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  BFH-Beschluß vom 10.8.1994 (II R 29/94) BStBl. 1994 II S. 862

Behauptet der Kläger, den mit einfachem Brief bekanntgegebenen Beschluß des FG betreffend die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 FGO) erst 26 Tage nach Aufgabe des Beschlusses zur Post und erst zwei Tage nach der Verkündung des Urteils durch den Einzelrichter erhalten zu haben, so darf er sich für die gebotene Substantiierung seiner Besetzungsrüge gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht auf diese bloße Behauptung beschränken. Vielmehr muß er Tatsachen vortragen, die den von ihm behaupteten atypischen Geschehensablauf als ernstlich möglich erscheinen lassen.

FGO §§ 116 Abs. 1 Nr. 1, 120 Abs. 2 Satz 2; ZPO § 329 Abs. 2 Satz 1.

Vorinstanz: FG Köln

Sachverhalt

I.

Mit Beschluß vom 19. April 1993 übertrug der zuständige Senat des Finanzgerichts (FG) den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der Berichterstatterin zur Entscheidung. Den Beteiligten wurde jeweils eine Ausfertigung des Beschlusses mit einfachem Brief bekanntgegeben. Die Aufgaben zur Post erfolgten am 25. Oktober 1993.

Im Anschluß an die mündliche Verhandlung vor der Einzelrichterin verkündete diese am 18. November 1993 ein klageabweisendes Urteil. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger und Revisionskläger (Kläger) die fehlerhafte Besetzung des Gerichts (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO).

Er trägt im wesentlichen vor: Die Ausfertigung des Beschlusses vom 19. April 1993, die "unter dem 25. Oktober 1993 verkündet" worden sei, sei ihm erst am 20. November 1993 - also zwei Tage nach Verkündung des angefochtenen Urteils - zugegangen. Folglich sei die Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin ihm - dem Kläger - gegenüber mangels rechtzeitiger Bekanntgabe nicht wirksam geworden (Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 6 FGO Rdnr. 17, a. E.). Die mündliche Verhandlung am 18. November 1993 hätte mangels wirksamer Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin vor dem (Voll-)Senat stattfinden müssen. Da jedoch die Einzelrichterin die mündliche Verhandlung geführt habe, sei das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.

In einem weiteren, innerhalb der Revisionsbegründungsfrist beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schriftsatz rügt der Kläger die Verletzung des § 76 Abs. 1 FGO.

Der Kläger beantragt, die angefochtene Vorentscheidung und den Änderungsbescheid des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) vom 8. November 1990 sowie die Einspruchsentscheidung vom 14. Januar 1991 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unzulässig und deshalb durch Beschluß zu verwerfen (§§ 124, 126 Abs. 1 FGO).

Im Streitfall ist die Revision weder vom FG noch vom BFH zugelassen worden. Mit Beschluß vom 10. August 1994 ist die gegen die angefochtene Vorentscheidung vom Kläger erhobene Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen worden. Daher ist lediglich eine zulassungsfreie Revision i. S. von § 116 FGO in Betracht zu ziehen.

1. Eine zulassungsfreie Verfahrensrevision ist nur statthaft, wenn innerhalb der Revisionsbegründungsfrist ein Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 FGO schlüssig (substantiiert) gerügt wird (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO; BFH-Beschluß vom 21. April 1986 IV R 190/85, BFHE 146, 357, BStBl II 1986, 568). Dies trifft im vorliegenden Fall nicht zu.

a) Der Beschluß betreffend die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 1 FGO ist unanfechtbar (§ 6 Abs. 4 FGO) und braucht deshalb den Beteiligten nicht zugestellt zu werden (vgl. § 53 Abs. 1 FGO). Es genügt die schlichte - formlose - Bekanntgabe (§ 155 FGO i. V. m. § 329 Abs. 2 Satz 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 6 Rdnr. 7; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 6 FGO Rdnr. 17). Erst mit dieser Bekanntgabe wird der Beschluß gegenüber den Beteiligten wirksam (ganz h. M.; vgl. z. B. Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 18. Aufl., § 329 Anm. 5 ff.; Zöller/Vollkommer, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 18. Aufl., § 329 Rdnrn. 5 ff.; Musielak, in Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, § 329 Rdnr. 8; a. A. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 52. Aufl., § 329 Rdnr. 27, wonach ein formlos mitzuteilender Beschluß bereits mit der ersten Hinausgabe wirksam werden soll).

b) Der Kläger hat nicht in Abrede gestellt, eine Ausfertigung des Beschlusses erhalten zu haben. Er hat lediglich - ohne jede Substantiierung - behauptet, daß ihm die ausweislich der Akten am 25. Oktober 1993 mit einfachem Brief zur Post gegebene Ausfertigung des Beschlusses erst am 20. November 1993 zugegangen sei. Danach wäre von einer Postlaufzeit von 26 Tagen auszugehen.

Es entspricht einem gerichtsbekannten - speziellen - Erfahrungssatz, daß der Postlauf einfacher Briefe im Inland jedenfalls nicht einen derart langen Zeitraum umfaßt (vgl. auch die auf diesem Erfahrungssatz beruhende Regelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), wonach entsprechende Sendungen "bei einer Übermittlung im Geltungsbereich dieses Gesetzes am dritten Tag nach Aufgabe zur Post" als bekanntgegeben gelten).

Folglich hat der Kläger einen atypischen, diesem Erfahrungssatz widersprechenden Geschehensablauf behauptet. Angesichts der Atypizität des vorgetragenen Sachverhalts durfte er sich für die gebotene Substantiierung seiner Besetzungsrüge i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht mit dem schlichten Hinweis begnügen, daß der Zugang erst am 20. November 1993 erfolgt sei. Vielmehr hätte er Tatsachen vortragen müssen, die den dargelegten Erfahrungssatz im konkreten Fall entkräfteten und den behaupteten atypischen Geschehensablauf als plausibel erscheinen ließen. Anders ausgedrückt hätte der Kläger substantiierte Einwände vorbringen müssen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit des von ihm behaupteten atypischen Geschehensverlaufs ergab. Dementsprechend hat die Rechtsprechung auch in den vergleichbar gelagerten Fällen, in denen der Adressat eines mit einfachem Brief versandten Verwaltungsakts zwar nicht den Zugang als solchen, wohl aber den fristgerechten Zugang (Zugang innerhalb der Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) bestreitet, verlangt, daß der Empfänger den verspäteten Zugang durch substantiierte Erklärungen darlegt (vgl. BFH-Urteile vom 7. Februar 1962 II 137/60 U, BFHE 75, 628, BStBl III 1962, 496; vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286; vom 7. November 1985 V R 3/83, BFH/NV 1987, 274; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 122 AO 1977 Rdnr. 23). Diesen Anforderungen genügt die Revisionsschrift nicht; die Besetzungsrüge ist deshalb unschlüssig.

c) Der Senat kann mithin offenlassen, ob der Beschluß vom 19. April 1993 betreffend die Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin bereits vor dem 18. November 1993 (= Tag der mündlichen Verhandlung und Urteilsverkündung) gegenüber beiden Beteiligten dadurch wirksam geworden war, daß eine Ausfertigung dieses Beschlusses zwar nicht dem Kläger, wohl aber dem FA unter Umständen bereits vor dem 18. November 1993 zugegangen war (zum Problem, ob es für die Wirksamkeit eines Beschlusses genügt, daß er nur einem der Beteiligten bekanntgegeben wurde, vgl. z. B. Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 329 Rdnrn. 20 ff.).

Ebenso mag auf sich beruhen, ob die Besetzungsrüge des Klägers schon deshalb erfolglos bleiben müßte, weil nicht jeder Fehler bei der Anwendung der Vorschriften über den gesetzlichen Richter zu einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. den §§ 116 Abs. 1 Nr. 1, 119 Nr. 1 FGO führen soll, sondern nur eine solche fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitsnormen, die bei verständiger Würdigung nicht mehr nachvollziehbar erscheint und offensichtlich unhaltbar, also willkürlich ist (vgl. z. B. Gräber/Ruban, a. a. O., § 119 Rdnr. 5 m. w. N.).

2. Soweit der Kläger neben dem vermeintlichen Besetzungsmangel einen Verstoß gegen § 76 Abs. 1 FGO gerügt hat, kann er damit im vorliegenden Verfahren deswegen nicht gehört werden, weil die Verletzung der Aufklärungspflicht nicht eine zulassungsfreie Revision i. S. des § 116 Abs. 1 FGO eröffnet.