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  BFH-Urteil vom 18.10.1994 (VII R 20/94) BStBl. 1995 II S. 42

Aus der Entscheidung des BVerfG zum Grundfreibetrag (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) kann, solange die für verfassungswidrig erklärten Regelungen für eine Übergangszeit weiter anwendbar bleiben, kein Vollstreckungsverbot gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG abgeleitet werden.

BVerfGG § 79 Abs. 2; AO 1977 § 251, § 259; FGO § 41; EStG § 32 a Abs. 1 Satz 2.

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Aus ihrer Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer 1990 stehen noch Beträge in Höhe von ... DM Einkommensteuer und ... DM Zinsen zur Einkommensteuer offen. Sie sind von den Klägern unter Aufmachung einer Gegenrechnung nicht entrichtet worden mit der Begründung, der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) habe bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens den Grundfreibetrag nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Höhe, nämlich dem Existenzminimum von 19.000 DM bei Eheleuten, berücksichtigt. Ihren gegen die wegen des Grundfreibetrags nach § 32 a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorläufig festgesetzte Steuer eingelegten Einspruch haben die Kläger später insoweit wieder zurückgenommen. Sie verweigerten aber weiterhin die Zahlung, weil nach ihrer Ansicht aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8 und 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) das Vollstreckungsverbot nach § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) eingreife.

Auf eine Aufforderung des FA vom ..., zur Vermeidung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen die nicht entrichteten Beträge bis zum ... zu zahlen, erhoben die Kläger beim Finanzgericht (FG) Klage auf Feststellung, daß die Zwangsvollstreckung wegen der nicht entrichteten Steuer und Zinsen unzulässig sei.

Das FG hielt die Klage für zulässig. Es wertete die Zahlungsaufforderung des FA als nicht mit Rechtsbehelfen angreifbare Mahnung i. S. des § 259 der Abgabenordnung (AO 1977), so daß einerseits - insbesondere nach Rücknahme des Einspruchs - vorrangiger Rechtsschutz durch Gestaltungs- oder Leistungsklage oder durch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht (mehr) in Betracht komme (§ 41 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Andererseits sei es den Klägern aber auch nicht zuzumuten, Vollstreckungshandlungen des FA abzuwarten (§ 41 Abs. 1 FGO).

In der Sache hatte die Klage keinen Erfolg, weil nach Auffassung des FG die Vorschriften des § 251 Abs. 2 AO 1977 i. V. m. § 79 Abs. 2 BVerfGG im Streitfall nicht zu einem Vollstreckungsverbot führten. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 627 insoweit wiedergegebenen Entscheidungsgründe verwiesen.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Sie tragen hierzu im wesentlichen vor: Auch wenn § 79 Abs. 2 BVerfGG seinem Wortlaut nach nur bei nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Normen gelte, so sei doch nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG davon auszugehen, daß die Vorschrift auch dann anzuwenden sei, wenn das BVerfG die bloße Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung - im Streitfall des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG mit der grundrechtlichen Garantie des einkommensteuerlichen Existenzminimums (BVerfGE 87, 153, 169, BStBl II 1993, 413) - festgestellt habe. Wenn das BVerfG die weitere Anwendung des verfassungswidrigen Einkommensteuertarifs bis zum 31. Dezember 1995 grundsätzlich erlaubt habe, so betreffe das lediglich das Erhebungsverfahren, nicht aber die Vollstreckung. Die Vollstreckung bilde nämlich ein eigenständiges Verfahren, für das Voraussetzungen und Zulässigkeit jeweils unabhängig zu prüfen seien. Hinsichtlich der Vollstreckung sei aus dem Urteil des BVerfG lediglich zu folgern, daß sie während der Übergangszeit nur hinsichtlich des Teils der bestandskräftig festgesetzten Steuer zulässig sei, der sich bei verfassungskonformer Berechnung, d. h. unter Ansatz des von der Verfassung gebotenen Existenzminimums für Eheleute, auf der Grundlage des geltenden Einkommensteuertarifs ergebe. Damit sei der vom BVerfG beabsichtigten Regelung, daß während der Übergangszeit eine Besteuerung nicht gänzlich unterbleibe, voll Genüge getan.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat rechtsfehlerfrei erkannt, daß die Kläger im Streitfall zwar Rechtsschutz mit der Feststellungsklage suchen können, das Vollstreckungsverbot des § 79 Abs. 2 BVerfGG aber einer Vollstreckung der festgesetzten Steuer nicht entgegensteht.

1. Gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage, die der Senat als Sachentscheidungsvoraussetzung von Amts wegen zu prüfen hat, bestehen keine durchgreifenden Bedenken.

Die Auffassung des FG, wonach die Kläger in ihrer konkreten prozessualen Lage (nach Rücknahme ihres Einspruchs gegen den Steuerbescheid) gleichwertigen Rechtsschutz nicht mit einer Gestaltungs- oder Leistungsklage hätten erlangen können (§ 41 Abs. 2 Satz 1 FGO), gründet sich auf die Rechtsnatur der Mahnung (§ 259 AO 1977). Die Mahnung ist nach allgemeiner Auffassung als eine das Leistungsgebot bloß wiederholende Zahlungsaufforderung kein Verwaltungsakt i. S. des § 118 AO 1977 und damit mit Rechtsbehelfen selbst nicht angreifbar (vgl. Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 259 AO 1977 Rz. 4 m. w. N.). Wenn das FG die Zahlungsaufforderung des FA als Mahnung i. S. des § 259 AO 1977 gewertet hat, so entspricht dies der üblichen Betrachtungsweise, denn trotz der dem Schreiben beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung, die darauf schließen läßt, daß das FA sein Schreiben selbst als Verwaltungsakt ansah, hatte das FG keinen sachlich gerechtfertigten Anlaß, die Zahlungsaufforderung ausnahmsweise als anfechtbaren Verwaltungsakt zu beurteilen (s. dazu Müller-Eiselt, a. a. O., § 259 AO 1977 Rz. 5). Das FA hat in seiner Revisionserwiderung auch keinen entsprechenden Angriff in dieser Richtung geführt und auch keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die gegen das vom FG angenommene besondere Feststellungsinteresse (§ 41 Abs. 1 FGO) der Kläger sprechen.

2. In der Sache bleibt die Revision ohne Erfolg.

Nach § 251 Abs. 1 AO 1977 können Verwaltungsakte vollstreckt werden, soweit nicht ihre Vollziehung ausgesetzt oder durch Einlegung eines Rechtsbehelfs gehemmt ist. Beide Einschränkungen treffen auf den bestandskräftigen Steuerbescheid nicht zu. Gemäß § 251 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bleibt von der Regelung nach Abs. 1 dieser Vorschrift u. a. § 79 Abs. 2 BVerfGG unberührt. Das bedeutet, daß § 79 Abs. 2 BVerfGG für die Vollstreckung nach der AO 1977 dem § 251 Abs. 1 AO 1977 als vorrangige Sonderregelung vorgeht, soweit seine Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 251 Rz. 5 und 6 e). Hinsichtlich der hier maßgeblichen Frage der Vollstreckung bewirkt § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG i. V. m. Satz 1 dieser Vorschrift eine Vollstreckungssperre. Die Regelung verbietet die Vollstreckung aus einer nicht mehr anfechtbaren Entscheidung, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG vom BVerfG für nichtig erklärten Norm beruht. Insgesamt ist § 79 Abs. 2 BVerfGG Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens, daß die unanfechtbar gewordenen Akte der öffentlichen Gewalt (Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen) vorbehaltlich einer speziellen gesetzlichen Regelung nicht rückwirkend aufgehoben und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangenen nachteiligen Wirkungen nicht beseitigt werden, daß aber für die Zukunft die aus einer zwangsweisen Durchsetzung der verfassungswidrigen Entscheidungen sich ergebenden Folgen abgewendet werden sollen (BVerfG-Beschlüsse vom 11. Oktober 1966 1 BvR 164, 178/64, BVerfGE 20, 230, 236; vom 21. Mai 1974 1 BvL 22/71 und 21/72, BVerfGE 37, 217, 263; vom 16. Januar 1980 1 BvR 127, 679/78, BVerfGE 53, 115, 131; vom 22. März 1990 2 BvL 1/86, BVerfGE 81, 363, 384).

Im Streitfall ist § 79 Abs. 2 Satz 1 und 2 BVerfGG, der über § 82 Abs. 1 BVerfGG auch im Falle der hier vorliegenden Entscheidung des BVerfG im konkreten Normenkontrollverfahren zu beachten ist, jedenfalls nicht unmittelbar einschlägig. Das Vollstreckungsverbot bezieht sich nach dem Wortlaut der Vorschrift (Satz 1) lediglich auf solche nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer vom BVerfG für nichtig erklärten Norm beruhen. Eine solche Nichtigerklärung enthält das von den Klägern in Anspruch genommene Urteil des BVerfG zum Grundfreibetrag (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) nicht.

Das BVerfG hat indessen in diesem Urteil die Regelung des Grundfreibetrags in § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG in den für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984, 1986, 1988 und 1991 geltenden Fassungen mit der grundrechtlichen Garantie des einkommensteuerrechtlichen Existenzminimums für unvereinbar erklärt (S. 169). Eine solche bloße Verfassungswidrigerklärung (vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG) hielt das BVerfG aus zwei Gründen für geboten (vgl. S. 177 f.). Zum einen hätte bei einer Nichtigerklärung der Norm eine Besteuerung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber überhaupt nicht stattfinden können, wodurch ein Zustand eingetreten wäre, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die für verfassungswidrig erklärte gesetzliche Regelung. Zum anderen war die bloße Unvereinbarerklärung angezeigt, weil das BVerfG dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten eingeräumt hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, d. h. innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen zu bestimmen, wie hoch das steuerliche Existenzminimum angesetzt werden soll.

Ausgehend von dem Grundsatz, daß es hinsichtlich der Rechtsfolgen, gleichgültig ob diese nun die Vergangenheit oder die Zukunft betreffen, keinen Unterschied machen kann, ob eine Norm für nichtig erklärt oder nur ihre Unvereinbarkeit mit der Verfassung festgestellt wird, befürwortet das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG für den Fall der bloßen Unvereinbarerklärung einer Norm mit dem Grundgesetz - GG - (BVerfGE 37, 217, 262 f.; 81, 363, 384; so auch Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 79 Rz. 25; Beermann, a. a. O., § 251 AO 1977 Rz. 10; Szymczak in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 4. Aufl., 1993, § 251 Rz. 12). Der erkennende Senat schließt sich dieser Ansicht trotz gewichtiger Bedenken, die in der Literatur hiergegen erhoben werden (vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., 1991, § 20 Rz. 77 ff.), im Grundsatz an. Die für eine Analogie erforderliche Lücke sieht er darin, daß bei einer bloßen Unvereinbarerklärung die Norm im Gegensatz zur Nichtigerklärung zwar formell fortbesteht, materiell aber die Konsequenzen denen der Nichtigerklärung nahekommen, denn Gerichte und Behörden dürfen die mit dem GG unvereinbare Norm ebenso wie die nichtige Norm in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang ihren Entscheidungen nicht mehr zugrunde legen (vgl. BVerfG-Urteil vom 14. Juli 1986 2 BvE 2/84, 2 BvR 442/84, BVerfGE 73, 40, 101; s. auch Stuth in Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 78 Rz. 20 m. w. N.). Die Gleichbehandlung der Fälle hinsichtlich der Anwendungssperre muß sich vernünftigerweise gleichermaßen auch auf die Vollstreckungssperre i. S. des § 79 Abs. 2 BVerfGG erstrecken.

Hätte sich mithin das BVerfG hinsichtlich der Grundfreibetragsregelung auf den Ausspruch der bloßen Unvereinbarkeit mit dem GG beschränkt, wäre eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG grundsätzlich in Betracht gekommen. Freilich war der Veranlagungszeitraum im Streitfall (1990) nicht unmittelbar Gegenstand der betreffenden Entscheidung und auch nicht späterer Entscheidungen des BVerfG (s. die Zusammenstellung in Deutsches Steuerrecht - DStR - 5/94, S. XXIV zu § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG). Da das BVerfG die Unvereinbarkeit des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG mit dem GG aber für den Veranlagungszeitraum 1991 ausgesprochen hat und der Grundfreibetrag in dieser Norm mit 5.616 DM in derselben Höhe angesetzt war wie in der für das Streitjahr 1990 maßgeblichen Fassung der Norm, könnte man erwägen, ob es für eine Berufung auf § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht ausreichte, daß das BVerfG mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die Regelung des Grundfreibetrags für 1990 für unvereinbar mit dem GG erklärt hätte, wenn ein entsprechendes Vorlageverfahren zum BVerfG gelangt wäre (so z. B. FG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 3. Februar 1994 2 V 2890/93, EFG 1994, 799).

Diese Frage kann jedoch offenbleiben, da § 79 Abs. 2 BVerfGG im Streitfall aus einem anderen Grund nicht zum Zuge kommt. Das BVerfG hat nämlich in der maßgeblichen Entscheidungsformel nicht nur die Unvereinbarkeit des Grundfreibetrags mit dem GG festgestellt, sondern gleichzeitig auch angeordnet, daß bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, die für den Steuerzahler (ausgenommen die sog. Grenzsteuerzahler, die bereits im Veranlagungszeitraum 1993 in den Genuß einer Neuregelung gekommen sind) spätestens mit Wirkung vom Veranlagungszeitraum 1996 an greifen muß, die für verfassungswidrig erkannten Regelungen weiter anwendbar bleiben. Damit hat das BVerfG die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm für eine Übergangszeit toleriert, um dem Gesetzgeber ausreichend Zeit für eine Neuregelung zu lassen, die sowohl dem Ziel vollständiger Berücksichtigung und gleicher Belastung aller Erwerbsbezüge unter Belassung des Existenzminimums gerecht wird als auch den haushaltsrechtlichen Auswirkungen der Neuregelung im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung Rechnung tragen kann (S. 181). In der Folge hat das BVerfG noch mehrmals bekräftigt, daß die aufgrund der Verfassungswidrigkeit des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG verfassungswidrige Besteuerung bis zur Neufassung des Gesetzes hinzunehmen ist (s. z. B. BVerfG-Beschluß vom 22. Dezember 1993 2 BvR 1282/90, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1993, 266).

Im Unterschied zu den bisher erörterten Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung soll hier die als verfassungswidrig erkannte Norm nicht nur formell, sondern auch materiell fortgelten (vgl. Stuth, a. a. O., § 78 Rz. 21), ihre Rechtswirkungen also auch weiterhin bis spätestens zum Ablauf der Übergangsfrist entfalten dürfen. Damit ist die Situation eine grundlegend andere als bei der Nichtigerklärung einer Norm. Im vorliegenden Fall sind die materiellen Folgen der Unvereinbarerklärung so verschieden, ja sogar gegensätzlich zu denen der Nichtigerklärung, daß eine tragfähige Analogiebasis nicht mehr erkennbar ist. Die Unvereinbarerklärung mit der Maßgabe der übergangsweisen Fortgeltung der beanstandeten Norm ist nach Inhalt und Wirkung gegenüber einer Nichtigerklärung ein nicht analogiefähiges Aliud. Dies verkennt Sangmeister in seiner Anmerkung zum Beschluß des BVerfG im Betriebs-Berater (BB) 1992, 2341, 2343. Für eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfG auf solche Fälle ist mithin, wie das FG richtig erkannt hat, kein Raum (ebenso FG Rheinland-Pfalz, EFG 1994, 799; Hessisches FG, Beschluß vom 12. November 1993 10 V 2578/93, EFG 1994, 626; Szymczak, a. a. O., § 251 Rz. 12/1).

Demgegenüber greifen die Einwendungen der Kläger nicht durch. Sie beruhen auf der irrigen Annahme, das BVerfG habe die Fortgeltung des Einkommensteuertarifs nur für das Erhebungsverfahren angeordnet, nicht aber für die Vollstreckung. Wenn nach dem Ausspruch des BVerfG die verfassungswidrige Besteuerung für eine Übergangsfrist weiter hinzunehmen ist, so bedeutet dies, daß der gesamte Vorgang der Besteuerung einschließlich der Steuerdurchsetzung vorerst und vorbehaltlich einer anderweitigen rückwirkenden Regelung des Gesetzgebers weiter Gültigkeit haben soll. Eine Beschränkung der Gültigkeit auf das Erhebungsverfahren führte zu dem sinnwidrigen Ergebnis, daß die Steuer zwar festgesetzt werden müßte, nicht aber vollstreckt werden dürfte. Damit verlöre die Anordnung der Weitergeltung des Grundfreibetrags ihren vom BVerfG beabsichtigten und begründeten Sinn, bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates nicht zu gefährden.

Auch die von den Klägern im Anschluß an Sangmeister (BB 1993, 2341, 2343 Fn. 29) für geboten erachtete Beschränkung der Vollstreckung auf den Teil der bestandskräftig festgesetzten Steuer, der sich bei verfassungskonformer Berechnung unter Ansatz des von der Verfassung vorgegebenen Existenzminimums für Eheleute ergäbe, entbehrt jeglicher Berechtigung. Wie die verfassungskonforme Berechnung des Grundfreibetrags durchzuführen ist, hat das BVerfG dem Gesetzgeber nicht zwingend vorgeschrieben. Es hat ihm vielmehr mehrere Möglichkeiten aufgezeigt, den Verfassungsverstoß zu beheben. So könne er - innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen - für die Berechnung des steuerlichen Existenzminimums neben den steuer- und finanzpolitischen Erwägungen auch sozial- und familienpolitische Anliegen berücksichtigen. Außerdem könne der Tarifverlauf so gestaltet werden, daß die Entlastungswirkung eines ausreichenden Grundfreibetrags bei höheren Einkommen in der progressiv ansteigenden Steuerbelastung schrittweise aufgehe (S. 178). Bei dieser Sachlage ist völlig ungewiß, ob die Kläger bei einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von ... DM überhaupt in den Genuß einer steuerlichen Entlastung durch eine etwa rückwirkende Anhebung des Grundfreibetrags kämen. Im Streitfall ein (teilweises) Vollstreckungsverbot nach dem Begehren der Kläger anzuordnen, hieße, der gesetzgeberischen Neuregelung unzulässigerweise vorzugreifen und den Gesetzgeber zu binden, was jedenfalls für die einfachen Gerichte nicht in Betracht kommt.