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  BFH-Urteil vom 27.7.1993 (VII R 11/93) BStBl. 1994 II S. 259

1. Ein Umstand, der objektiv nicht geeignet ist, eine Verletzung der Chancengleichheit von Prüfungskandidaten zu bewirken, kann auch über die subjektive Fehlvorstellung eines Kandidaten, er werde gegenüber anderen Prüflingen benachteiligt, nicht zu einem wesentlichen Verfahrensmangel wegen psychischer Beeinträchtigung führen.

2. Zum Gebot der rechtzeitigen Geltendmachung von Einwendungen gegen den Prüfungsablauf wegen Störungen, die durch äußere Einwirkungen verursacht worden sind.

DVStB §§ 18 Abs. 2 Satz 1, 20 Abs. 4; StBerG § 164 a Abs. 1; AO 1977 § 349 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) nahm als Wiederholerin am schriftlichen Teil der Steuerberaterprüfung 1990 in Freiburg teil. Die von ihr angefertigten Aufsichtsarbeiten wurden vom Prüfungsausschuß wie folgt bewertet: Verfahrensrecht und andere Steuerrechtsgebiete 4,5; Ertragsteuerrecht 5,5 und Buchführung und Bilanzwesen 4,5. Mit Bescheid vom 14. Januar 1991 teilte der Beklagte und Revisionskläger (Finanzministerium) der Klägerin mit, sie habe die Prüfung nicht bestanden, weil die Gesamtnote für die schriftliche Prüfung die Zahl 4,5 übersteige (§ 25 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften - DVStB -).

Mit der Klage machte die Klägerin geltend, bei der schriftlichen Steuerberaterprüfung 1990 sei die Geheimhaltungspflicht gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 DVStB verletzt worden. Am 2. Oktober 1990 seien in einem Prüfungssaal in Karlsruhe anstelle der für diesen Prüfungstag bundeseinheitlich vorgesehenen Verfahrensrechtsklausur versehentlich zunächst die Prüfungsaufgaben für die Ertragsteuerklausur ausgeteilt worden, so daß die dortigen Kandidaten bis zum Wiedereinsammeln Gelegenheit gehabt hätten, diesen Aufgabentext, der am 5. Oktober 1990 zu bearbeiten war, einzusehen. Bei ihr habe sich dieser Vorteil der Karlsruher Kandidaten als ein "psychologisches Manko" dahin gehend ausgewirkt, daß sie nicht ihre volle Leistungsfähigkeit habe erbringen können.

Die Klage führte zur Aufhebung des Prüfungsbescheids. Das Finanzgericht (FG) führte zwar unter Bezugnahme auf die den Beteiligten bekanntgegebenen Feststellungen und Entscheidungen eines anderen FG-Senats sowie anderer FG zum Verfahren bei der schriftlichen Steuerberaterprüfung 1990 aus, es könne ausgeschlossen werden, daß das beanstandete Prüfungsverfahren die Wertung der Prüfungsarbeit aus dem Ertragsteuerrecht negativ beeinflußt haben könne. Die Klägerin habe dagegen auch keine substantiierten Einwendungen erhoben.

Die Klägerin habe allerdings glaubhaft dargelegt, sie habe erst kurz vor Prüfungsbeginn von dem Vorgang in Karlsruhe erfahren und dann im Prüfungstext eine Bestätigung dafür gefunden, daß Mitbewerbern die Prüfungsthemen bekannt seien. Unter derartigen Umständen lasse sich nicht ausschließen, daß sich situationsbedingt ein - wie von der Klägerin bezeichnet - psychologisches Manko einstelle, das den Prüfling daran hindere, seine volle Leistungsfähigkeit zu entfalten. Der enge zeitliche Zusammenhang der Information mit dem Beginn der schriftlichen Prüfung und ein erhöhter Prüfungsdruck bei einer erstmaligen Wiederholung der Prüfung könne nach der allgemeinen Lebenserfahrung einen erheblichen Leistungsabfall bewirken, der erst nach einiger Zeit der Beruhigung wieder behoben werden könne. In der für die schriftliche Prüfungsarbeit zur Verfügung stehenden Zeitspanne unter dem wachsenden Druck, mit der Arbeit fertig zu werden, dürfe dies kaum möglich gewesen sein. Wegen der besonderen psychischen Belastung der Klägerin als Folge des Vorfalls in Karlsruhe sei sonach die Chancengleichheit nicht gewahrt gewesen.

Mit der Revision macht das Finanzministerium geltend, ein durchschnittlicher Prüfungskandidat, auf den für die Entscheidung abzustellen sei, wäre unter den im Streitfall gegebenen Bedingungen bereits nach kurzer Zeit in der Lage gewesen, sich auf die Prüfungsarbeit zu konzentrieren und seine volle Leistungsfähigkeit zu entfalten. Im übrigen seien nach § 20 Abs. 4 DVStB Einwendungen gegen den Ablauf der Prüfung wegen Störungen, die durch äußere Einwirkungen verursacht worden seien, unverzüglich, spätestens bis zum Ende der Bearbeitungszeit der jeweiligen Aufsichtsarbeit durch Erklärung gegenüber dem Aufsichtführenden geltend zu machen. Einen derartigen Verfahrensfehler habe die Klägerin jedoch nicht gerügt. Wenn sie nunmehr vortrage, sie habe durch den Vorgang in Karlsruhe einen psychologischen Nachteil erlitten, hätte sie dies während der Bearbeitungszeit der Ertragsteuerklausur dem Aufsichtführenden gegenüber erklären müssen. In diesem Falle wäre es möglich gewesen, ggf. Untersuchungen darüber anstellen zu lassen, ob die Klägerin über das normale Maß hinausgehende psychische Reaktionen auf derartige Situationen zeige oder ob ihre Reaktionen im Rahmen des üblichen Verhaltens durchschnittlicher Kandidaten blieben. Da sich Prüflinge während einer Prüfung stets in einer besonderen Situation befänden, sei die Situation der Klägerin heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine Rüge bereits während der Bearbeitungszeit sei auch zumutbar gewesen. Das FG habe die Frage der Rügepflicht zu Unrecht in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.

Das Finanzministerium beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Finanzministeriums ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage gegen die Prüfungsentscheidung.

1. Die versehentliche, kurzfristige Austeilung des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur am 2. Oktober 1990 - drei Tage vor dem für diese Arbeit vorgesehenen Prüfungstag - an die Prüfungskandidaten in einem Prüfungssaal in Karlsruhe und die ggf. darin liegende Verletzung der Geheimhaltungspflicht für die Prüfungsaufgaben (§ 18 Abs. 2 Satz 1 DVStB) können für sich allein gesehen die Vorentscheidung nicht rechtfertigen. Verfahrensfehler führen nämlich nur dann zur Aufhebung der Prüfungsentscheidung, wenn sich nicht ausschließen läßt, daß bei Beachtung der den Prüfling begünstigenden Verfahrensvorschriften von ihm ein besseres Ergebnis erzielt worden wäre (Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 426). Im Streitfall liegt ein in diesem Sinne prüfungsrelevanter Verfahrensfehler nicht vor.

2. a) Das FG hat den von der Klägerin geltend gemachten Mangel des Prüfungsverfahrens zu Recht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Chancengleichheit geprüft. Der Grundsatz der Chancengleichheit als prüfungsrechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) verlangt, daß den Prüflingen Gelegenheit gegeben wird, ihre Prüfungsleistungen unter möglichst gleichartigen äußeren Prüfungsbedingungen zu erbringen. Die Chancengleichheit ist verletzt, wenn das Prüfungsverfahren durch äußere Einwirkungen (z. B. durch Lärm) erheblich gestört wird. Denn derartige Störungen sind geeignet, das Leistungsvermögen der Prüflinge zu beeinträchtigen und damit die der Störung ausgesetzte Gruppe gegenüber den nicht gestörten Prüflingen zu benachteiligen (vgl. Urteil des Senats vom 10. März 1992 VII R 87/90, BFHE 167, 480, 482, BStBl II 1992, 634, m. w. N.). Zu diesen äußeren Prüfungsbedingungen, die die Chancengleichheit wesentlich beeinträchtigen können, gehören insbesondere Umstände, die geeignet sind, die Konzentration des Prüflings zu stören, von denen aber andere Kandidaten, die zu anderer Zeit, an anderen Orten und unter anderen Umständen geprüft werden, nicht beeinträchtigt werden. Gleiches gilt, wenn durch einseitige Informationen (Indiskretionen) über Prüfungsthemen bei einem Teil der Prüflinge der Leistungsnachweis verfälscht oder zumindest Prüfungsangst und Unsicherheit wesentlich gemindert werden (Niehues, a. a. O., Rdnr. 404).

b) Das FG ist davon ausgegangen, daß durch die versehentliche Austeilung des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur an die Prüfungskandidaten in Karlsruhe drei Tage vor dem Prüfungstag, an dem diese Arbeit anzufertigen war, die Chancengleichheit anderer Prüflinge, die - wie die Klägerin - nicht vorzeitig in den Aufgabentext Einblick nehmen konnten, objektiv nicht verletzt worden ist. Diese Tatsachenwürdigung hat das FG auf die Feststellungen des IV. Senats desselben Gerichts sowie auf Urteile anderer FG gestützt, die sich mit den Umständen und insbesondere der Dauer der vorzeitigen Ausgabe des Aufgabentextes der Ertragsteuerklausur an die Kandidaten in Karlsruhe befaßt haben. Es hat unter Berufung auf die dort getroffenen Feststellungen u. a. ausgeführt, daß die spärliche (kurzfristige) Kenntnisnahme von dem Aufgabentext den Kandidaten in Karlsruhe allenfalls marginale Vorteile gebracht habe und die Wertung der Prüfungsarbeit der Klägerin dadurch nicht negativ beeinflußt worden sei.

Das Revisionsgericht ist nach § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an die Schlußfolgerungen tatsächlicher Art, die das FG aufgrund des festgestellten Sachverhalts im Rahmen der ihm obliegenden Tatsachenwürdigung zieht, gebunden, wenn diese verfahrensrechtlich einwandfrei zustande kommen und nicht durch Denkfehler oder die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflußt sind; das gilt auch dann, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich sind (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 118 Rz. 29, 40, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor.

....

3. Soweit das FG - trotz Fehlens einer Benachteiligung im objektiven Sinne (vgl. 2. b) - eine prüfungsrelevante Verletzung der Chancengleichheit der Klägerin darin sieht, daß bei dieser wegen ihrer Kenntnis von dem Vorgang in Karlsruhe und der von ihr angenommenen Begünstigung der dortigen Kandidaten eine psychische Belastung sich nicht ausschließen lasse, die einen erheblichen Leistungsabfall bewirkt habe, vermag der Senat dem nicht zu folgen.

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß ein Umstand, der objektiv nicht geeignet ist, eine Verletzung der Chancengleichheit von Prüfungskandidaten zu bewirken, auch über die subjektive Fehlvorstellung eines Kandidaten, er werde gegenüber anderen Prüflingen benachteiligt, nicht zu einem wesentlichen Verfahrensmangel führt. Die Klägerin trägt - ohne nähere Substantiierung ihrer Behauptungen - vor, sie habe kurz vor Beginn der Ertragsteuerklausur von dem Vorgang in Karlsruhe erfahren und dann im Aufgabentext eine Bestätigung dafür gefunden, daß ihren Mitbewerbern die Prüfungsthemen bekannt seien. Dadurch habe sich bei ihr ein psychologisches Manko eingestellt, das ihre Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt habe. Sie habe angenommen, daß die Prüfungsbehörde in Kenntnis des ihr bekannten Verstoßes gegen die Pflicht zur Geheimhaltung der Prüfungsaufgaben eine Verletzung der Chancengleichheit billigend in Kauf nehme. Diese mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Vorstellung der Klägerin von der Verletzung der Chancengleichheit ist - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - für sich allein gesehen nicht geeignet, einen prüfungsrelevanten Verfahrensfehler zu begründen.

Zwar kann durch die äußeren Prüfungsbedingungen oder durch bestimmte im Verlauf der Prüfung eintretende Umstände, die geeignet sind, die Konzentration der Prüflinge zu stören, die Chancengleichheit der Prüflinge verletzt werden. Wie oben ausgeführt (vgl. 2.a), kann dies auch durch einseitige Informationen über Prüfungsthemen geschehen, durch die zumindest die Prüfungsangst und Unsicherheit bei einem Teil der Prüflinge gemindert, bei dem anderen, nicht informierten Teil dagegen verstärkt werden kann. Diese auf die Konzentration und damit auf die Leistungsfähigkeit des Prüflings einwirkenden Umstände müssen aber einer objektiven Bewertung standhalten. Sie sind prüfungsrechtlich unerheblich, wenn sie - wie hier die Annahme von der Begünstigung der Kandidaten in Karlsruhe - nur auf der subjektiven Fehlvorstellung eines Prüflings beruhen.

Das FG begründet seine gegenteilige Ansicht von der prüfungserheblichen besonderen psychischen Belastung der Klägerin durch den Vorfall in Karlsruhe mit dem erhöhten Prüfungsdruck, unter dem die Klägerin als Wiederholerin der Steuerberaterprüfung stand. Umstände, die sich nur bei einem gegenüber den psychischen Belastungen der Prüfung besonders anfälligen Prüfling leistungsmindernd auswirken, sind aber nicht zu berücksichtigen. Besondere persönliche Dispositionen, wie erhöhter Prüfungsstreß und Examensängste, die nicht schon den Grad einer Krankheit erreichen und zumeist nicht hinreichend meßbar sind, gehören zum Risikobereich des Prüflings; durch sie wird der Grundsatz der Chancengleichheit nicht verletzt (vgl. Niehues, a. a. O., Rdnrn. 388 und 406, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Dies muß auch gelten hinsichtlich der besonderen psychischen Empfindlichkeit eines Prüfungswiederholers gegenüber vermeintlichen Vorteilen anderer Prüfungskandidaten. Es ist davon auszugehen, daß ein durchschnittlich belastbarer Prüfungskandidat, auf den für die Entscheidung abzustellen ist, in der Lage gewesen wäre, sich auf die Lösung der Prüfungsaufgabe zu konzentrieren und seine volle Leistungsfähigkeit zu entfalten, auch wenn er der Auffassung war, die Kandidaten in Karlsruhe hätten durch die kurzfristige vorzeitige Ausgabe der Ertragsteueraufgabe einen Prüfungsvorteil erlangt. Das gilt um so mehr, als bei der schriftlichen Steuerberaterprüfung die Bewertung der einzelnen Arbeiten - wie das FG zutreffend ausgeführt hat - nicht von dem (durchschnittlichen) Leistungsstand der insgesamt abgegebenen Arbeiten abhängig ist (vgl. Niehues, a. a. O., Rdnr. 403 am Ende).

4. Die Revision weist im übrigen zu Recht darauf hin, daß der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensfehler im gerichtlichen Verfahren nicht mehr berücksichtigt werden kann, weil er nicht rechtzeitig gerügt worden ist. Nach § 20 Abs. 4 DVStB sind Einwendungen gegen den Ablauf der Prüfung wegen Störungen, die durch äußere Einwirkungen verursacht worden sind, unverzüglich, spätestens bis zum Ende der Bearbeitungszeit der jeweiligen Aufsichtsarbeit, durch Erklärung gegenüber dem Aufsichtführenden geltend zu machen. Die Klägerin beruft sich auf eine psychische Beeinträchtigung ihrer Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, die durch äußere Einwirkungen in den Prüfungsablauf, nämlich die vorzeitige Ausgabe des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur in einem Prüfungssaal in Karlsruhe, verursacht worden ist. Da nach ihrem Vorbringen die prüfungserhebliche psychische Beeinträchtigung - ebenso wie etwa eine Störung der Konzentrationsfähigkeit durch Lärm - durch ein von außen kommendes, nicht in der Person der Klägerin begründetes Ereignis verursacht worden ist, hätte die Klägerin ihre Einwendungen gegen den Prüfungsablauf gemäß § 20 Abs. 4 DVStB spätestens bis zum Ende der Bearbeitungszeit der Ertragsteuerklausur gegenüber dem Aufsichtführenden geltend machen müssen. Sie hat sich aber erst im gerichtlichen Verfahren - und damit verspätet - auf den angeblichen Verfahrensmangel berufen.

Das Gebot der rechtzeitigen Rüge derartiger Einwendungen gegen den Prüfungsablauf findet seine Rechtfertigung darin, daß es den Prüfungsbehörden in der Regel nur bei seiner Beachtung möglich ist, die Berechtigung der Einwendungen zu überprüfen und die Störung ggf. noch vor Ablauf der Prüfung zu beseitigen. Das Finanzministerium weist zutreffend darauf hin, daß wegen der verspäteten Geltendmachung der psychischen Beeinträchtigung durch die Klägerin nicht mehr festgestellt werden kann, ob deren psychische Reaktionen während der Prüfung tatsächlich über das normale Maß hinausgingen, die eine Prüfung regelmäßig auch bei durchschnittlich belastbaren Kandidaten hervorruft. Hätte die Klägerin den Aufsichtführenden - wie vorgeschrieben - bereits während der Bearbeitungszeit der Ertragsteuerklausur auf ihre Besorgnis hinsichtlich der Chancengleichheit wegen der vorzeitigen Ausgabe des Aufgabentextes in Karlsruhe hingewiesen, so wäre es zudem ggf. möglich gewesen, ihre Bedenken unter Hinweis auf die nur kurze Dauer der vorzeitigen Ausgabe zu zerstreuen und die volle Konzentrationsfähigkeit der Klägerin wieder herzustellen.

Der Grundsatz der Chancengleichheit steht nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) einer prüfungsrechtlichen Regelung nicht entgegen, die vom Prüfling bei einer mehrstündigen schriftlichen Prüfung verlangt, Beeinträchtigungen des Prüfungsablaufs gegenüber dem Aufsichtführenden unverzüglich geltend zu machen (Urteil vom 17. Februar 1984 7 C 67.82, BVerwGE 69, 46). Die aus dem auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitete Mitwirkungslast des Prüflings endet indes an der Grenze der Zumutbarkeit, die wiederum von den Umständen des Einzelfalls abhängig ist. Hierzu hat das BVerwG unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung, die die Zumutbarkeitsgrenze enger sah (vgl. Urteil vom 17. Januar 1969 7 C 77.67, BVerwGE 31, 190), entschieden, daß die größere Gestaltungsfreiheit des Prüflings bei einer schriftlichen Prüfung, die sich darin äußert, daß der Prüfling den Arbeitsablauf - in den vorgegebenen Grenzen - selbst bestimmen, sich die Arbeitszeit einteilen, kürzere Pausen einlegen oder den Konzentrationsgrad sonst variieren kann, es rechtfertige, das Maß der zumutbaren Mitwirkung anders zu bestimmen als bei einer mündlichen Prüfung. Denn diese Gestaltungsfreiheit lege es dem Prüfling nahe, auf die Einhaltung ordnungsgemäßer Prüfungsbedingungen selbst Bedacht zu nehmen und sich nicht als bloßes Prüfungsobjekt einer unbeeinflußbaren Prüfungsmaschinerie zu verstehen. Zwar könne dem Prüfling regelmäßig nicht zugemutet werden, aus einer Störung schon während der eigentlichen Prüfung rechtliche Konsequenzen zu ziehen, z. B. seinen Rücktritt von der Prüfung zu erklären oder eine Wiederholung der Aufsichtsarbeit zu verlangen. Mit einer im Prüfungsrecht vorgeschriebenen Rüge, also einem Hinweis an den Aufsichtführenden auf die Beeinträchtigung, der weder einen nennenswerten Zeitaufwand erfordere noch arbeitsunterbrechende und konzentrationsstörende Überlegungen, werde aber nichts Unzumutbares verlangt, zumal da der Prüfling hier, anders als bei einer mündlichen Prüfung, nicht einmal die Hemmschwelle zu überwinden habe, sich mit seiner Beschwerde an seinen Prüfer oder sein Prüfungskollegium wenden zu müssen (BVerwGE 69, 46, 51, 52; vgl. BVerwG-Beschluß vom 17. Januar 1984 7 B 29.83, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 421.0 Nr. 190, zur Ausschlußfrist für die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit).

Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsauffassung des BVerwG an. Da die Klägerin bis zum Ende der Bearbeitungszeit der Ertragsteuerklausur ihrer Rügepflicht nach § 20 Abs. 4 DVStB nicht nachgekommen ist, kann sie mit ihrem Vorbringen, sie sei durch den Vorfall in Karlsruhe in ihrer Konzentrations- und Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt worden, nicht mehr gehört werden. Eines ausdrücklichen gesetzlichen Hinweises auf den Ausschluß nachträglichen Vorbringens bedurfte es angesichts des eindeutigen objektiven Regelungsgehalts des § 20 Abs. 4 DVStB nicht (vgl. BVerwG-Beschluß vom 13. Oktober 1981 7 B 145.81, Buchholz, a. a. O., 421.0 Nr. 154). Die dort vorgeschriebene Obliegenheit dient gerade der Chancengleichheit, da sie verhindern soll, daß sich ein Prüfling durch nachträgliche Geltendmachung des Verfahrensmangels eine weitere Prüfchance und damit eine Bevorzugung vor den Mitprüflingen verschafft.

5. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist das Urteil des FG, das auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, aufzuheben. Die Klage gegen die Prüfungsentscheidung des Finanzministeriums ist abzuweisen, da die Prüfung der Klägerin nicht mit einem Verfahrensmangel behaftet ist (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Der Rechtsschutz der Klägerin ist auch nicht - wie sie meint - dadurch unzulässig verkürzt worden, daß ihre Einwendungen gegen das Prüfungsverfahren nicht in einem eigenständigen Widerspruchsverfahren von der Verwaltung geprüft worden sind.

Im Streitfall war gegen den Prüfungsbescheid die unmittelbare Anrufung des FG mit der Anfechtungsklage zulässig, weil dieser von der obersten Finanzbehörde eines Landes erlassen worden ist, gegen deren Verwaltungsakte ein außergerichtlicher Rechtsbehelf (hier allenfalls die Beschwerde) nicht gegeben ist (§ 44 Abs. 1 FGO i. V. m. § 164 a Abs. 1 des Steuerberatungsgesetzes, § 349 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß vom 17. April 1991 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 84, 34, 45 ff.) und des BVerwG (Urteil vom 24. Februar 1993 6 C 35.92, JURIS) verlangt aber im Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz in Prüfungsangelegenheiten zum Ausgleich für die nur eingeschränkt mögliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte ein eigenständiges verwaltungsinternes Kontrollverfahren zum Zwecke des "Überdenkens" prüfungsspezifischer Wertungen durch die betroffenen Prüfer, denen insoweit weiterhin ein Entscheidungsspielraum verbleibt. Dieses Verwaltungsverfahren muß - wie das BVerwG entschieden hat - nicht als förmliches Widerspruchsverfahren i. S. von §§ 68 ff. der Verwaltungsgerichtsordnung ausgestaltet sein; es muß nur gewährleistet sein, daß substantiierte Einwendungen des Prüflings gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen vor einer gerichtlichen Entscheidung von der Prüfungsbehörde zur Kenntnis genommen und unter maßgeblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer "überdacht" werden. Der Streitfall bietet keinen Anlaß, auf die notwendige verfahrensmäßige Ausgestaltung eines derartigen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens für die Steuerberaterprüfung und insbesondere auf die Frage einzugehen, ob und unter welchen Umständen dieses Verwaltungsverfahren noch nach Erhebung der Anfechtungsklage durchgeführt werden kann. Die vorstehend zitierte Rechtsprechung kommt deshalb nicht zur Anwendung, weil die Klägerin keine Einwendungen gegen die Bewertung ihrer Prüfungsleistungen erhoben hat. Sie beruft sich vielmehr allein auf einen Verfahrensmangel des Prüfungsverfahrens (Rechtsfehler), der von den FG uneingeschränkt überprüft werden kann und bei dem es folglich eines "Überdenkens" durch den betroffenen Prüfer (wie bei prüfungsspezifischen Bewertungen) in einem besonderen Verwaltungsverfahren nicht bedarf. Die fehlende Durchführung eines Widerspruchsverfahrens oder eines sonstigen Verwaltungsverfahrens stellt somit keine Rechtsverletzung der Klägerin dar.