| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Beschluß vom 25.7.1994 (X B 333/93) BStBl. 1994 II S. 802

1. Zu den Steuerakten, die auf Verlangen dem FG vorzulegen sind, gehören auch die Arbeitsakten des Betriebsprüfers.

2. Befinden sich in den Steuerakten vertrauliche Mitteilungen von Hinweisgebern (Anzeigenerstattern usw.), so ist das FA grundsätzlich befugt, diese Aktenteile auszuheften und nicht vorzulegen.

3. Hat der Berichterstatter des FG versehentlich von einer solchen vertraulichen Mitteilung Kenntnis erhalten, darf er seine Kenntnis nicht verwerten und nicht in die Urteilsbildung einfließen lassen.

FGO § 71 Abs. 2, § 78 Abs. 2, § 86, § 96 Abs. 2; AO 1977 § 30 Abs. 2 Nr. 1.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG (EFG 1994, 218)

Sachverhalt

Vor dem Finanzgericht (FG) waren mehrere Verfahren der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) anhängig (Einkommensteuer 1986 bis 1988 der Kläger, Gewerbesteuermeßbetrag 1987 und Umsatzsteuer 1986 und 1987 des Klägers, Gewerbesteuermeßbetrag 1988 und Umsatzsteuer 1987 und 1988 der Klägerin). Mit Urteilen vom 22. Juli 1993 bestätigte das FG im wesentlichen die Hinzuschätzungen des Beklagten, Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt - FA -) zu den Gewinnen und Umsätzen 1986 bis 1988 (unvollständig erfaßte Kreditkartenumsätze im Restaurant der Kläger); die Kläger haben die Nichtzulassung der Revision mit Beschwerden angegriffen (Az. X B 328/93 bis X B 332/93).

Im Laufe der finanzgerichtlichen Verfahren hatte das FA dem Berichterstatter des FG die vollständige Arbeitsakte des Betriebsprüfers überlassen. Der Berichterstatter nahm von einer auf Seiten 1 bis 6 der Arbeitsakte befindlichen vertraulichen Mitteilung eines namentlich genannten Hinweisgebers Kenntnis. Er gab die Akte nach Durchführung eines Erörterungstermins (am 1. Juli 1993) an das FA zurück. Das FA entheftete die o. a. Seiten und überließ dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger nur die "bereinigte" Betriebsprüfungsarbeitsakte zur Einsichtnahme. Es berief sich gegenüber der Aufforderung des Berichterstatters vom 9. Juli 1993, den fehlenden Aktenteil dem FG zugänglich zu machen, auf § 30 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Kläger beantragten während der mündlichen Verhandlung am 22. Juli 1993, das FG möge feststellen, das FA habe nicht glaubhaft gemacht, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Weigerung der Vorlage der vertraulichen Mitteilung vorlägen. Das FG befaßte sich vorweg mit dem Antrag und wies ihn zurück.

Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 218 veröffentlicht.

Die Kläger machen mit der Beschwerde geltend: Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden. Der Inhalt der vertraulichen Mitteilung sei dem Berichterstatter bekanntgeworden und in dessen Urteilsbildung eingeflossen. Der Berichterstatter sei befangen gewesen. Auch sei nicht auszuschließen, daß der Inhalt der Mitteilung in die Urteilsbildung der anderen Richter eingeflossen sei. Zu bezweifeln sei, daß die Mitteilung für die Urteilsfindung unerheblich sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist gemäß § 86 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig. Nach dem Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 7. März 1973 II B 64/72 (BFHE 109, 12, BStBl II 1973, 504) greift die Vorschrift nur ein, wenn das FG die Vorlage der fehlenden Akten angeordnet hat. Diese Voraussetzung ist gegeben. Der Berichterstatter hatte am 9. Juli 1993 die Herausgabe angeordnet. Auf die Weigerung des FA bestand, unabhängig von dem Antrag der Kläger, Anlaß, eine Entscheidung nach § 86 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 FGO zu treffen.

Es besteht ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung des Beschwerdeverfahrens, ungeachtet dessen, daß die finanzgerichtlichen Verfahren, für die die Vorlage der vollständigen Betriebsprüfungsarbeitsakte erstrebt wird, zur Hauptsache abgeschlossen sind. Die Kläger rügen in den Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revisionen die Verletzung rechtlichen Gehörs und begründen dies vor allem mit der Weigerung, ihnen die vertrauliche Mitteilung bekanntzugeben.

2. Die Beschwerde ist aber unbegründet. Das FA braucht den enthefteten Teil der Betriebsprüfungsarbeitsakte nicht vorzulegen.

a) Der Senat folgt allerdings nicht der verschiedentlich im Schrifttum geäußerten Auffassung, daß Betriebsprüfungsarbeitsakten schon deswegen nicht vorgelegt werden müßten, weil sie interne Vorgänge zur Vorbereitung des Betriebsprüfungsberichts seien - vergleichbar den zur Vorbereitung von Gerichtsentscheidungen geführten Akten, die gemäß § 78 Abs. 2 FGO von der Einsichtnahme ausgeschlossen sind - (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 86 FGO Anm. 1; Kalmes, Die steuerliche Betriebsprüfung - StBp - 1986, 40). § 78 Abs. 2 FGO enthält keinen allgemeinen Rechtsgedanken, der über den Geltungsbereich des FG-Verfahrens hinaus wirksam werden könnte (so auch die herrschende Meinung: Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 86 Anm. 4; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rz. 8318; Schmidt-Liebig, StBp 1983, 217; Hendricks, StBp 1985, 67; FG Münster, Beschluß vom 16. September 1988 IV 3452/86 E, EW, G, EFG 1989, 28; FG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 30. Oktober 1989 5 K 1962/89, EFG 1990, 182; FG Düsseldorf, Beschluß vom 31. Mai 1990 10 K 418/83 E, EFG 1990, 614; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. September 1991 5 K 2156/90, EFG 1992, 175; s. bereits BFH-Beschluß vom 13. Dezember 1972 VII B 71/72, BFHE 107, 560, 563 f., BStBl II 1973, 253). Es trifft zu, daß die Arbeitsakten vielfach Erkenntnisse, Feststellungen, auch Irrwege des Betriebsprüfers enthalten, die nicht entscheidungserheblich sind. Dies gilt indessen auch für andere Steuerakten. Die Pflicht des FA zur Vorlage von Steuerakten (§ 71 Abs. 2 FGO) wird lediglich durch § 86 FGO eingeschränkt. Die Beurteilung, ob Steuerakten entscheidungserheblich sind, obliegt dem FG, nicht dem FA. Die ältere BFH-Rechtsprechung, die eine Vorlagepflicht hinsichtlich der Arbeitsbögen der Betriebsprüfer und anderer verwaltungsinterner Vorgänge verneinte (BFH-Urteile vom 27. März 1961 I 276/60 U, BFHE 73, 58, BStBl III 1961, 290; vom 16. November 1965 I 302/61 S, BFHE 84, 268, BStBl III 1966, 97), beruhte noch auf § 267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) in der bis 1965 geltenden Fassung (Einsichtnahme in Vor- und Beiakten nur mit Zustimmung der Stelle, der die Akten gehörten) und ist mit Inkrafttreten der FGO hinfällig geworden (Oswald, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1967, 582).

b) Das FG hat es indessen für glaubhaft ansehen können, daß das FA die Herausgabe des enthefteten Teils der Betriebsprüfungsarbeitsakte im Hinblick auf die durch das Steuergeheimnis geschützten Verhältnisse Dritter verweigern darf (§ 86 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 FGO). Der in der vertraulichen Mitteilung namentlich genannte Hinweisgeber ist ein Dritter i. S. des § 86 Abs. 1 FGO. Auch Hinweisgeber (Anzeigenerstatter usw.) unterliegen mit ihren der Finanzverwaltung bekanntgewordenen Verhältnissen dem Schutz des Steuergeheimnisses gemäß § 30 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977. Sie können grundsätzlich insbesondere verlangen, daß ihr Name geheimgehalten wird (a. A. Streck/Olbing, Betriebs-Berater - BB - 1994, 1267). Ausnahmsweise kann der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des von der Anzeige Betroffenen eine Offenbarung gebieten (BFH-Urteile vom 7. Mai 1985 VII R 25/82, BFHE 143, 503, 506, BStBl II 1985, 571; vom 8. Februar 1994 VII R 88/92, BB 1994, 1413). Ist die Mitteilung indessen wie hier von steuerlicher Relevanz (Anlaß für Steuernachforderungen), kommt eine Offenbarung nicht in Betracht.

3. Unerheblich ist, daß dem Berichterstatter die vertrauliche Mitteilung versehentlich bekanntgeworden ist. Dieser Umstand kann nicht zum Anlaß genommen werden, die Mitteilung auch den übrigen Mitgliedern des FG-Senats und den Klägern (Steuerpflichtigen) bekannt zu machen. Die objektiv eingetretene Verletzung des Steuergeheimnisses ist vielmehr so gering wie möglich zu halten.

Der Berichterstatter wurde infolge der Kenntnisnahme der vertraulichen Mitteilung zusätzlicher Amtsträger des Steuergeheimnisses, das er nicht offenbaren durfte und darf. Er geriet zweifellos in ein Spannungsverhältnis zwischen seinem Wissen und dessen Verwertbarkeit. Ein Richter muß indessen ein solches Spannungsverhältnis bewältigen. Er darf sein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (§ 96 Abs. 2 FGO). Tatsachen, die ihm außerhalb dieses Verfahrensablaufs bekannt werden - sei es aus privatem Anlaß oder wie im Streitfall infolge unzulässiger Information -, sind nicht verwertbar und dürfen auch nicht mittelbar in die Urteilsbildung einfließen. Die Fähigkeit, zwischen verwertbaren und nicht verwertbaren Tatsachen zu unterscheiden, gehört zum geistigen Rüstzeug eines Richters.

Auf die zusätzlichen Erwägungen des FG, daß der Inhalt der vertraulichen Mitteilung nach Ansicht des FA und nach der Erinnerung des Berichterstatters in keinem Zusammenhang mit dem Streitstoff steht, kommt es nicht an.

4. Das aufgezeigte Spannungsverhältnis läßt, für sich genommen, den Berichterstatter nicht voreingenommen und befangen werden. Das Befangenheitsgesuch des Klägers gegen den Berichterstatter ist von dem FG gesondert behandelt worden. Die Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluß des FG hat der Senat aus formellen Gründen (verspätete Anbringung des Gesuchs) zurückgewiesen (Beschluß vom 25. Juli 1994 X B 22/94).