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  BFH-Beschluß vom 3.7.1995 (GrS 3/93) BStBl. 1995 II S. 730

Die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides darf auch insoweit aufgehoben werden, als sie zu einer - vorläufigen - Erstattung entrichteter Einkommensteuer-Vorauszahlungsbeträge führt.

FGO § 69 Abs. 2 Sätze 1, 2 und 4, Abs. 3 Sätze 1 und 3; AO 1977 § 37 Abs. 2 Satz 1, § 124 Abs. 2, § 218 Abs. 1 Satz 1; EStG § 36 Abs. 1, § 37 Abs. 3 Satz 1.

Vorlagebeschluß vom 23. Juni 1993 X B 134/91 (BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38)

Sachverhalt

A. Vorgelegte Rechtsfrage

Der X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Beschluß vom 23. Juni 1993 im Beschwerdeverfahren X B 134/91 dem Großen Senat des BFH gemäß § 11 Abs. 3 und Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Darf die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides auch aufgehoben werden, soweit sie zu einer - vorläufigen - Erstattung entrichteter Einkommensteuer-Vorauszahlungsbeträge führt?

B. Sachverhalt

I. Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Gesellschafter einer KG. Diese hat gegen den Gewinnfeststellungsbescheid 1988 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) hat die Vollziehung des angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheides in Höhe von 1.283.907 DM ausgesetzt. Von diesem Betrag entfallen auf den Antragsteller zu 1) 641.954 DM, auf den Antragsteller zu 2) 160.488 DM. Die Anträge, die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 gemäß § 361 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) in entsprechender Höhe auszusetzen, hat das FA abgelehnt, weil sich durch die jeweiligen Einkommensteuerbescheide keine Abschlußzahlungen ergeben hätten; die Erstattung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen könne nach der Rechtsprechung des BFH durch eine Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide nicht erreicht werden. Die Antragsteller beantragten daraufhin beim Finanzgericht - FG - (u. a.), die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide aufzuheben.

Das FG hat, insbesondere gestützt auf die BFH-Beschlüsse vom 15. Juni 1982 VIII B 138/81 (BFHE 136, 186, BStBl II 1982, 657) und vom 8. Juli 1982 IV B 6/82 (BFHE 136, 190, BStBl II 1982, 660), die Anträge abgewiesen.

Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde zum BFH begehren die Antragsteller (u. a.) weiterhin die Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1988 entsprechend der Aussetzung der Vollziehung des Gewinnfeststellungsbescheides 1988.

Entscheidungsgründe

II. Der X. Senat des BFH hält die Beschwerde für begründet. Er bejaht die vorgelegte Rechtsfrage in Übereinstimmung mit der im Vorlagebeschluß dargestellten weitaus überwiegenden Meinung im Schrifttum, sieht sich damit jedoch in Widerspruch zu Entscheidungen des IV., VI. und VIII. Senats, wonach die Aufhebung der Vollziehung von Steuerbescheiden nicht zur Erstattung angerechneter Beträge führen dürfe.

Der IV. und der VIII. Senat haben einer Abweichung nicht zugestimmt. Hingegen hat der VI. Senat dem X. Senat mitgeteilt, daß er an seiner Rechtsauffassung im Beschluß vom 19. August 1969 VI B 51/69 (BFHE 96, 465, BStBl II 1969, 685) nicht mehr festhalte. Im Hinblick auf die beabsichtigte Abweichung von der Rechtsprechung des IV. und VIII. Senats hat der X. Senat den Großen Senat des BFH angerufen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FGO); zudem stützt der vorlegende Senat die Anrufung auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage (§ 11 Abs. 4 FGO).

Wegen der vom X. Senat vertretenen Rechtsauffassung sowie der Stellungnahmen der Beteiligten, insbesondere der Stellungnahme des dem Verfahren beigetretenen Bundesministeriums der Finanzen (BMF), wird auf den in BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38 veröffentlichten Vorlagebeschluß verwiesen.

C. Verfahren vor dem Großen Senat

Die Vorlage ist zulässig (§ 11 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 FGO). Eine mündliche Verhandlung ist nicht erforderlich (§ 11 Abs. 7 Satz 2 FGO). Eine Förderung der Entscheidung des Großen Senats durch eine mündliche Verhandlung ist nicht zu erwarten. Die zu entscheidende Rechtsfrage und die unterschiedlichen Auffassungen, die dazu vertreten werden, sind im Vorlagebeschluß eingehend dargelegt. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.

D. Entscheidung des Großen Senats

I. Bisherige Rechtsprechung

Nach den BFH-Beschlüssen in BFHE 96, 465, BStBl II 1969, 685; in BFHE 136, 186, BStBl II 1982, 657; in BFHE 136, 190, BStBl II 1982, 660 sowie vom 5. August 1980 VIII B 108/79 (BFHE 131, 282, BStBl II 1981, 35) und vom 26. November 1986 VIII B 114/86 (BFHE 148, 129, BStBl II 1987, 179) kann die Aufhebung der Vollziehung von Einkommensteuerbescheiden hinsichtlich der geleisteten Einkommensteuer-Vorauszahlungen (sowie der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer und der anzurechnenden Körperschaftsteuer) nicht angeordnet werden, weil angenommen wird, daß geleistete Vorauszahlungen nicht zu den Vollzugsmaßnahmen aus dem angefochtenen Verwaltungsakt gehören, die gemäß § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO a. F. (entspricht § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO i. d. F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 1992, 2109) vorläufig rückgängig gemacht werden dürfen. Der Einkommensteuerbescheid werde nur hinsichtlich des auf ihm beruhenden Leistungsgebotes, nämlich der Abschlußzahlung nach Anrechnung von Einkommensteuer-Vorauszahlungen und Steuerabzugsbeträgen verwirklicht und damit vollzogen. Die auf die Einkommensteuer geleisteten Vorauszahlungen würden hiervon nicht berührt. Nicht der Einkommensteuerbescheid sei die Grundlage dafür, daß das FA diese Beträge einziehen und behalten dürfe, sondern der vorangegangene Vorauszahlungsbescheid, denn in Erfüllung dieses Bescheides seien die Vorauszahlungen erbracht worden.

II. Rechtsauffassung des Großen Senats

1. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 FGO wird durch die Erhebung der Klage, vorbehaltlich der in § 69 Abs. 5 FGO geregelten Sachverhalte, die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung einer Abgabe nicht aufgehalten. Die Klage (Revision, § 121 FGO) hat im finanzgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung.

Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO kann das Gericht unter den dort näher bezeichneten Voraussetzungen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen; soweit, wie im Vorlagefall, die Vollziehung eines Grundlagenbescheides ausgesetzt worden ist, ist auch die Vollziehung des Folgebescheides auszusetzen (§ 69 Abs. 2 Satz 4 FGO). Der stattgebende Beschluß des Gerichts hat zur Folge, daß die Finanzbehörde den Verwaltungsakt vorläufig nicht vollziehen darf. Dagegen kommt der Vollziehungsaussetzung keine rechtsgestaltende Wirkung dahin gehend zu, daß der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig als nicht existent zu behandeln wäre. Aussetzung der Vollziehung bedeutet, daß der materielle Regelungsinhalt des nach wie vor wirksamen Verwaltungsakts bis auf weiteres nicht mehr verwirklicht werden kann, so daß rechtliche (und tatsächliche) Folgerungen aus dem Verwaltungsakt nicht gezogen werden dürfen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838, und vom 29. November 1977 VII B 6/77, BFHE 124, 13, BStBl II 1978, 156; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 21. Juni 1961 VIII C 398.59, BVerwGE 13, 1; vom 12. Mai 1966 II C 197.62, BVerwGE 24, 92, und vom 27. Oktober 1982 3 C 6.82, BVerwGE 66, 218, 222).

Für die nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO mögliche Anordnung des Gerichts, die Vollziehung eines bereits vollzogenen Verwaltungsakts aufzuheben, ergibt sich hieraus, daß alle Folgen rechtlicher oder tatsächlicher Art, die von der Behörde zur Verwirklichung des Regelungsinhalts des Verwaltungsakts bereits gezogen worden sind, vorläufig rückgängig zu machen sind. Die Aufhebung der Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides bewirkt danach insbesondere, daß die aufgrund dieses Bescheides entrichtete Steuer ganz oder teilweise (vorläufig) zu erstatten ist.

2. Diese Folge der Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides ist nicht auf die sog. Abschlußzahlung (nach Anrechnung der Vorauszahlungen) beschränkt, sondern ergreift auch die vom Steuerpflichtigen als Vorauszahlungen geleisteten Beträge.

Zwar sind die Vorauszahlungen, da sie aufgrund des Vorauszahlungsbescheides (§ 37 Abs. 3 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) entrichtet worden sind, vom FA zu Recht eingezogen und einbehalten worden (vgl. § 218 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Ergeht der Einkommensteuerbescheid (§ 36 Abs. 1 EStG, § 155 Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977), ist der Vorauszahlungsbescheid i. S. des § 124 Abs. 2 AO 1977 "auf andere Weise" erledigt (BFH-Urteil vom 29. November 1984 V R 146/83, BFHE 143, 101, 103, BStBl II 1985, 370; BFH-Beschlüsse vom 4. Juni 1981 VIII B 31/80, BFHE 133, 267, 270, BStBl II 1981, 767; vom 12. April 1994 VII B 278/93, BFHE 174, 8; sowie in BFHE 172, 9, 15, BStBl II 1994, 38). Da die Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer lediglich aufgrund einer regelmäßig auf dem Ergebnis der letzten Veranlagung beruhenden Prognose festgesetzt werden (§ 37 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 EStG), besteht kein Grund dafür, daß der Vorauszahlungsbescheid weiterhin wirksam bleibt, wenn die Steuer für den Veranlagungszeitraum entstanden (§ 36 Abs. 1 EStG) und durch den Einkommensteuerbescheid nach dem Einkommen, das der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum bezogen hat (§ 25 Abs. 1 EStG), festgesetzt worden ist.

Der den Vorauszahlungsbescheid ablösende Einkommensteuerbescheid ist nunmehr alleinige Grundlage für die Verwirklichung des Anspruchs auf die mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstandene Einkommensteuer (§ 36 Abs. 1 EStG, § 218 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Dieser und nicht mehr der Vorauszahlungsbescheid ist Grundlage für die Einbehaltung der als Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum entrichteten Beträge.

Die Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides bewirkt demzufolge, daß das aus dem Einkommensteuerbescheid abgeleitete Recht des FA, die vorausbezahlten und auf die Einkommensteuer angerechneten Beträge einzubehalten, suspendiert wird, so daß diese Beträge - in dem durch § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO begründeten Umfang - vorläufig zu erstatten sind. Dem steht der Vorauszahlungsbescheid nicht entgegen; dieser ist, wie dargelegt, mit der wirksamen Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheides erledigt. Hieran ändert die Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheides nichts, denn durch die Aufhebung der Vollziehung verliert der Einkommensteuerbescheid nicht seine Wirksamkeit i. S. des § 124 AO 1977. Er bleibt vielmehr auch hinsichtlich seiner den Vorauszahlungsbescheid ablösenden Funktion wirksam, lediglich das Recht des Finanzamts auf Verwirklichung des Regelungsinhalts des Einkommensteuerbescheides wird - vorläufig - aufgehoben.

3. Der Große Senat entscheidet die vorgelegte Rechtsfrage danach wie folgt:

Die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheides darf auch insoweit aufgehoben werden, als sie zu einer - vorläufigen - Erstattung entrichteter Einkommensteuer-Vorauszahlungsbeträge führt.