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  BFH-Urteil vom 8.6.1995 (IV R 104/94) BStBl. 1995 II S. 681

Bei förmlicher Zustellung zusammengefaßter, mehrere Personen betreffender Einkommensteuerbescheide muß jedem Inhaltsadressaten eine Ausfertigung des Bescheides zugestellt werden.

AO 1977 § 122 Abs. 5, § 155 Abs. 3 und 5; VwZG § 2 Abs. 1.

Vorinstanz: Hessisches FG

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin zu 1) und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann hatten bis zum September 1988 für die Streitjahre (1981 bis 1986) keine Einkommensteuererklärungen abgegeben. Daher schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen und ordnete die Zustellung der Schätzungsbescheide an. Die Bescheide waren in einfacher Ausfertigung an "Herrn und Frau Friedrich X und Anna X, .... straße ...., Ort (Y)" adressiert. Da der Postbedienstete die Eheleute in der angegebenen Wohnung in Y nicht antraf, legte er die Sendung am 9. September 1988 bei der Postanstalt nieder. Sie wurde nicht abgefordert und nach einer Niederlegungszeit von drei Monaten an das FA zurückgeschickt.

Die Eheleute erhoben mit Schriftsatz vom 18. September 1991 Klage. Sie beantragten die Feststellung, daß die Einkommensteuerbescheide 1981 bis 1986 wegen mangelhafter Zustellung unwirksam seien. Zur Zeit der Zustellung hätten sie in Y keine Wohnung mehr unterhalten. Sie hätten vielmehr seit 1976 eine Wohnung im Elsaß gehabt und hätten sich in Y nur vorübergehend aufgehalten.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.

Hiergegen richtet sich die Revision der Kläger.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Es ist gemäß § 41 Abs. 1 FGO festzustellen, daß die Einkommensteuerbescheide 1981 bis 1986 unwirksam sind.

1. Steuerbescheide werden erst wirksam, wenn sie demjenigen Beteiligten bekanntgegeben werden, für den sie bestimmt sind oder der von ihnen betroffen wird (§§ 124 Abs. 1 Satz 1, 122 Abs. 1 Satz 1, 155 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung - AO 1977 -).

a) An Stelle der formlosen Bekanntgabe kann die Finanzbehörde die Zustellung schriftlicher Verwaltungsakte anordnen (§ 122 Abs. 5 Satz 1 AO 1977). Das ist im Streitfall geschehen.

Die von der Finanzbehörde angeordnete Zustellung richtet sich nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - (§ 122 Abs. 5 Satz 2 AO 1977, § 1 Abs. 2 und 3 VwZG).

Im Streitfall waren Gegenstand der Zustellung nach § 155 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 zusammengefaßte Einkommensteuerbescheide. Bei zusammengefaßten Bescheiden handelt es sich nicht um einen einheitlichen Verwaltungsakt, sondern um eine aus Zweckmäßigkeitsgründen zusammengefaßte Mehrheit von Einzelfallregelungen des öffentlichen Rechts (Senats-Urteil vom 24. April 1986 IV R 82/84, BFHE 146, 358, BStBl II 1986, 545). Sie können daher nur in der Weise förmlich zugestellt werden, daß jedem der Destinatäre eine Ausfertigung des Bescheides übergeben wird. Das folgt aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 VwZG, demzufolge die Zustellung in der Übergabe eines Schriftstücks besteht. Dieser Auffassung, die im Bereich des allgemeinen Verwaltungsrechts und des Sozialrechts als nahezu unangefochten angesehen werden kann (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 8. Juli 1958 V C 51/56, Die öffentliche Verwaltung - DÖV - 1958, 715; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 19. September 1958 9 RV 476/55, BSGE 8, 149; Urteil des Oberverwaltungsgerichts - OVG - Koblenz vom 25. Juni 1986 8 A 92/85, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ - 1987, 899 m. w. N.; Urteil des Verwaltungsgerichtshofs - VGH - Mannheim vom 28. April 1989 8 S 3669/88, NVwZ RR 1989, 593; Urteil des OVG Schleswig vom 19. März 1993 3 L 196/92, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1993, 890; Preißer, NVwZ 1987, 867, 869; Petersen, Kommunale Steuer-Zeitschrift - KStZ - 1988, 41, 43 ff.), hat sich dem Grundsatz nach auch der BFH für die Fälle angeschlossen, in denen zusammengefaßte Einkommensteuerbescheide gegenüber Eheleuten ergehen (vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20. Januar 1972 I B 51/68, BFHE 104, 45, BStBl II 1972, 287; vom 16. August 1978 I R 26/78, BFHE 126, 5, BStBl II 1979, 58; FG München, Urteil vom 1. August 1989 12 K 3451/89, rkr., Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1990, 46; a. A.: Nothnagel, Die Bekanntgabe von Verwaltungsakten im Steuerrechtsverhältnis, Diss., Köln 1983; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 8 VwZG Tz. 4). Die Zustellung durch Übergabe in einer Bescheidsausfertigung hat der BFH nur dann genügen lassen, wenn aufgrund der Umstände, insbesondere der gemeinsamen Unterschrift auf der Steuererklärung, anzunehmen war, daß sich beide Ehegatten gegenseitig bevollmächtigt hatten (Senatsurteil vom 13. August 1970 IV 48/65, BFHE 100, 171, BStBl II 1970, 839). Eine derartige Bevollmächtigung kommt im Streitfall nicht in Betracht, da es sich um Schätzungsbescheide handelte.

Aus § 155 Abs. 5 AO 1977 folgt nichts anderes. In dieser Vorschrift ist angeordnet, daß ein zusammengefaßter, Ehegatten betreffender Bescheid allen Beteiligten in einer Ausfertigung unter ihrer gemeinsamen Anschrift bekanntgegeben werden kann. Diese Vorschrift betrifft indessen lediglich die Bekanntgabe i. S. des § 122 AO 1977. Zwar kann man die Zustellung als formalisierte Bekanntgabe bezeichnen (Tipke/Kruse, a. a. O., Vor VwZG Tz. 3) hinsichtlich der einzuhaltenden Förmlichkeiten sind schlichte Bekanntgabe gemäß § 122 Abs. 1 AO 1977 und förmliche Zustellung nach dem VwZG jedoch artverschieden (BFH-Urteil vom 25. Januar 1994 VIII R 45/92, BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603).

Auch der Sinn und Zweck des § 155 Abs. 5 AO 1977 gebietet nicht seine Anwendung im Verfahren der förmlichen Zustellung. Die Vorschrift ist durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 eingefügt worden, um der Verwaltungsvereinfachung und Kostenersparnis im Massenverfahren der Steuerveranlagungen zu dienen (Klein/Orlopp, Abgabenordnung, § 155 Anm. 7; Preißer, a. a. O., 870; Hundt-Eßwein, Der Betrieb - DB - 1986, 2460, 2462). In den Fällen, in denen die förmliche Zustellung gesetzlich vorgeschrieben ist oder behördlich angeordnet wird, handelt es sich jedoch nicht um ein Massenverfahren. Hinzu kommt, daß § 155 Abs. 5 AO 1977 Einzelbekanntgabe vorsieht, wenn die Beteiligten dies beantragt haben, oder wenn dem FA bekannt ist, daß ernstliche Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen bestehen. Der Gesetzgeber geht demnach nicht davon aus, daß die Bekanntgabe in nur einem Exemplar in allen denkbaren Fällen die Adressaten eines zusammengefaßten Bescheids in die Lage versetzt, ihre Rechte angemessen zu wahren (so aber Nothnagel, a. a. O.; Tipke/Kruse, a. a. O., § 8 VwZG Tz. 4). Gerade bei Schätzungen, die den Schwerpunkt der Fälle der förmlichen Zustellung bilden, fehlen dem FA regelmäßig Anträge auf Einzelbekanntgabe oder Informationen über ernstliche Meinungsverschiedenheiten.

Der Senat folgt mithin der von der Finanzverwaltung in den Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 14. August 1986 (BStBl I 1986, 458, 471, Tz. 3.1.4) und vom 8. April 1991 (BStBl I 1991, 398, 412, Tz. 3.1.4) vertretenen Rechtsansicht, die auch vom FG Bremen (Urteil vom 23. Juni 1992 II 87/91 K, rkr., EFG 1992, 758) und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum geteilt wird (Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 2 VwZG Rdnr. 4; Szymczak in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, § 366 Rdnr. 9; Hundt-Eßwein, a. a. O.; Preißer, a. a. O.; Haarmann in Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 414).

b) Entgegen der Auffassung des FG kann die unwirksame Zustellung nicht in eine wirksame Bekanntgabe gemäß § 122 AO 1977 umgedeutet werden. Der BFH hat sich in seinem Urteil in BFHE 173, 213, BStBl II 1994, 603 der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum angeschlossen, derzufolge eine derartige Umdeutung wegen der Artverschiedenheit zwischen schlichter Bekanntgabe und förmlicher Zustellung abzulehnen ist (ebenso jetzt auch die Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 23. März 1995, BStBl I 1995, 234). Der Senat schließt sich dieser Auffassung an.