverzicht).

c) Soweit jedoch über die Fälle der Nettolohnvereinbarung und der Schwarzlohnvereinbarung hinaus die endgültige Befreiung des Arbeitnehmers von seiner Beitragslast auf einem Irrtum des Arbeitgebers beruht, kann hierin nicht die Gewährung eines zusätzlichen Entgeltes i. S. von § 19 Abs. 1 EStG gesehen werden. Es handelt sich vielmehr lediglich um die Konsequenz der zum Schutz des Arbeitnehmers getroffenen gesetzlichen Regelung des Sozialversicherungsrechts.

4. Da nach den Feststellungen des FG im Streitfall keine Anhaltspunkte für eine Nettolohn- oder eine Schwarzlohnvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern bestehen, eine weitere Aufklärung insoweit ausgeschlossen erscheint und das FA für die tatsächlichen Voraussetzungen steuererhöhender Umstände die Feststellungslast trägt, kann im Zusammenhang mit der Nachentrichtung der Arbeitnehmeranteile durch die Klägerin keine Gewährung zusätzlichen Arbeitslohns gesehen werden. Die Revision des FA war daher als unbegründet zurückzuweisen.