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  BFH-Beschluß vom 27.7.1994 (XI S 1/94) BStBl. 1994 II S. 787

Es ist bei summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten ernstlich zweifelhaft, daß der Ablauf der Festsetzungsfrist durch Ermittlungshandlungen der Steuerfahndungsbehörden, die bei einer handlungsunfähigen Person durchgeführt werden, gehemmt wird.

FGO § 69 Abs. 3; AO § 102 Abs. 1, § 146 a Abs. 3; AO 1977 § 79 Abs. 1 Nr. 1, § 171 Abs. 5; BGB § 104 Nr. 2.

Sachverhalt

I.

Die Mutter des Klägers und Antragstellers (Kläger) war Konzessionsinhaberin einer Nachtbar in K. Bei Durchführung einer Betriebsprüfung im Jahre 1979 tauchte der Verdacht auf, Inhaber des Gewerbebetriebs sei tatsächlich nicht die Mutter, sondern der Kläger. Außerdem seien Umsätze nicht erklärt worden. Die Steuerfahndungsbehörde leitete daraufhin am 16. November 1979 gegen den Kläger ein Strafverfahren ein. Sie erwirkte beim Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluß, aufgrund dessen sie am 27. November 1979 die Geschäftsräume der Bar durchsuchte. Nach Auswertung der vorgefundenen und anderer Geschäftsunterlagen wurden danach die Besteuerungsgrundlagen geschätzt und im September 1980 (erstmals) Steuerbescheide gegen den Kläger erlassen. Die Bescheide wurden vom Kläger angefochten. Da sich in der Folgezeit herausstellte, daß er wegen einer psychischen Erkrankung im September 1980 nicht verhandlungsfähig gewesen war, stellte der Beklagte und Antragsgegner (das Finanzamt - FA -) mit Verfügung vom 22. Dezember 1982 die Unwirksamkeit der angefochtenen Bescheide fest. Im Strafverfahren gelangte der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Sachverständige in seinem Gutachten vom 11. September 1984 zu dem Ergebnis, daß der Kläger seine Verhandlungsfähigkeit nunmehr wiedererlangt habe.

Nachdem das FA von diesem Gutachten am 31. Januar 1985 Kenntnis erlangte, erließ es daraufhin im September und November 1985 erneut Bescheide über Umsatzsteuer 1975 bis 1979 sowie Einkommensteuer 1975 bis 1977 und 1979. Im April 1986 ergingen Gewerbesteuermeßbescheide für 1975 bis 1977 und 1979.

Hiergegen wandte sich der Kläger mit Einsprüchen und Klage. Er machte u. a. geltend, aufgrund seiner Erkrankung 1975 bis 1980 geschäfts- und handlungsunfähig gewesen zu sein. Folglich könne er weder zivil- noch steuerrechtlich als selbständiger Gewerbetreibender angesehen werden. Außerdem seien die von der Steuerfahndungsbehörde und der Betriebsprüfung ihm gegenüber ergriffenen Maßnahmen unwirksam gewesen. Ihre Ergebnisse seien mithin unverwertbar. Der Ablauf der Festsetzungsverjährung sei nicht gehemmt worden. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es war der Auffassung, die angefochtenen Bescheide seien innerhalb der Festsetzungsfristen erlassen worden. Infolge der Steuerfahndungsmaßnahmen sei deren Ablauf gehemmt gewesen. Soweit der Kläger behaupte, im fraglichen Zeitpunkt handlungsunfähig gewesen zu sein, stehe dies nicht entgegen. Die hierfür einschlägige Vorschrift des § 79 der Abgabenordnung (AO 1977) rechtfertige es nicht, den Handlungsunfähigen besserzustellen als den Handlungsfähigen. Auch ein Handlungsfähiger hätte sich gegen die Durchsuchungsmaßnahmen der Steuerfahndungsbehörde aber nicht wehren können. Er hätte hiergegen allenfalls Rechtsmittel einlegen können. Dies aber wäre auch dem Kläger möglich gewesen, da die Erhebung der Beschwerde gegen die Durchsuchung fristungebunden sei und der Kläger bereits am 15. Januar 1980 einen Rechtsanwalt als seinen Vertreter bestellt habe. Die vorgefundenen Unterlagen seien schließlich verwertbar, da sie weitgehend ohne Einschaltung des Klägers festgestellt worden seien. Auch insoweit sei der Schutzbereich des § 79 AO 1977 deshalb nicht berührt.

Der Kläger hat hiergegen Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, der der Senat durch Beschluß XI B 2/94 vom 27. Juli 1994 für die Streitjahre 1975 bis 1977 entsprochen und die er im übrigen als unzulässig verworfen hat.

Den Antrag des Klägers, bis zum rechtskräftigen Abschluß des Klageverfahrens die Vollziehung der angefochtenen Bescheide auszusetzen, lehnte das FA ab. Der Kläger beantragte daraufhin Aussetzung der Vollziehung der Bescheide beim Bundesfinanzhof (BFH) gemäß § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Das FA beantragt, diesen Antrag zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

1. Soweit der Kläger beantragt, die Vollziehung der für 1978 und 1979 ergangenen Steuerbescheide auszusetzen, ist der Antrag nicht begründet. Da der Senat die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision insoweit durch Beschluß XI B 2/94 vom 27. Juli 1994 als unzulässig verworfen hat, sind die genannten Bescheide unanfechtbar. Damit ist das Urteil des FG vom 6. Oktober 1993 6 K 4854/87, durch das die Klage abgewiesen wurde, teilweise rechtskräftig. Eine Überprüfung ist insoweit nicht mehr möglich; Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO) können nicht mehr bestehen (vgl. z. B. BFH-Beschlüsse vom 1. August 1988 IV S 4/88, BFH/NV 1990, 40; vom 25. April 1990 I S 8/89, BFH/NV 1990, 791).

2. Im übrigen ist der Antrag des Klägers begründet.

"Ernstliche Zweifel" i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BFH-Beschluß vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, seitdem ständige Rechtsprechung). Im Streitfall liegen ernstliche Zweifel in diesem Sinne vor.

a) Für die Streitjahre 1975 und 1976 finden die Vorschriften der Reichsabgabenordnung (AO) über die Verjährung Anwendung (vgl. Art. 97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO - 1977). Die hiernach gemäß § 144 Abs. 1 AO (regulären) fünfjährigen Verjährungsfristen der Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuerforderungen für die Veranlagungszeiträume 1975 und 1976 begannen, da der Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatte, gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 1978 (für 1975) bzw. 1979 (für 1976) und endeten am 31. Dezember 1983 bzw. 1984.

Für das Streitjahr 1977 begann die (reguläre) vierjährige (vgl. § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 für die genannten Steuerforderungen mit Ablauf des Jahres 1980 und endete mit Ablauf des Jahres 1984.

Nach Aktenlage kann bisher nicht davon ausgegangen werden, daß die Verjährungs- bzw. Festsetzungsfristen wegen einer Steuerhinterziehung oder -verkürzung auf zehn Jahre (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 AO, § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977) verlängert worden wären.

b) Ob der Ablauf der Fristen gemäß § 146 a Abs. 3 AO bzw. § 171 Abs. 5 AO 1977 gehemmt war, ist ernstlich zweifelhaft.

aa) Wird vor Ablauf der Verjährungsfrist mit einer Betriebsprüfung begonnen, so verjähren gemäß § 146 a Abs. 3 AO die Ansprüche, auf die sich die Betriebsprüfung erstreckt, nicht, bevor die ergangenen Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind oder dem Steuerpflichtigen die Mitteilung zugegangen ist, daß eine Festsetzung unterbleibt. Betriebsprüfung i. S. des § 146 a Abs. 3 AO ist eine besonders qualifizierte Ermittlungshandlung des FA, die darauf gerichtet ist, den für die richtige Anwendung der Steuergesetze wesentlichen Sachverhalt zu prüfen und ggf. die sich aus dem Sachverhalt ergebenden Steueransprüche zu ermitteln. Diese Voraussetzungen kann nach dem Urteil des BFH vom 16. Januar 1979 VIII R 149/77 (BFHE 127, 128, BStBl II 1979, 453), dem sich der Senat anschließt, auch eine Steuerfahndungsprüfung erfüllen. Dies gilt zumindest dann, wenn die Prüfung - wie nach den Feststellungen des FG im Streitfall - die Ermittlung eines steuererheblichen Sachverhalts beim Steuerpflichtigen zum Gegenstand hat.

In ähnlicher Weise wie nach § 146 a Abs. 3 AO wird der Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 5 Satz 1 AO 1977 gehemmt, wenn die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden vor Ablauf der Feststellungsfrist beim Steuerpflichtigen mit Ermittlungen der Besteuerungsgrundlagen beginnen. Die Festsetzungsfrist läuft dann insoweit nicht ab, bevor die auf Grund der Ermittlungen zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind.

bb) Voraussetzung für den Eintritt der Ablaufhemmung nach den vorgenannten Vorschriften in § 146 a Abs. 3 AO und § 171 Abs. 5 Satz 1 AO 1977 ist allerdings, daß die Ermittlungshandlung der Steuerfahndungsbehörde als solche für den Steuerpflichtigen auch erkennbar ist; er muß erkennen können, daß in seinen Angelegenheiten ermittelt wird (so BFH-Urteil in BFHE 127, 128, BStBl II 1979, 453; vgl. auch Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 171 AO 1977 Rdnr. 71; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 171 AO 1977 Tz. 20). Daran aber kann es fehlen, wenn der Steuerpflichtige infolge einer geistigen Erkrankung i. S. von § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches geschäftsunfähig und damit handlungsunfähig ist. Dies folgt aus § 102 Abs. 1 AO, § 79 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Diese Vorschriften regeln allgemeiner Auffassung nach nicht nur die sog. aktive, sondern auch die sog. passive Handlungsfähigkeit (vgl. z. B. Dumke in Schwarz, Abgabenordnung, § 79 Rdnr. 2; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 79 AO 1977 Rdnr. 6, unter Hinweis auf die amtliche Begründung zu § 100 des Entwurfs einer Abgabenordnung 1974, BTDrucks VI/1982, S. 130; Clausen in Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 4. Aufl., Rdnr. 5 zu § 12, der mit § 79 AO 1977 wörtlich übereinstimmt). Verfahrenshandlungen gegenüber einem geschäftsunfähigen Steuerpflichtigen sind deshalb regelmäßig unwirksam; sie können zumindest die Hemmung des Ablaufs der Verjährungs- bzw. Festsetzungsfristen nicht auslösen (vgl. auch § 171 Abs. 11 AO 1977). Dies gilt nach summarischer Prüfung auch für Ermittlungsmaßnahmen der Betriebsprüfung oder der Steuerfahndung.

cc) Im Streitfall steht nach den Feststellungen des FG fest, daß der Kläger in der Zeit vom 8. April bis zum 30. Juni 1980 und auch in der Folgezeit nicht verhandlungsfähig war. Er behauptet (und hat unter Beweis gestellt), dies auch bereits im November 1979 gewesen zu sein, als die Steuerfahndungsbehörde ihre Ermittlungsmaßnahmen bei ihm durchführte. Unterstellt, daß dies tatsächlich zutrifft, bestehen sonach ernstliche Zweifel an der Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen.

dd) Das FG durfte die Frage der Handlungsfähigkeit des Klägers deshalb nicht dahinstehen lassen. Daß ein Handlungsfähiger die Fahndungsprüfung zunächst hätte hinnehmen müssen, ändert angesichts der besonderen rechtlichen Schutzbedürftigkeit handlungsunfähiger Personen, wie sie in § 102 Abs. 1 AO bzw. § 79 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zum Ausdruck kommt, nichts. Es kann auch unbeachtlich sein, daß der Kläger am 15. Januar 1980 einen Rechtsanwalt als seinen Vertreter gegenüber dem FA bestellt hatte und daß dieser die Ermittlungsmaßnahmen mit den einschlägigen Rechtsbehelfen hätte anfechten können. Bestätigt sich im weiteren Verfahrensverlauf, daß der Kläger im fraglichen Zeitpunkt wegen seiner Geisteserkrankung geschäfts- und handlungsunfähig gewesen ist, wäre auch die Beauftragung des anwaltlichen Vertreters unwirksam.

c) Dem Antrag des Klägers, die Vollziehung der angefochtenen, für die Streitjahre 1975 bis 1977 ergangenen Steuerbescheide auszusetzen, war nach allem zu entsprechen.