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  BFH-Urteil vom 17.3.1994 (VI R 120/92) BStBl. 1994 II S. 536

Fordert das FA in einem Haftungsbescheid vom Arbeitgeber Lohnsteuer wegen Zuwendungen von Arbeitslohn in einer Vielzahl von Fällen nach, so ist die Höhe der Lohnsteuer trotz des damit verbundenen Arbeitsaufwandes grundsätzlich individuell zu ermitteln und nicht mit einem durchschnittlichen Steuersatz zu schätzen. Etwas anderes gilt dann, wenn entweder die Voraussetzungen des § 162 AO 1977 für eine Schätzung der Lohnsteuer vorliegen oder der Arbeitgeber mit der Berechnung der Haftungsschuld mit einem durchschnittlichen Steuersatz einverstanden ist.

EStG § 19, § 38 Abs. 3, § 38 a Abs. 3, § 40 Abs. 1, § 41, § 42 d; AO 1977 § 119, § 130 Abs. 1, § 162; FGO § 100 Abs. 2.

Vorinstanz: FG München

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Sparkasse, führte Mitarbeiterwettbewerbe durch. Sie gewährte ihren Arbeitnehmern für die Vermittlung von bestimmten Geldgeschäften Geld- und Sachprämien steuerfrei. Bei einer Lohnsteueraußenprüfung sah die Prüferin die Prämien als Arbeitslohn an und berechnete wegen der Vielzahl der Fälle die nachzuerhebende Lohnsteuer in Anlehnung an § 40 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und Abschn. 93 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) 1987 mit einem durchschnittlichen Bruttosteuersatz. Die Prüferin ging davon aus, daß die Klägerin bei ihren Arbeitnehmern Regreß nehmen werde. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ einen entsprechenden Haftungsbescheid, der sich u. a. auf das Kalenderjahr 1984 bezog. In der Einspruchsentscheidung wurde die Haftungssumme für das Kalenderjahr 1984 insoweit herabgesetzt, als Prämien an Arbeitnehmer ohne Außenkontakt nicht mehr als lohnsteuerpflichtig angesehen wurden.

Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid für das Jahr 1984 ohne weitere Maßgabe auf. Es ließ dahingestellt, ob die im Streitjahr 1984 zugewendeten Sach- und Geldprämien Arbeitslohn darstellten. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre der Haftungsbescheid aufzuheben, da eine Inanspruchnahme mit einem durchschnittlichen Steuersatz für das Streitjahr 1984 unzulässig sei; denn die Klägerin habe nicht auf einen Regreß gegenüber ihren Arbeitnehmern verzichtet.

Das FA rügt mit der Revision eine unzutreffende Anwendung des § 42 d EStG und macht geltend: Bei den von der Klägerin im Rahmen der Mitarbeiterwettbewerbe ausgezahlten Prämien handele es sich um Arbeitslohn. Entgegen der Auffassung des FG lägen die Voraussetzungen für eine pauschale Ermittlung der Lohnsteuer im Rahmen eines Haftungsbescheides vor. Die Berechnung der individuellen Lohnsteuer sei schwierig. Dies ergebe sich bereits aus der hohen Zahl der Betroffenen (achtzig Arbeitnehmer). Nach der Rechtsprechung sei die Ermittlung der individuellen Lohnsteuer bereits dann als schwierig i. S. der Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 7. Dezember 1984 VI R 164/79 (BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164) und VI R 72/82 (BFHE 142, 494, BStBl II 1985, 170) anzusehen, wenn das FA von sich aus Nachforschungen anstellen müßte (BFH-Urteil vom 12. Juni 1986 VI R 167/83, BFHE 146, 553, BStBl II 1986, 681, unter Nr. 2 e). Dies sei im Streitfall gegeben, da es anhand der vorgelegten "Rennliste" nicht möglich sei, den individuellen Steuersatz der einzelnen Arbeitnehmer zu ermitteln.

Sollte der BFH zu dem Schluß kommen, daß eine Pauschalierung im Haftungsverfahren nicht möglich sei, so rechtfertige dies nicht die Aufhebung des Bescheides in vollem Umfang. Das FG hätte in diesem Fall vielmehr die zutreffende Lohnsteuer ermitteln müssen. Falls diese niedriger wäre, wäre der Haftungsbescheid lediglich teilweise zurückzunehmen.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, soweit sie das Kalenderjahr 1984 betrifft, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, hilfsweise, die Sache an das FG zur weiteren Sachverhaltsermittlung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit sie das Kalenderjahr 1984 betrifft. Insoweit wird die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) zurückverwiesen.

1. Das FG hat zu Unrecht die Frage offengelassen, ob den Arbeitnehmern der Klägerin durch die Zuwendung der Prämien überhaupt Arbeitslohn (§ 19 Abs. 1 EStG) zugeflossen ist. Denn nur dann, wenn die Prämien kein Arbeitslohn sind, erweist sich die Entscheidung, den Haftungsbescheid in vollem Umfang und ohne jede weitere Maßgabe aufzuheben, im Ergebnis als richtig.

a) Sind die Prämien als Arbeitslohn (§ 19 Abs. 1 EStG) zu beurteilen und liegen die weiteren Voraussetzungen für eine Haftung der Klägerin nach § 42 d EStG vor, so rechtfertigt die Rechtsansicht des FG, der Haftungsbetrag habe nicht mit einem durchschnittlichen Steuersatz berechnet werden dürfen, nicht die Aufhebung des Haftungsbescheides in vollem Umfang. Denn die Anwendung eines durchschnittlichen Steuersatzes macht den Haftungsbescheid nicht etwa inhaltlich unbestimmt (§ 119 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) mit der Folge, daß er gemäß § 124 Abs. 3, § 125 Abs. 1 AO 1977 unwirksam und der Klarheit wegen aufzuheben wäre. Vielmehr reicht es für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheides aus, wenn die konkreten Sachverhalte, die zu Lohnzuflüssen geführt haben, und der Zeitraum der Lohnzuflüsse bezeichnet werden (vgl. dazu im einzelnen Thomas, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1992, 896, 897, zu 4.2). Es ist für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheides i. S. des § 119 Abs. 1 AO 1977 nicht erforderlich, daß aus ihm hervorgeht, in welcher Höhe die nachgeforderte Lohnsteuer jeweils einem konkreten Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Diese Frage ist vielmehr der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides zuzuordnen (gl. A. z. B. Offerhaus, Betriebs-Berater - BB - 1982, 794 f.; Thomas, DStR 1992, 896, 897, zu 4.2; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 12. Aufl., § 42 d Anm. 7 b; Blümich/Heuermann, Einkommensteuergesetz, § 42 d Rz. 142; a. A. Gast-de Haan in Stolterfoht - Hrsg. -, Grundfragen des Lohnsteuerrechts, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft - DStJG - 9, 141, 172 f.; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 42 d EStG Anm. 219). Soweit sich aus früheren Entscheidungen des Senats (z. B. Urteil vom 28. November 1990 VI R 55/87, BFH/NV 1991, 601, m. w. N.) etwas anderes ergeben könnte, hält der Senat daran nicht mehr fest.

b) Ist in einem Haftungsbescheid die Lohnsteuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz geschätzt worden, obwohl sie individuell zu berechnen war, so kommt aus diesem Grunde grundsätzlich nur eine teilweise Zurücknahme des Haftungsbescheides gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977, nicht aber seine Aufhebung in vollem Umfang in Betracht. Denn der angefochtene Haftungsbescheid ist ein Verwaltungsakt, der einen Geldbetrag festsetzt (vgl. BFH-Urteil vom 23. März 1993 VII R 38/92, BFHE 171, 10, BStBl II 1993, 581, 583). Bei der Anfechtung eines solchen Verwaltungsakts ist § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO zu beachten. Soweit nicht die Festsetzung an sich, sondern die Höhe des festgesetzten Geldbetrages zu beanstanden ist, kann das Gericht entweder den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO für den Fall, daß die Ermittlung des festzusetzenden Betrages einen nicht unerheblichen Aufwand erfordert, die Änderung des Verwaltungsaktes so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann.

Auf der Grundlage seines eigenen Rechtsstandpunktes, daß die Lohnsteuer individuell zu ermitteln sei, hätte das FG daher zunächst die zutreffende Lohnsteuer vom FA berechnen lassen müssen. Wäre die individuell berechnete Lohnsteuer niedriger als die mit einem durchschnittlichen Steuersatz ermittelte, so wäre der Haftungsbescheid in Höhe des Differenzbetrages, also teilweise, aufzuheben gewesen (vgl. § 130 Abs. 1 AO 1977). Wäre die individuell berechnete Lohnsteuer höher, so wäre die Klage abzuweisen gewesen. In einem derartigen Fall wäre die Klägerin durch den angefochtenen Haftungsbescheid nicht beschwert.

2. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, ist die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz erlauben dem Senat keine abschließende Entscheidung darüber, ob es sich bei den zugewendeten Prämien um Arbeitslohn handelt. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachzuholen und eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die Zuwendung der Prämien als Arbeitslohn zu beurteilen ist.

3. Sollte das FG zu der Entscheidung gelangen, die zugewendeten Prämien seien Arbeitslohn, so ist auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen seine Auffassung nicht zu beanstanden, das FA habe die deswegen einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer individuell ermitteln müssen und habe sie nicht in Anlehnung an § 40 Abs. 1 EStG mit einem durchschnittlichen Steuersatz schätzen dürfen.

a) Die Höhe der Lohnsteuer, die die Klägerin gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG einzubehalten und gemäß § 41 a Abs. 1 EStG anzumelden und abzuführen hatte, war nach § 38 a Abs. 3 Satz 2 EStG zu ermitteln. Danach wird von sonstigen Bezügen die Lohnsteuer mit dem Betrag erhoben, der zusammen mit der Lohnsteuer für den laufenden Arbeitslohn des Kalenderjahres und für etwa im Kalenderjahr bereits gezahlte sonstige Bezüge die voraussichtliche Jahreslohnsteuer ergibt. Diese Art der Berechnung der Lohnsteuer für sonstige Bezüge hat der Arbeitgeber bei der jeweiligen Lohnzahlung für jeden einzelnen Arbeitnehmer vorzunehmen. Hat der Arbeitgeber die Einbehaltung der Lohnsteuer unterlassen, so ist diese Berechnung grundsätzlich vom FA nachzuholen, um die Höhe der Haftungsschuld gemäß § 42 d Abs. 1 Nr. 1 EStG zu ermitteln. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der Arbeitgeber Zuwendungen nicht in einem Einzelfall, sondern in einer Vielzahl von Fällen nicht der Lohnsteuer unterworfen hat.

Nur dann, wenn die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen ausnahmsweise nicht ermitteln oder berechnen kann, hat sie sie gemäß § 162 Abs. 1 AO 1977 zu schätzen. Nach § 162 Abs. 2 AO 1977 ist insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides Statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO 1977 verletzt. Das gleiche gilt, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO 1977 zugrunde gelegt werden.

Danach darf bei ordnungsgemäß geführten Lohnkonten die nachzuerhebende Lohnsteuer nicht bereits deshalb in Anlehnung an § 40 Abs. 1 EStG mit einem durchschnittlichen Steuersatz geschätzt werden, weil die individuelle Ermittlung der Lohnsteuer für die Finanzbehörde zeitaufwendig ist. Bedenken gegen eine Schätzung der Lohnsteuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz bestehen in einem solchen Fall nur dann nicht, wenn sich der Arbeitgeber im Wege einer tatsächlichen Verständigung mit der Finanzbehörde mit der Berechnung der Steuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz einverstanden erklärt hat.

b) Im Streitfall liegen nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen die in § 162 AO 1977 aufgestellten Voraussetzungen für eine Schätzung nicht vor. Sie wären nur dann erfüllt, wenn die Klägerin ihren Aufzeichnungspflichten beim Lohnsteuerabzug (vgl. § 41 EStG) nicht nachgekommen wäre oder aber sich geweigert hätte, ihre Aufzeichnungen vorzulegen. Dies hat das FG bisher ebensowenig festgestellt wie ein Einverständnis der Klägerin mit der Schätzung der Lohnsteuer. Soweit das FA im Revisionsverfahren vorgebracht hat, die Klägerin habe weder während der Lohnsteueraußenprüfung noch im anschließenden Einspruchs- und Klageverfahren Unterlagen vorgelegt, die es dem FA bzw. dem FG ermöglicht hätten, die auf die einzelnen Arbeitnehmer entfallende Lohnsteuer zu ermitteln, wäre dies für die Zulässigkeit einer Schätzung nach § 162 AO 1977 nur dann von Belang, wenn die Klägerin zur Vorlage der entsprechenden Unterlagen aufgefordert worden wäre. Das FG wird diesen Sachverhalt im zweiten Rechtsgang aufzuklären haben.

4. Die Berechtigung des FA zur Berechnung der Lohnsteuer-Haftungsschuld mit einem durchschnittlichen Steuersatz ergibt sich im Streitfall auch nicht aus den vom FA angeführten Senatsurteilen in BFHE 142, 483, BStBl II 1985, 164, BFHE 142, 494, BStBl II 1985, 170, und BFHE 146, 553, BStBl II 1986, 681. Darin ist ohne Bezugnahme auf § 162 AO 1977 geprüft worden, ob ein Haftungsbescheid bei Berechnung der Lohnsteuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz trotz des - zumindest stillschweigenden - Einverständnisses des Arbeitgebers mit dieser Berechnungsweise formalrechtlich zu beanstanden ist (vgl. dazu auch Aussetzungsbeschluß vom 29. April 1983 VI S 10/82, BFHE 138, 379, BStBl II 1983, 517). Die Frage ist - im Ergebnis übereinstimmend mit den obigen Ausführungen unter Nr. 1 a der Entscheidungsgründe zu den Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheides - verneint worden. Materiell-rechtlich ändern diese Urteile nichts daran, daß die Lohnsteuer-Haftungsschuld dann, wenn die Voraussetzungen für eine Schätzung gemäß § 162 AO 1977 nicht vorliegen, nur mit dem - zumindest stillschweigend erteilten - Einverständnis des Arbeitgebers in Anlehnung an § 40 Abs. 1 EStG mit einem durchschnittlichen Steuersatz geschätzt werden darf. Ein derartiges Einverständnis der Klägerin hat das FG aber im Streitfall bisher nicht festgestellt.