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BFH-Urteil vom
15.9.1994 (XI R 31/94) BStBl. 1995 II S. 41
Keine Beweiserleichterung zugunsten des FA für den Fall, daß der Zugang bei normalem Postlauf nicht gewährleistet ist. AO 1977 § 122 Abs. 2. Vorinstanz: Niedersächsisches FG Sachverhalt I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betreibt ein überregional tätiges Bautenschutzunternehmen. Er bewohnte eine Mietwohnung in einem Mehrparteienhaus, in der er sich zumeist nur am Wochenende aufhielt. Die Besteuerungsgrundlagen für Umsatzsteuer und Einkommensteuer 1988 - dem Streitjahr - wurden wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen geschätzt. Die Bescheide waren auf den 20. und 22. August 1990 datiert; sie wurden mit einfachem Brief bekanntgegeben. Auf Bitten des Steuerberaters wurden unter dem 6. März 1991 Ablichtungen übersandt. Mit Datum vom 15. März 1991 wurden Steuererklärungen eingereicht. Der Kläger machte geltend, die Bescheide nicht erhalten zu haben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) wies den Einspruch des Klägers vom 19. März 1991 gegen die Schätzungsbescheide vom 20. und 22. August 1990 durch Einspruchsentscheidung vom 29. Juli 1991 als verspätet zurück. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab und führte aus: 1. Es sei davon auszugehen, daß die Bescheide am 20. und 22. August 1990 zur Post gegeben worden seien; hinsichtlich der Übereinstimmung des Bescheidsdatums mit dem Zeitpunkt der Postaufgabe gelte der Anscheinsbeweis, der nicht entkräftet worden sei. 2. Aufgrund der vorliegenden Indizien sei ferner davon auszugehen, daß der Kläger die Bescheide am 23. und 25. August 1990 erhalten habe. Aus dem gesamten Verhalten des Klägers ergebe sich, daß er nicht von allen erhaltenen Briefsendungen Kenntnis genommen habe. So habe er den niedergelegten Einkommensteuerbescheid 1989 nicht abgeholt; das Postamt ... habe erklärt, daß der Kläger seinen Briefkasten nie leere. Aus diesen Umständen allein lasse sich die Richtigkeit der Behauptung des FA noch nicht ableiten. In Fällen dieser Art obliege es aber dem Kläger, substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen - über den Verlust auf dem Postweg hinaus - ein Zugang der Bescheide nicht erfolgt sein könne. Eine solche Darlegung sei dem Kläger nicht gelungen. Bei dem Kläger sei ein beschrifteter Hausbriefkasten vorhanden gewesen. Der Vortrag des Klägers, daß spielende Kinder die Namensschilder entfernt hätten, andererseits, daß im Zuge von Malerarbeiten die Namensschilder entfernt worden seien, sei widersprüchlich, so daß das Gericht davon ausgehe, daß bei dem Kläger ein funktionsfähiger Briefkasten vorhanden gewesen sei. Damit sei die Möglichkeit, daß ein Zugang unterblieben sei, nicht hinreichend dargetan. Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977); die Behörde habe im Zweifel den Zugang des Verwaltungsaktes zu beweisen; ein Anscheinsbeweis komme insoweit nicht in Betracht. Das Revisionsgericht könne in der Sache selbst entscheiden, da das FG ausgeführt habe, allein aus den mitgeteilten Beweisanzeichen lasse sich die für den vollen Beweis notwendige hinreichende Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptung nicht gewinnen, daß der Kläger die Bescheide im August 1990 erhalten habe. Das könne nur bedeuten, daß das FG der Klage stattgegeben hätte, wenn es sich an den Gesetzeswortlaut gehalten und nicht die dargestellte Einschränkung der gesetzlichen Bestimmung vorgenommen hätte. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie die Steuerbescheide vom 20. und 22. August 1990 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. Juli 1991 aufzuheben. Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen, und trägt vor: Das FG habe für den Nachweis des Zugangs von Steuerbescheiden eine Beweiserleichterung für die Fallgestaltungen zugelassen, in denen der Zugang bei normalem Postlauf nicht gewährleistet sei. Diese Zulassung bedeute eine sachgerechte Fortentwicklung des in dem Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. März 1989 VII R 75/85 (BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534) aufgestellten Grundsatzes, daß der Zugangsnachweis gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 nicht nach den Regeln des sog. Anscheinsbeweises geführt werden könne. Die in dem bezeichneten BFH-Urteil aufgestellten Rechtsgrundsätze seien nur auf die Fallgestaltungen uneingeschränkt anwendbar, in denen von seiten des Steuerpflichtigen sichergestellt worden sei, daß Postsendungen bei normalem Postlauf auch ihn erreichten. Es könne nicht zu Lasten der Finanzbehörde gehen, wenn der Steuerpflichtige keine Vorkehrungen treffe, um einen normalen Postzugang zu ermöglichen. Der Kläger habe den normalen Postzugang nicht gewährleistet; eine Beweiserleichterung für das FA sei daher gerechtfertigt gewesen.
II. Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. 1. Entgegen der Auffassung von FA und FG war der Einspruch des Klägers vom 19. März 1991 nicht verspätet; denn die im August 1990 vorgenommene Bekanntgabe war nicht wirksam. a) Gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Im Streitfall ist es dem FA nicht gelungen, nachzuweisen, daß die angefochtenen Steuerbescheide dem Kläger bereits im August 1990 zugegangen sind. In dem Urteil in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 hat der VII. Senat entschieden, daß dem FA - selbst in einem Fall, in dem der Nichtzugang erst nach sechs Jahren geltend gemacht wurde - der volle Beweis über den Zugang des Steuerbescheides obliegt. Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Der VII. Senat hat es aber ausdrücklich abgelehnt, in den Fällen des Zugangsnachweises nach § 122 Abs. 2 AO 1977 einen sog. Anscheinsbeweis, der auf einen typischen, nicht aber auf den tatsächlichen Geschehensablauf abstellt, genügen zu lassen (vgl. auch BFH-Urteil vom 3. März 1993 II R 11/90, BFH/NV 1994, 141, und BFH-Beschluß vom 28. Januar 1993 X B 80/92, BFH/NV 1994, 108). Von diesem Rechtssatz (Geltung der allgemeinen Beweisregeln), dem der Senat folgt, ist das FG - im Anschluß an das Urteil des FG des Saarlandes vom 19. Dezember 1991 2 K 270/86 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1992, 573) - abgewichen, indem es eine Beweiserleichterung zugelassen hat, wenn der Zugang bei normalem Postlauf nicht gewährleistet ist. In diesem Fall - so das FG - obliege es dem Empfänger, substantiiert darzulegen, aus welchen Gründen ein Zugang nicht erfolgt sein könne. Damit wird von dem Empfänger - wie in den Fällen des Anscheinsbeweises - verlangt, daß er Möglichkeiten eines atypischen Geschehensablaufes darlegt. Entgegen der Auffassung des FA bedeutet diese Einschränkung des Zugangsnachweises keine sachgerechte Fortentwicklung des BFH-Urteils in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534, sondern eine sachlich nicht gerechtfertigte Einschränkung. Diese Auffassung ist nicht gedeckt durch den Wortlaut des § 122 Abs. 2 AO 1977, der bestimmt, daß im Zweifel die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen hat. Zu einer Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen besteht kein Anlaß; die Behörde hat - worauf bereits auch das BFH-Urteil in BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 hinweist - die Möglichkeit, den Verwaltungsakt förmlich zuzustellen oder die Form des Einschreibens mit Rückschein zu wählen. Im übrigen würde diese Einschränkung nur zu neuen Abgrenzungsproblemen führen, da kaum allgemein festgelegt werden kann, wann Verhältnisse gegeben sind, die den Zugang von Postsendungen bei normalem Postlauf nicht gewährleisten (vgl. nur den vom FG des Saarlandes entschiedenen Fall in EFG 1992, 573). b) Im Unterschied zu dem Fall, der dem Urteil des II. Senats in BFH/NV 1994, 141 zugrunde lag, hat das FG den Beweisbegriff auch nicht lediglich falsch bezeichnet, sondern für bestimmte Konstellationen die Anforderungen an den Nachweis des Zugangs der Steuerbescheide zu Lasten des Klägers verändert. c) Auf der Grundlage dieser Auslegung des § 122 Abs. 2 AO 1977 ist im Streitfall davon auszugehen, daß das FA den Zugang nicht nachgewiesen hat. Das FG hat dazu festgestellt, daß es die für den vollen Beweis notwendige hinreichende Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptung des FA nicht habe gewinnen können, daß der Kläger die Bescheide im August 1990 erhalten habe. 2. Das angefochtene Urteil ist bereits aus diesem Grunde aufzuheben; der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob Verfahrensmängel vorliegen. Das FG wird nunmehr die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide zu prüfen haben.
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