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  BFH-Urteil vom 25.1.1995 (X R 146/93) BStBl. 1995 II S. 686

Ein vor dem Wirksamwerden des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland ergangener Steuerbescheid ist jedenfalls dann i. S. von Art. 19 Satz 2 EinigVtr "mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar", wenn er sich bei einer Würdigung seines Inhalts und der seinen Erlaß begleitenden Gesamtumstände nach dem nicht widerlegten äußeren Anschein als mutmaßlich politisch motivierte Willkürmaßnahme darstellt.

EinigVtr Art. 19 Satz 2.

Vorinstanz: Sächsisches FG

Sachverhalt

Der Sohn des in der ehemaligen DDR wohnhaften Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger), A F, montierte in seiner Freizeit elektronische Geräte. Hierzu unterhielt er ein umfangreiches Teilelager. Im Jahre 1984 wurde er inhaftiert und im Jahre 1985 aus der Haft in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) abgeschoben. Nach einem Treffen mit dem Sohn in der damaligen CSSR im September 1985 bot der Kläger unter seinem Namen in Anzeigen einer Fachzeitschrift den Verkauf von Elektronikteilen an. Interessenten schickte er Angebotslisten. Er nahm Bestellungen entgegen, fertigte sie ab und versandte Ware an die Besteller. Auf diese Weise veräußerte er in den Jahren 1986 und 1987 den größten Teil der Bestände seines Sohnes und zusätzlich neu beschaffte Teile. Insgesamt verschickte er auf dem Postweg an Abnehmer in der DDR 131 Sendungen mit einem Verkaufswert von 52.721,65 Mark. Für den nach Abzug der Kosten für Inserate und Versand verbleibenden Nettoerlös kaufte er Edelmetallmünzen, die er seinem Sohn bei Treffen in der CSSR aushändigte.

Das Kreisgericht A verurteilt ihn am 8. August 1988 wegen mehrfacher ungenehmigter Warenein- und -ausfuhr in Tateinheit mit ungenehmigtem Devisenumlauf und ungenehmigtem Handel mit Edelmetall rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zu einer Geldstrafe in Höhe von 15.000 Mark. Münzen, ein PKW Trabant, zahlreiche Elektronikbauteile, Goldbarren sowie der "Erlös aus dem Verkauf ungesetzlich eingeführter elektronischer Bauelemente" in Höhe von 5.150 Mark wurden entschädigungslos eingezogen (§ 56 des Strafgesetzbuches der DDR - StGB DDR -, § 16 Abs. 1 und 2 des Zollgesetzes der DDR - ZollG DDR -, § 19 des Devisengesetzes der DDR).

Die Steuerfahndungsstelle Z vertrat die Auffassung, der Kläger und seine Ehefrau seien umsatzsteuerrechtlich Unternehmer gewesen und hätten einen Gewerbebetrieb unterhalten. In einer Stellungnahme vom 26. September 1988 führte der Prüfer aus, die gesamte Initiative zum Handel mit elektronischen Bauelementen bzw. auch Gold sei zwar vom Sohn, A F, ausgegangen. Da der Kläger im eigenen Namen und für eigene Rechnung in Zusammenarbeit mit seiner Frau gehandelt habe, stünden ihm jedoch "rechtlich auch die sich daraus ergebenden finanziellen Vorteile zu". Das Gold sei bereits "bei dem Verbringen über die Staatsgrenze der DDR in die Handelstätigkeit einbezogen" worden. In einem Vermerk vom 26. November 1990 stellte derselbe Prüfer fest, daß der Gewinn mittels der Münzen an den Sohn transferiert werden sollte; der Kläger habe keinen Vermögenszuwachs erzielt und die Auflösung der Hobbywerkstatt habe keine Steuerpflicht begründet.

Jeweils am 2. September 1988 wurden dem Kläger und seiner Ehefrau der Prüfungsbericht, der Ehefrau darüber hinaus die Steuerbescheide 1986 bis 1988 vom 31. August 1988, gerichtet an "Herrn/Frau M. und W. F.", zugestellt (zusammengefaßter Steuerbescheid 1986/1987 über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Verzugszuschlägen, vorläufiger Steuerbescheid 1988 über Einkommensteuer und Umsatzsteuer). Mit Schreiben vom 5. und 14. September 1988 erhoben der Kläger und seine Ehefrau Beschwerde gegen die Steuerbescheide 1986 bis 1988. Nach einer "Aussprache" am 13. Dezember 1988 bei der Steuerfahndungsstelle Z nahm die Ehefrau die Beschwerden betreffend die Jahre 1986 und 1987 unter der Voraussetzung zurück, daß die Steuer für 1988 auf 0 DM festgesetzt wurde. Der Steuerbescheid für 1988 wurde daraufhin aufgehoben. Ein Erlaß der Steuern für 1986 und 1987 wurde abgelehnt.

Das Strafurteil vom 8. August 1988 wurde durch Beschluß des Landgerichts C vom 18. Februar 1993 auf der Rechtsgrundlage des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet - Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) vom 29. Oktober 1992 (BGBl I 1992, 1814) aufgehoben. Im Rahmen der Rehabilitierung wurde der Kläger für die von ihm bezahlte Geldstrafe entschädigt. Vermögenswerte, die ihm oder Dritten im Zusammenhang mit den rechtsstaatswidrigen Strafverfolgungsmaßnahmen entzogen worden sind, wurden zurückerstattet oder zurückgegeben. Zur Begründung führte das Landgericht aus: Das Urteil vom 8. August 1988 sei mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar, weil es der politischen Verfolgung des Antragstellers gedient habe. Zwar handele es sich bei den im Urteil angewandten Straftatbeständen nominell nicht um politische Delikte. Die DDR habe jedoch den freien Waren- und Zahlungsmittelverkehr mit West-Berlin und der Bundesrepublik sowie den freien internen Handel teils völlig verboten, teils strikt reglementiert und Verstöße unter Strafe gestellt, um ihre "sozialistische Ordnung" gegenüber westlichen, insbesondere marktwirtschaftlichen Einflüssen zu schützen. Sie habe insoweit Mittel des Strafrechts zur Sicherung ihres totalitären Systems gegen die Ausübung von Freiheitsrechten durch ihre Bürger, somit zu deren politischer Unterdrückung, verwendet. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, daß dem Kläger schweres Unrecht zugefügt worden sei.

Mit Schreiben vom 12. Oktober 1990 beantragte der Kläger beim Landratsamt A Rückerstattung der Steuern für 1986 und 1987 in Höhe von insgesamt 15.404 Mark (Ost) = 7.702 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte diesen Antrag ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) hat die Ehefrau des Klägers nach § 60 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen. Es hat der Klage stattgegeben und den zusammengefaßten Steuerbescheid 1986/1987 vom 31. August 1988 ersatzlos aufgehoben. Sein Urteil ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 562.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des Art. 19 Satz 2 des Einigungsvertrags (EinigVtr) und des § 102 FGO. Es trägt vor:

Eine Aufhebung von Steuerverwaltungsakten der ehemaligen DDR komme in Betracht, wenn das Steuerrecht nachweislich willkürlich und im Ergebnis unrichtig angewendet worden sei (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 8. August 1991, BStBl I 1991, 793, Tz. 3). Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Die streitigen Verwaltungsakte seien nicht vom Prüfer, sondern vom Rat des Kreises A, Abteilung Finanzen-Steuern, erlassen worden. Unzulässige Ermittlungsmethoden i. S. von § 136 a der Strafprozeßordnung (StPO) habe der Prüfer nicht angewendet. Aus dem Prüfungsbericht vom 24. August 1988 gehe keineswegs hervor, daß sich der Prüfer an die Feststellungen des Strafurteils gebunden gefühlt habe; solches habe er erstmals in seiner Stellungnahme vom 26. November 1990 vorgebracht. Richtig sei lediglich, daß er die Feststellungen im Strafurteil für zutreffend gehalten habe. Die Annahme einer solchen Bindung verletze nicht rechtsstaatliche Grundsätze (Bezugnahme auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68). Im übrigen seien die im Strafurteil enthaltenen Feststellungen tatsächlicher Art im wesentlichen zutreffend gewesen. Der Prüfer habe aus diesen Feststellungen eigenständig die Besteuerungsgrundlagen ermittelt. Die vom Prüfer gezogene steuerrechtliche Wertung möge zwar einer Prüfung nach bundesdeutschen Maßstäben nicht standhalten. Dies bedeute aber nicht, daß ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze vorliege. Es sei zu berücksichtigen, daß es sich aus der Sicht der Finanzbehörde der ehemaligen DDR um einen Sachverhalt mit Auslandsberührung gehandelt habe. Es sei ein legitimes Ziel eines Staates, Sachverhalte, die im Inland verwirklicht würden, der inländischen Besteuerung zu unterwerfen. Die Zurechnung des Steuertatbestands auf den Kläger erscheine auch deswegen nicht als willkürlich, weil dieser immerhin nach außen im eigenen Namen tätig geworden sei.

Das FA habe die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 19 Satz 2 EinigVtr nicht als erfüllt angesehen; deshalb habe es auch keinen Anlaß gehabt, sein Ermessen auszuüben. Das FG sei nicht berechtigt gewesen, die vom Kläger begehrte Ermessensentscheidung selbst zu treffen. Die Erwägungen des FG zur Reduzierung des Ermessens übersähen, daß das Strafurteil nicht wegen fehlerhafter Sachverhaltsfeststellungen aufgehoben worden sei, sondern weil die angewandten Strafvorschriften keine Vorschriften des Wirtschaftsstrafrechts gewesen seien, vielmehr - verdeckt - solche des politischen Strafrechts. Die Aufhebung des Strafurteils mit dieser Begründung habe keinen Einfluß auf den Bestand von Steuerverwaltungsakten, die nicht unter Anwendung von Vorschriften zustandegekommen seien, welche die politische Unterdrückung der Bürger zum Ziel gehabt habe. Die Steuergesetze seien auch nicht mit unverhältnismäßiger Härte angewendet worden.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die Beteiligte haben keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Der Auffassung des FG, schwere Rechtsfehler im Bescheid vom 31. August 1988 begründeten eine - hier nicht widerlegte - Vermutung für Willkürlichkeit und damit einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze, ist im Ergebnis zuzustimmen. Art. 19 Satz 2 EinigVtr ist unter Berücksichtigung seines Zwecks auszulegen, daß Verwaltungsakte der DDR grundsätzlich Bestand haben sollen. Die Frage, wann sie - ausnahmsweise - "mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar" sind, kann nicht für alle in Betracht kommenden Fälle abschließend entschieden werden. Im Streitfall ist der Steuerbescheid aufzuheben, weil er sich bei einer Würdigung seines Inhalts und der seinen Erlaß begleitenden Gesamtumstände nach dem nicht widerlegten äußeren Anschein als mutmaßlich politisch motivierte Willkürmaßnahme darstellt. Sollte Art. 19 Satz 2 EinigVtr als "Kann-Bestimmung" die Verwaltung zu einer Ermessensentscheidung ermächtigen, ist das Ermessen hier auf Null reduziert.

2. Art. 19 EinigVtr bestimmt, daß vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR "wirksam bleiben" (Satz 1). Sie "können" aufgehoben werden, wenn sie "mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrages unvereinbar sind" (Satz 2). Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt (Satz 3).

Art. 19 Satz 2 EinigVtr schafft einen selbständigen Aufhebungsgrund und damit eine eigenständige Korrekturvorschrift für Steuerbescheide i. S. des § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d der Abgabenordnung - AO 1977 - (BFH-Urteil vom 27. Juni 1994 VII R 110/93, BFHE 176, 181, BStBl II 1995, 341, unter 2. b; vgl. Denkschrift zum Einigungsvertrag, BTDrucks 11/7760, S. 364). Die Bestimmung setzt voraus, daß die Verwaltungsentscheidungen (zu diesem Begriff Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 25. Januar 1994 11 B 53/93, ThürVBl 1994, 108 = Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 111 Art. 19 Nr. 1 EinigVtr) wirksam sind. Hiernach ist jedenfalls erforderlich, daß sie - wie im Streitfall - den Betroffenen bekanntgegeben worden sind (vgl. Bublitz, Der Betrieb - DB - 1991, 1143 f.).

3. Art. 19 Satz 2 EinigVtr gibt keine Definition, was unter "rechtsstaatlichen Grundsätzen" zu verstehen ist. Die Denkschrift zum EinigVtr (a. a. O.) enthält hierzu keine Erläuterungen. Wie dieser Maßstab zu konkretisieren ist, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten.

a) Der III. Senat des BFH hat mit Beschluß vom 14. Januar 1994 III B 47/93 (BFH/NV 1994, 602) unter Bezugnahme auf Dürr (Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1991, 651, 652; Die Information über Steuer und Wirtschaft - Inf - 1993, 408) entschieden, das Merkmal "rechtsstaatliche Grundsätze" könne nicht im Sinne des Rechtsstaatsbegriffs des Grundgesetzes (GG) verstanden werden. Es könne sich - wegen der "Andersartigkeit der staatlichen Ordnung in der ehemaligen DDR" - "nicht auf das eingehaltene Verfahren oder rechtsstaatliche Grundsätze wie den Gesetzesvorbehalt" beziehen. Es sei "vor allem darauf abzustellen, ob der Steuerverwaltungsakt auch bei Einhaltung eines rechtsstaatlichen Verfahrens und unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze in der Sache so ausgefallen wäre, z. B. ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Rechts auf Gehör oder aber gegen das Willkürverbot nicht gegeben ist". Für rechtsstaatswidrig hält der III. Senat des BFH unter Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 19. April 1968 III R 78/67 (BFHE 92, 495, BStBl II 1968, 620) "nicht hinnehmbare Fehler wie etwa willkürliche Zuschätzungen" oder eine enteignende Wirkung der Besteuerung der Art, daß die Gewinne "vollständig weggesteuert oder aufgezehrt werden".

b) Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschlüssen vom 14. Juni 1993 AnwZ (B) 2/93 (Mitteilungen der Bundesrechtsanwaltskammer - BRAK-Mitt. - 1993, 169) und vom 14. März 1994 AnwZ (B) 37/93 (Anwaltsblatt - AnwBl - 1994, 297) entschieden, zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen gehöre auch das Rechtsstaatsprinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG). Dies bedeute, daß die Verwaltung bei ihrem Handeln nicht gegen - belastende oder begünstigende - Rechtsnormen verstoßen dürfe. Seien "wertungsbedürftige Rechtsbegriffe" anzuwenden, so lasse sich eine Abweichung von der Norm nur bejahen, "wenn sich die Entscheidung nicht mehr im begrifflichen Rahmen halte und unvertretbar sei, d. h. vernünftigerweise nicht mehr nachvollzogen werden könne und daher objektiv willkürlich erscheine".

c) Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 24. März 1994 7 C 16/93 (Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1994, 2105) ausgeführt, das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG) habe "den Grundgedanken" des Art. 19 Satz 2 EinigVtr aufgegriffen. Auch § 1 Abs. 1 Buchst. b VermG habe zur grundlegenden Voraussetzung, daß der rechtsstaatswidrige Gehalt der Maßnahme in dem Zugriff auf das Eigentum und nicht in dem bloßen Unterbleiben einer in der DDR üblichen Entschädigung liege (hier: diskriminierende Methoden, insbesondere mit Maßnahmen einer gezielten Verschuldung, um Vermögen von Gebietsfremden in staatliche Hand zu bekommen). Alle anderen, nicht unter § 1 VermG fallenden Maßnahmen, die zu Vermögensverlusten geführt haben, sollten "entsprechend der Grundregel des Art. 19 Satz 1 EinigVtr wirksam bleiben" (BVerwG-Urteil vom 30. Juni 1994 7 C 19/93, Neue Justiz 1995, 48). Das BVerwG führte unter Hinweis auf die zum Bestandteil des EinigVtr gewordene (Art. 41 EinigVtr) Gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Staaten zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990 (Anlage III zum EinigVtr) aus, die beiden deutschen Staaten hätten aus Anlaß der Herstellung der Einheit Deutschlands nicht etwa nachträglich einen Zustand schaffen wollen, der bestünde, wenn die Rechts- und Eigentumsordnung ähnlich der in der Bundesrepublik geltenden in Kraft gewesen wäre. Vielmehr gingen der EinigVtr und die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni 1990 grundsätzlich von den in 40 Jahren DDR-Geschichte gewachsenen Tatsachen aus und wollten nur solche vermögensrechtlichen Vorgänge einer Revision unterziehen, die die beiden vertragschließenden Parteien als nicht weiter hinnehmbares besonderes Unrecht angesehen hätten.

d) Nach dem Urteil des Thüringer FG vom 3. November 1993 II K 2/92 (EFG 1994, 384) sind "rechtsstaatliche Grundsätze" i. S. von Art. 19 Satz 2 EinigVtr grundsätzlich "alle Prinzipien eines Rechtsstaats". Im Hinblick auf den in Art. 19 Satz 1 EinigVtr zum Ausdruck kommenden Vorrang der Rechtssicherheit komme eine Aufhebung nach dieser Vorschrift nur in Betracht, wenn der Verstoß gegen einzelne rechtsstaatliche Prinzipien oder gegen den Rechtsstaatsgrundsatz in seinem gesamten Wertungsgehalt so schwerwiegend sei, daß ein Bestehenbleiben des angefochtenen Verwaltungsakts für eine freiheitliche, rechtsstaatliche Grundordnung unerträglich wäre; so u. a. im Falle von Willkürmaßnahmen und bei sachfremden Erwägungen oder wenn die Behörden der DDR beabsichtigt hätten, über steuerliche und strafrechtliche Maßnahmen faktisch Bürger zu enteignen. Solches müsse "aus der Maßnahme heraus und aus den dem Gericht vorliegenden Tatsachen und Beweisen klar erkennbar" sein. Die sachfremden Erwägungen müßten ursächlich für die Steuerfestsetzung gewesen sein. Entgegen dem von Dürr (Inf 1993, 480) gewählten Ausgangspunkt sei Maßstab für die Aufrechterhaltung dieser Verwaltungsakte nicht eine vom GG losgelöste Rechtsstaatsidee, sondern das Rechtsstaatsprinzip des GG. Die Aufhebbarkeit werde nur beschränkt mittels des unbestimmten Gesetzesbegriffs "Unvereinbarkeit".

Das Thüringer Oberverwaltungsgericht - OVG - (Urteil vom 24. April 1994 1 KO 14/93, Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1994, 964) hat entschieden, daß sich ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Auslegung des Art. 19 Satz 2 EinigVtr aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebe, der mit dem im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. April 1991 1 BvR 1170, 1174, 1175/90 (BVerfGE 84, 90, 120 f.) umschriebenen Inhalt einen "Kernbereich der verfassungsmäßigen Ordnung" gewährleiste.

e) Nach Auffassung des BMF (a. a. O.) können Steuerverwaltungsakte der ehemaligen DDR nur aufgehoben werden, wenn sie elementaren Anforderungen an Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit nicht genügen. Eine Aufhebung kommt hiernach in Betracht, wenn das Steuerrecht "nachweislich willkürlich und im Ergebnis unrichtig angewendet worden ist, z. B. um einen politisch Andersdenkenden nur wegen seiner Gesinnung zu verfolgen".

f) Nach überwiegender Auffassung in der Literatur nimmt Art. 19 Satz 2 EinigVtr nicht auf den Rechtsstaatsbegriff des GG Bezug. Als Prüfungsmaßstab komme in Betracht "ein Rechtsstaatsbegriff im Sinne elementarer Grundsätze formeller und materieller Art ..., die von zivilisierten Staaten anerkannt werden" (Starck, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer - VVDStRL - 51, S. 7 ff., 11 f., 14 ff.). Pieroth (VVDStRL 51, S. 111 f.) unterscheidet für die Anwendung des Art. 19 Satz 2 EinigVtr zwischen formell- und materiell-rechtlichen Aspekten: Rechtsstaatliche Verfahrens- und Kompetenzanforderungen wie der Gesetzesvorbehalt hätten ohnehin nicht eingehalten werden können. Würde man sie zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen i. S. des Art. 19 EinigVtr rechnen, gäbe es keine wirksam bleibenden Verwaltungsentscheidungen der früheren DDR. Zu den materiell-rechtlichen Anforderungen gehörten in erster Linie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Willkürverbot (im Ergebnis ebenso Karpen, Der Rechtsstaat des Grundgesetzes, 1992, S. 109). Diese Gesichtspunkte seien bereits vor der Wiedervereinigung im Rahmen der innerdeutschen Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen und der Häftlingshilfe zum Tragen gekommen. Nach Meinung von Dürr (Inf 1993, 480, 482) verweist Art. 19 Satz 2 EinigVtr auf eine "vorverfassungsmäßige Leitidee, die - losgelöst von den Bestimmungen des GG - als allgemeiner Rechtsgrundsatz generell Geltung beanspruche". Dieses Prinzip sei eine "Zusammenfassung von durchgängig anerkannten Rechtssätzen, die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde und der Idee der materiellen Gerechtigkeit abgeleitet sind". Garantiert sei jedenfalls das, was in westlichen Demokratien "allgemein anerkannt" sei.

4. Nach Auffassung des erkennenden Senats bedarf Art. 19 EinigVtr einer Auslegung, die zum einen dem in Satz 1 zum Ausdruck kommenden Ziel Rechnung trägt, "vor-rechtsstaatliche" Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung grundsätzlich wirksam bleiben zu lassen. Zum anderen ist es erforderlich, die Generalklausel des Art. 19 Satz 2 EinigVtr in ein Gesamtsystem einer Bewältigung des vielfältigen und vielgestaltigen DDR-Unrechts (BRDrucks 92/93, S. 40; Haft, Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht - wistra - 1994, 170, 171 m. w. N.) einzuordnen und darüber hinaus zur besseren Handhabbarkeit rechtstechnisch zu präzisieren.

a) "Unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen" sind hiernach jedenfalls Verwaltungsakte, die einen Bezug zu einer alltäglichen sozialistischen "Gesetzlichkeit" nicht mehr erkennen lassen, weil sie in verfahrens- wie materiell-rechtlicher Hinsicht das Willkürverbot verletzen und/oder gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Solches ist vor allem dann anzunehmen, wenn ein Verwaltungsakt an schwerwiegenden Rechtsfehlern leidet und konkrete Umstände des Einzelfalles die Annahme einer politisch-sachwidrigen Motivation der DDR-Behörden, mithin einen Mißbrauch des Steuerrechts zu sachwidrigen Zwecken, nahelegen. Unter dieser Voraussetzung kann es nicht dem Steuerpflichtigen obliegen nachzuweisen, daß eine vor allem politisch motivierte Willkür tatsächlich ursächlich für eine gesetzwidrige Besteuerung war.

b) Der Rechtsstaatsbegriff des GG (zu letzterem Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1984, S. 796 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I S. 987 ff.) ist hier nicht unmittelbar einschlägig. Dies folgt daraus, daß Art. 19 EinigVtr das Ergebnis einer auf die Überleitung eines Rechtssystems gerichteten politischen Entscheidung ist. Eine "rückwirkende" Prüfung von Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung am Maßstab des GG ist vom EinigVtr nicht gewollt (Berg, VVDStRL 51, S. 62 f., 78; Pieroth, VVDStRL 51, S. 101; a. A. Tietje, Deutsch-Deutsche-Rechts-Zeitschrift - DtZ - 1994, 138, 141). Allein daraus, daß die Steuerfestsetzungen der früheren Steuerbehörden der DDR ihre Grundlage in den damals geltenden Steuergesetzen gefunden haben, kann eine Rechtsstaatswidrigkeit i. S. von Art. 19 EinigVtr nicht hergeleitet werden (zutreffend Dürr, Inf 1993, 482).

c) Viele Grundsätze, die nach dem Urteil des BVerfG in BVerfGE 84, 90, 120 f., zu Art. 143 Abs. 3 GG i. d. F. des Art. 4 Nr. 5 EinigVtr unter die Wesensgehaltsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG fallen, waren in der DDR nicht oder nur unzureichend ausgeformt, z. B. der Grundsatz der Gewaltenteilung, der Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt durch unabhängige Gerichte (vgl. Dürr, Inf 1993, 480, 481), die "Schaffung einer weitgehenden materiellen Gerechtigkeit" sowie eine die Berufsfreiheit und die Gewährleistung des Eigentums und des Erbrechts respektierende Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Die Verwaltungsentscheidungen, für welche Art. 19 Satz 1 EinigVtr die - einer sozialistischen Gesetzlichkeit fremde - Bestandskraft einführte (vgl. Thüringer OVG in DÖV 1994, 964), sind nicht unter der Geltung eines Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und in einem von "westlichen" Vorstellungen geprägten Verwaltungsverfahren ergangen. Denn das Recht war im Sinne einer "sozialistischen Gesetzlichkeit" instrumentalisiert (Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I 1987, § 10 Rdnr. 12 ff., 30 ff., zur "sozialistischen Gesetzlichkeit"; Schulze-Fielitz, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1991, 893 ff.; Berg, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51, S. 46, 49 f. mit Nachweisen der Literatur; Pieroth, VVDStRL 51, S. 91 ff., 97 f.). Auch das Steuerrecht der DDR war insgesamt ideologisch ausgerichtet (vgl. - zum "Steuerrecht der Sowjetzone" als einem "Instrument zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur im kommunistischen Sinne" - BVerfG-Beschluß vom 24. Januar 1961 2 BvR 168/60, BVerfGE 12, 99, 103 ff.; hierzu Dürr, DStZ 1991, 651, 654 f.; Eisold, DStZ 1992, 140).

d) Dies war den Parteien des EinigVtr bekannt, als sie den Grundsatz des Art. 19 Satz 1 EinigVtr festlegten. Sie haben sich für den Vorrang der grundsätzlichen Bestandskraft vor einer umfassenden Beachtung des Rechtsstaatsprinzips entschieden (zutreffend Thüringer FG in EFG 1994, 384, 385). Dies bedeutet, daß die im Rahmen einer "vor-rechtsstaatlichen Normalität" erlassenen Verwaltungsakte der DDR vor allem deswegen weitergelten, weil andernfalls die Effektivität der Länderverwaltungen, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und - bezogen auf die Bestandskraft von Steuerbescheiden - die Sicherung des Steueraufkommens in Frage gestellt wäre. Dies gilt unabhängig davon, daß diese Verwaltungsakte durch andere Staatsstrukturen (z. B. "Gewalteneinheit"; Weisungsgebundenheit der Richter) und ein "sozialistisches Verwaltungsrecht" (vgl. König, DÖV 1991, 177; Stelkens, DtZ 1991, 264, 266 ff., m. w. N. der Literatur) geprägt waren. Der Geltungsbereich des GG der Bundesrepublik ist nicht rückwirkend auf das Beitrittsgebiet ausgedehnt worden (vgl. BVerfG-Beschluß vom 30. Oktober 1993 1 BvL 42/92, DtZ 1994, 148). Andererseits dürfen grundlegende Gerechtigkeitspostulate wie der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot sowie die grundlegenden Elemente des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips bei der Anwendung des EinigVtr nicht außer acht gelassen werden (vgl. BVerfG in BVerfGE 84, 90, 120 f.).

e) Auf der Grundlage des EinigVtr ist eine Reihe von Gesetzen zur Aufarbeitung einer "vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit" geschaffen worden. Das Recht der Rehabilitierung bietet Anhaltspunkte dafür, daß Maßnahmen insbesondere der politisch motivierten Willkür und die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht hingenommen werden.

aa) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz - VwRehaG -) vom 23. Juni 1994 (BGBl I 1994, 1311) sind bestimmte Maßnahmen von Behörden der ehemaligen DDR auf Antrag aufzuheben, "soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar (sind) und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken". Mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar sind "Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen und die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben" (§ 1 Abs. 2 VwRehaG). Ausweislich der Begründung zum Regierungsentwurf (BTDrucks 12/4994, S. 16, 17) sollen "im Anschluß an Art. 19 EinigVtr ... schlechthin rechtsstaatswidrige Maßnahmen" aufgehoben werden. Geregelt werden "gravierende Unrechtsfälle" (a. a. O., S. 2, 16 f.), die "krassesten Verstöße" bzw. "die gravierendsten Fälle ..., d. h. Sachverhalte, die mit den elementaren Prinzipien des Rechtsstaats gänzlich unvereinbar sind" (a. a. O., S. 17). Diese müssen "heute noch spürbar sein"; die Folgen müssen "schwer und unmittelbar fortwirken" (a. a. O., S. 2). Zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, die eine Aufhebung rechtfertigen, rechnet die Begründung zum Regierungsentwurf die Elemente des formellen Rechtsstaatsbegriffs und die materiellen Elemente Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit. Nur Verstöße erheblicher Intensität vermögen diesen Kernbestand zu verletzen. Ein besonderes Indiz für einen solchen Verstoß sind Maßnahmen der politischen Verfolgung oder Willkürakte im Einzelfall.

Allerdings fügt der Regierungsentwurf hinzu: Eine gegenüber Art. 19 Satz 2 EinigVtr "restriktive Definition" der "rechtsstaatlichen Grundsätze" im vorstehenden Sinne sei zulässig und geboten, um zu verhindern, daß in der Praxis ein zu großzügiger Maßstab angelegt wird und DDR-Verwaltungsentscheidungen weitflächig überprüft werden.

bb) Das VwRehaG findet keine Anwendung u. a. auf Verwaltungsentscheidungen in Steuersachen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 VwRehaG). Die Begründung zum Regierungsentwurf (BTDrucks 12/4994, S. 22) führt hierzu aus, für den Bereich der Steuerverwaltung habe der BMF im Schreiben vom 8. August 1991 (a. a. O.) die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 19 EinigVtr festgelegt. Die dort aufgestellten Grundsätze für ein Wiederaufgreifen abgeschlossener Verfahren entsprächen "weitgehend den Regelungen des VwRehaG".

5. Der zusammengefaßte Steuerbescheid 1986/1987 vom 31. August 1988 ist unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen.

a) Diese rechtliche Bewertung folgt nicht bereits aus den "regulären" Defiziten des Verwaltungsverfahrens. Die kurzen Fristen für die behördlichen Entscheidungen nach der Abgabenordnung der DDR (AO DDR) führen nicht zur Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Zwar kann eine Verletzung rechtlichen Gehörs unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht hinnehmbar sein (Dürr, Inf 1993, 480). Daß die Kläger vor der Steuerfestsetzung nicht hätten Stellung nehmen können, ist indes ohne Belang. Die fehlende Mitwirkung bzw. Anhörung des Steuerpflichtigen vor Erlaß des Steuerbescheides ist heilbar (vgl. § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977).

Auch trägt die Würdigung des FG, die Steuerbehörde habe den Sachverhalt "nicht selbst ermittelt", nicht die Rechtsfolge des Art. 19 Satz 2 EinigVtr. Die Feststellungen im Strafurteil beruhen im wesentlichen auf dem Geständnis des Klägers; dieser hat auch im Besteuerungsverfahren den steuerrechtlichen Sachverhalt nicht bestritten, sondern geltend gemacht, nicht er, sondern sein Sohn sei Gewerbetreibender und Unternehmer gewesen. Auch unter der Geltung der AO 1977 würde die fehlerhafte Annahme einer Finanzbehörde, sie sei an die Sachverhaltsfeststellung eines Gerichts gebunden, nicht zur Nichtigkeit eines hierauf erlassenen Verwaltungsaktes führen. Mögliche Verstöße gegen Regeln der Gewinnermittlung, insbesondere durch Schätzung, sind ebenfalls für sich allein nicht i. S. von Art. 19 Satz 2 EinigVtr rechtsstaatswidrig.

Dem FG kann auch nicht darin gefolgt werden, daß hier der Rechtsgedanke des § 580 Nr. 6 der Zivilprozeßordnung (ZPO) eine Aufhebung des Bescheides vom 31. August 1988 fordert. Die Taten, derentwegen der Kläger verurteilt worden war, waren nicht deckungsgleich mit den Tatbeständen, die die Behörde der DDR der Steuer unterworfen hat. Ferner ist zu bedenken, daß die strafrechtliche Rehabilitierung den rechtsstaatswidrigen Mißbrauch des Strafrechts in den Vordergrund rückt (vgl. Keck/Schröder/Tappert, DtZ 1993, 2, 4).

b) Indes tragen die übrigen Erwägungen des FG sein Urteil. Seine Wertung, die Steuerbehörde der DDR habe im Anschluß an das Strafverfahren "zu einem vorgefaßten Ergebnis gelangen" wollen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nicht widerlegte Indizien für ein sachwidrig motiviertes Verwaltungshandeln, welches die Steuerfestsetzung insgesamt als willkürlich erscheinen lassen, ergeben sich aus einer Gesamtwürdigung der schwerwiegenden verfahrens- und materiell-rechtlichen Mängel, die dem Bescheid anhaften.

Ein gravierender materiell-rechtlicher Fehler ist darin zu sehen, daß sich die Behörde nicht mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt hat, er sei ausschließlich im Auftrag seines in der Bundesrepublik lebenden Sohnes - mithin als dessen Treuhänder - tätig geworden und habe persönlich nicht mit Gewinnerzielungsabsicht gehandelt. Das FG hat dies zu Recht dahin gewertet, daß der Prüfer den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt "verdreht und einseitig ausgewertet" hat. Mit der Feststellung im Tatbestand des Strafurteils, daß der Kläger den Erlös aus der Veräußerung der Elektronikteile auch nicht teilweise behalten durfte, und der deswegen naheliegenden Folgerung einer fehlenden Gewinnerzielungsabsicht hat sich der Prüfer nicht befaßt. Das FG hat dargelegt, daß dies keineswegs auf fehlende Rechtskenntnisse des Prüfers zurückzuführen gewesen sei. Diesem seien die einschlägigen Grundbegriffe des DDR-Steuerrechts ("Gewerbebetrieb", "Unternehmen") durchaus geläufig gewesen; er habe sogar zutreffend jeweils zwischen der Absicht, Einnahmen und Gewinn zu erzielen, unterschieden. Der Prüfer habe sich, so das FG, über seine Pflicht hinweggesetzt, den Sachverhalt auch zugunsten des Klägers zu ermitteln und zu würdigen (§ 204 AO DDR).

In dieses Bild fügt sich ein, daß der Prüfer den Kläger nicht zur Abgabe einer Steuererklärung aufgefordert, sondern - in großer Eile - die Besteuerungsgrundlagen geschätzt hat. Bei dieser Sachlage war die Annahme des Prüfers, der Kläger habe die Abgabe einer Steuererklärung verweigert, abwegig.

Der Ehefrau des Klägers sind Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Umsätze als Unternehmerin zugerechnet worden, obwohl sie, wovon auch der Prüfungsbericht ausgeht, lediglich untergeordnete Tätigkeiten beim Verpacken und Versenden der Elektronikteile erledigt hat. Ihre Inanspruchnahme war unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu rechtfertigen und damit objektiv willkürlich. Dies wiederum läßt es als naheliegend erscheinen, daß es der Steuerbehörde auch dem Kläger selbst gegenüber darauf ankam, ihn ohne Rücksicht auf die bestehende Rechtslage in Anspruch zu nehmen und die rechtsstaatswidrige strafrechtliche Sanktion in den steuerrechtlichen Bereich zu erstrecken. Zu Recht weist das FG auf den Widerspruch hin, daß der Prüfer auf der Rechtsgrundlage des § 7 der Anordnung über die Besteuerung der Gewerbetreibenden, selbständig tätigen und anderen steuerpflichtigen Bürger - Besteuerungsrichtlinie - vom 24. August 1979 (Gesetzblatt der DDR - GBl DDR - Sonderdruck Nr. 1016) das Vertragsverhältnis zwischen den Eheleuten nicht anerkannt, die Ehefrau mithin als nichtselbständig angesehen hat. Das FG hat hieraus in vertretbarer Weise gefolgert, daß der Prüfer die Ehefrau "wider besseres Wissen" als Gesamtschuldnerin zur Steuer herangezogen hat. Diese Annahme wird gestützt durch die Feststellung des FG, daß der Prüfer "nach der Wende" durchaus in der Lage war, aus dem unveränderten Sachverhalt dem Steuerrecht der DDR angenäherte Folgerungen zu ziehen.

Der Vortrag des FA, das Rechtsbehelfsverfahren sei "keine reine Farce" gewesen, verhilft der Revision nicht zum Erfolg. Zwar ist nichts dafür ersichtlich, daß die "Verständigung", die zur Rücknahme des Rechtsbehelfs für die Streitjahre geführt hat, von der Behörde durch rechtsstaatswidrige Mittel (vgl. § 136 a StPO) erzwungen worden wäre. Der Kläger hat aber - insoweit unwidersprochen - vorgetragen, seine Ehefrau habe die Beschwerde unter der Androhung zurückgenommen, daß er andernfalls 34.095 Mark Steuern für das Jahr 1988 hätte zahlen müssen; Hauptmotiv hierfür sei die Angst vor dem Verlust der Wohnungseinrichtung gewesen. Von einer einvernehmlichen und vor allem freiwilligen Regelung des Steuerfalles kann hier schon deswegen nicht die Rede sein, weil dem Kläger die Alternative einer Anfechtung auf dem Rechtsweg nicht zur Verfügung stand. Nach seinen bisherigen Erfahrungen mit den DDR-Behörden mußte der Kläger davon ausgehen, daß er in seiner bürgerlichen Existenz bedroht war.

c) Auch für eine Zusammenveranlagung und die "Zusammenfassung" der Steuerfestsetzungen gab es, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, keine Rechtsgrundlage; insoweit sind § 26 des Einkommensteuergesetzes 1970 der DDR und § 210 Abs. 2 AO DDR mißachtet worden. Eine gesonderte und einheitliche Feststellung mit Angaben zu den Anteilen am Gewinn ist entgegen § 215 Abs. 2 Nr. 2 AO DDR unterblieben. Die Behörde nahm ohne nähere Prüfung die Eheleute wegen der möglicherweise dem Sohn zuzurechnenden Gewinne und Umsätze in Haftung und verschaffte sich die Möglichkeit, faktisch auf das gesamte Familienvermögen zuzugreifen.

d) Der Steuerbescheid enthielt damit eine eindeutig gesetzwidrige Steuerfestsetzung, welche eine politische Willkürmaßnahme hinreichend indiziert. Bei dieser Sachlage brauchte der Kläger den Nachweis, daß die Steuerfestsetzung der "Verfolgung eines Andersdenkenden" diente, nicht zu erbringen.

6. Das FG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Steuerbescheid aufgehoben werden "konnte". In Übereinstimmung mit der Auffassung des BMF (BStBl I 1991, 793, unter 4.), des Thüringer FG (EFG 1994, 384, 385: "Güterabwägung") und der in der Literatur h. M. (Dürr, Inf 1993, 479, 483; Bublitz, DB 1991, 1143, 1146; a. A. Tietje, DtZ 1994, 138, 142) ist es davon ausgegangen, daß Art. 19 Satz 2 EinigVtr die Verwaltung zur Ausübung von Ermessen ermächtigt. Der erkennende Senat hat Zweifel, ob dieser Auffassung zu folgen ist und nicht vielmehr durch die Verwendung des Wortes "kann" der Verwaltung eine Zuständigkeit zugewiesen wird, die sie bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen wahrnehmen muß (vgl. BVerwG-Urteil vom 7. Februar 1974 III C 115/71, BVerwGE 44, 339, 342: "Ermächtigungs-Kann"; allgemein Erichsen in Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 1992, § 10 Rdnr. 13 m. w. N.). Für eine solche Auslegung spricht, daß ohnehin den Tatbestand dieser Vorschrift nur solche Verwaltungsentscheidungen erfüllen, die zu einem schwerwiegenden Eingriff in die Rechtssphäre des Bürgers geführt haben. Jenseits einer Bagatellgrenze dürfte es mit Art. 19 Satz 2 EinigVtr nicht zu vereinbaren sein, etwa auf die derzeitige Einkommens- und Vermögenssituation des Steuerpflichtigen oder - im Rahmen von Ermessenserwägungen - nochmals auf die Motive der beteiligten staatlichen Organe abzustellen. Dem Willen der Parteien des EinigVtr, grundsätzlich den Rechtsfrieden zu wahren und die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, wird bereits durch die Auslegung der übrigen Tatbestandsmerkmale des Art. 19 Satz 2 EinigVtr Rechnung getragen.

Diese Frage braucht nicht abschließend entschieden zu werden. Auch wenn Art. 19 Satz 2 EinigVtr der Behörde einen Ermessensspielraum einräumen sollte, hat das FG im Ergebnis zutreffend entschieden, daß hier das Ermessen auf Null reduziert war.