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  BFH-Urteil vom 11.2.1994 (III R 117/93) BStBl. 1994 II S. 380

Erklärt die Finanzverwaltung noch nicht bestandskräftige Steuerbescheide für vorläufig, weil vor dem BVerfG oder dem BFH Musterverfahren anhängig sind, so besteht kein Anspruch darauf, daß auch bestandskräftige Bescheide wegen dieser Musterprozesse für vorläufig erklärt werden.

GG Art. 3 Abs. 1; AO 1977 §§ 165, 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; GKG § 13 Abs. 1 Satz 2.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde mit Bescheid vom 10. Februar 1988 bestandskräftig zur Einkommensteuer 1987 veranlagt. Mit Schreiben vom 10. Oktober 1992 beantragte er, den bestandskräftigen Bescheid gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und im Hinblick auf anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und andere gerichtliche Verfahren entsprechend der Anweisung in der AO-Kartei, § 165 Abs. 1, Karte 1, nach § 165 Abs. 1 AO 1977 für vorläufig zu erklären. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte die beantragte Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides ab.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Es ließ offen, ob gesetzliche Neuregelungen, die je nach Ausgang der Musterverfahren vor dem BVerfG notwendig werden könnten, im Hinblick auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats zu § 165 AO 1977 (Hinweis auf Entscheidungen vom 9. August 1991 III R 48/90, BFHE 165, 162, BStBl II 1991, 868, und III R 41/88, BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219) auch Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 wären. Diese Tatsachen wären jedenfalls nachträglich entstanden und würden daher vom Anwendungsbereich des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 nicht erfaßt.

Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision des Klägers. Der Kläger macht geltend, daß die (zu erwartenden) gesetzgeberischen Gestaltungen aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG ebenso wie im Rahmen des § 165 AO 1977 im Rahmen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 als Tatsachen anzusehen seien. Diese würden auch erst nachträglich bekannt und seien damit neu. In der angegriffenen Entscheidung des FG liege zudem eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Durch die Beschränkung der Vorläufigkeitserklärung wegen der anhängigen Musterverfahren auf die noch nicht bestandskräftigen Bescheide würden all die Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Steuerfestsetzungen, im Bemühen um (recht-)zeitige Abgabe ihrer Steuererklärungen, bei Inkrafttreten dieser Verwaltungsanweisung bereits bestandskräftig gewesen seien.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG, den Ablehnungsbescheid des FA sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 1987 entsprechend der Verwaltungsanweisung in der AO-Kartei, § 165 Abs. 1, Karte 1, für vorläufig zu erklären. Außerdem beantragt er die Festsetzung des Streitwerts.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Vorläufigkeitserklärung. Diese Vorläufigkeitserklärung stellt eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides dar. Als Rechtsgrundlagen für eine derartige Änderung kommen im Streitfall nur § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 und § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 in Betracht. Die Voraussetzungen beider Bestimmungen liegen nicht vor.

1. Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen nachträglich bekanntwerden.

Der Senat kann offenlassen, ob die mit Gesetzeskraft ausgestatteten Entscheidungen des BVerfG oder die aufgrund dieser Entscheidungen evtl. erforderlich werdenden Neuregelungen durch den Gesetzgeber Tatsachen im Sinne dieser Bestimmung sein können, die nachträglich bekanntwerden. Jedenfalls verlangt die Bestimmung, daß die Tatsachen bereits eingetreten sind. Das ist hier nicht der Fall und kann vom Kläger auch nicht geltend gemacht werden, da die Entscheidungen in den Musterverfahren noch nicht ergangen sind. Gegenwärtig kann sich der Kläger nur darauf berufen, daß seiner Auffassung nach die in den Musterverfahren zur Prüfung stehenden gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig sind. Das sind aber rechtliche Wertungen und keine Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977.

In tatsächlicher Hinsicht kann der Kläger zur Zeit allenfalls eine Ungewißheit dahin geltend machen, ob das BVerfG die in den Musterverfahren angegriffenen gesetzlichen Regelungen für nichtig oder für unvereinbar - oder auch für vereinbar - mit dem GG erklärt. Das gilt auch für die Frage, ob die Entscheidungen des BVerfG in den Musterverfahren und die etwaigen daraufhin erforderlichen gesetzlichen Neuregelungen zu einer niedrigeren Steuer führen. Demgemäß begehrt der Kläger auch nur die Vorläufigkeitserklärung des bestandskräftigen Steuerbescheides, um seinen Fall für Folgerungen aus den Entscheidungen des BVerfG offenzuhalten. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 bietet nur eine Anspruchsgrundlage für die Festsetzung einer niedrigeren Steuer und nicht für das Offenhalten des Steuerfalles für künftige Entwicklungen. Die Ungewißheit, ob künftig etwas eintreten wird, kann für die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausreichen.

2. Aus ähnlichen Erwägungen scheidet auch ein Anspruch des Klägers auf die Vorläufigkeitserklärung aufgrund des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 aus. Nach dieser Vorschrift ist ein bestandskräftiger Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).

Der Senat kann wiederum offenlassen, ob Entscheidungen des BVerfG oder aufgrund dieser Entscheidungen erforderlich werdende gesetzliche Neuregelungen rückwirkende Ereignisse im Sinne dieser Bestimmung sein könnten. Jedenfalls müssen die Ereignisse bereits eingetreten sein, um die Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu rechtfertigen. Der Kläger beruft sich aber nicht auf bereits ergangene Entscheidungen des BVerfG oder schon erfolgte Neuregelungen durch den Gesetzgeber.

3. In der Ungleichbehandlung von bestandskräftigen und noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheiden bei der Vorläufigkeitserklärung wegen anhängiger Musterverfahren liegt keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Bei den Regelungen über die Bestandskraft von Steuerbescheiden hat der Gesetzgeber ebenso wie z. B. bei den Verjährungsvorschriften den Belangen der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall gegeben. Diese Wertung des Gesetzgebers ist nicht zu beanstanden (vgl. die zu § 79 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ergangenen Entscheidungen des BVerfG vom 12. Dezember 1957 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195 ff.; vom 7. Juli 1960 2 BvR 435, 440/60, BVerfGE 11, 263, 265; vom 3. November 1965 1 BvR 62/61, BVerfGE 19, 150, 166, und vom 16. Januar 1980 1 BvR 127, 679/78, BVerfGE 53, 115, 130).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung.

5. Für die vom Kläger beantragte Festsetzung des Streitwerts besteht ein Rechtsschutzinteresse, weil der Streitwert nicht eindeutig aus dem gestellten Sachantrag ermittelt werden kann (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. November 1987 VIII R 346/83, BFHE 152, 5, BStBl II 1988, 287; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., Vor § 135 Rdnr. 32 m. w. N.). Der Kläger hat nicht die Herabsetzung der Steuer um einen bestimmten Betrag beantragt, sondern will nur das Offenhalten seines Steuerfalls erreichen.

Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtskostengesetzes ist der Streitwert auf 6.000 DM festzusetzen, denn der Antrag des Klägers bietet keine genügenden Anhaltspunkte, welche Bedeutung sich daraus für den Kläger ergibt (vgl. BFH-Beschluß vom 28. Februar 1980 IV R 154/78, BFHE 130, 130, BStBl II 1980, 417, zum Streit über einen Vorbehalt der Nachprüfung).