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  BFH-Urteil vom 10.11.1994 (IV R 44/94) BStBl. 1995 II S. 814

Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids und sind im Falle des Obsiegens andere Steuerbescheide zuungunsten des Rechtsbehelfsführers zu ändern, so kann die Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheids nicht auf den Unterschiedsbetrag der steuerlichen Auswirkungen begrenzt werden. Die Möglichkeit, eine Sicherheitsleistung in dieser Höhe anzuordnen, bleibt unberührt.

AO 1977 § 361 Abs. 2.

Vorinstanz: FG Bremen

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden im Streitjahr 1987 als Ehegatten zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Bis zur Aufgabe seines Betriebs erzielte der Kläger als bilanzierender Landwirt Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft. Im Wirtschaftsjahr 1983/1984 veräußerte er betriebliche Grundstücke an die Stadt A gegen Zahlung eines Kaufpreises von insgesamt .... DM, der in Höhe von .... DM auch eine Entschädigung für die Aufgabe des Betriebs umfaßte. Der Kaufvertrag vom 12. Dezember 1983 enthielt im übrigen eine Nachbesserungsklausel, wonach sich der Erwerber zu einer Nachzahlung auf den vereinbarten Kaufpreis für den Fall verpflichtete, daß in den gegen die Nachbareigentümer laufenden Enteignungsverfahren höhere Entschädigungen festgesetzt würden.

Auf den vereinbarten Kaufpreis wurden am 2. März 1984 .... DM gezahlt. Einen Teilbetrag von .... DM stellte der Kläger als Rücklage nach § 6 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) in seine Bilanz zum 30. Juni 1984 ein. Nachdem der restliche Kaufpreis mit der Grundbucheintragung des Eigentumsübergangs fällig und gezahlt worden war, erklärte der Kläger im Juni 1986 die Aufgabe seines landwirtschaftlichen Betriebs zum 16. Juni 1986. Wie der Kläger weiter mitteilte, sollte zu diesem Zeitpunkt auch das bisherige Betriebsvermögen in sein Privatvermögen überführt werden.

Aufgrund eines Schreibens des Klägers vom 23. Dezember 1986 zahlte die Stadt A in Erfüllung der Nachbesserungsklausel dem Kläger am 16. Januar 1987 weitere .... DM einschließlich Zinsen. In der am 17. November 1987 aufgestellten Abschlußbilanz für das Wirtschaftsjahr 1985/1986 und in den früheren Bilanzen hatte der Kläger die bedingte Kaufpreisforderung nicht berücksichtigt; sie ging auch nicht in den Einkommensteuerbescheid 1986 ein. In der Anlage zu diesem Bescheid wies der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lediglich darauf hin, daß Nachbesserungszahlungen als Einnahmen aus Land- und Forstwirtschaft zu erklären seien. Der Kläger behandelte diese Nachzahlung dann in seiner Einkommensteuererklärung 1987 als nachträgliche, tarifbegünstigte Betriebseinnahmen, von denen er Prozeßkosten in Höhe von 1.114 DM absetzte. Gutachterkosten und Beiträge zur Berufsgenossenschaft sowie weitere nicht streitige Aufwendungen machte er als laufende nachträgliche Betriebsausgaben geltend.

Das FA erfaßte die Zahlungen hingegen als laufende nachträgliche Einnahmen und versagte den Abzug der Prozeßkosten mangels Nachweises.

Dagegen richtet sich der Einspruch, über den das FA noch nicht entschieden hat. Ein ebenfalls gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung hatte teilweise Erfolg. Das FA setzte die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1987 nur in Höhe von 19.285 DM mit der Begründung aus, daß für das Jahr 1986 insgesamt 37.377 DM nachzufordern seien, falls das Begehren der Kläger Erfolg haben würde.

Nach erfolgloser Beschwerde gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt und setzte die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1987 in Höhe des streitigen Betrags von 56.662 DM zuzüglich Kirchensteuer aus.

Mit seiner dagegen gerichteten vom Senat zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.

Das FG sei infolge unrichtiger Auslegung des § 361 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu dem Ergebnis gelangt, daß die Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 in voller Höhe auszusetzen sei, obgleich bei Erfolg des Einspruchs der Steuerbescheid des Vorjahres zuungunsten der Kläger geändert werden müsse. Die Auffassung, nur die rechtlichen Zweifel an dem der Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Steuerbescheid seien maßgebend, sei rechtsfehlerhaft. Zu prüfen seien nicht die Voraussetzungen des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern allein der Umfang der Aussetzung der Vollziehung. Die Regelung des § 361 Abs. 2 AO 1977 beruhe auf der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) und gewährleiste den Ausgleich zwischen dem Interesse der Finanzbehörde an der Durchsetzung der Steuerforderungen und dem Interesse des Steuerpflichtigen, eine Leistung nicht vorläufig erbringen zu müssen. Der vorläufige Rechtsschutz könne daher nicht weiter gehen, als das Begehren und Interesse des Steuerpflichtigen reiche. Daraus folge, daß der Steuerpflichtige durch Aussetzung der Vollziehung nur in dem Umfang von der Durchsetzung der Steueransprüche freigestellt werden solle, in dem diese Ansprüche streitig seien. Demgemäß sehe § 361 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 auch ausdrücklich die teilweise Aussetzung der Vollziehung vor.

Diese auch vom Bundesminister der Finanzen (BMF) vertretene Auffassung (BMF-Schreiben vom 9. April 1992, BStBl I 1992, 278) stehe auch dem summarischen Charakter des Verfahrens zur Aussetzung der Vollziehung nicht entgegen. In einem Fall, in dem, wie im Streitfall die umstrittenen Einnahmen in einem anderen Jahr zu erfassen seien, führe die Saldierung zu keinem nennenswerten zusätzlichen Prüfungsaufwand.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

I. Die Klage gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD vom 28. Februar 1990 ist zulässig. Nach § 69 Abs. 7 FGO i. d. F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2109, BStBl I 1993, 90) ist die Klage gegen die die Aussetzung der Vollziehung ablehnende behördliche Entscheidung zwar unzulässig; da die Beschwerdeentscheidung jedoch vor Inkrafttreten des FGO-Änderungsgesetzes bekanntgegeben worden war, richtet sich die Zulässigkeit der Klage noch nach den bisher geltenden Vorschriften, wonach eine Klage gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung zulässig war (Art. 7 Satz 1 FGO-Änderungsgesetz). Zu Recht hat das FG auch die Klagebefugnis für die Verpflichtungsklage bejaht, denn die Kläger haben geltend gemacht, durch die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung in ihren Rechten verletzt zu sein (§ 40 Abs. 2 FGO).

II. Im Ergebnis zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß die auch vom FA und der Beschwerdebehörde bejahten ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 die Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheids in dem beantragten Umfang gebieten.

1. Gemäß § 361 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 soll auf Antrag "die Aussetzung erfolgen", wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel sind nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (Beschluß vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570). Im Streitfall besteht Übereinstimmung, daß gewichtige Gründe gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 bestehen. FA und OFD haben deshalb die Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheids verfügt. Wie der Senat im Urteil vom 10. Februar 1994 IV R 37/92 (BHFE 174, 140, BStBl II 1994, 564) entschieden hat, sind die Grundsätze der Rechtsprechung des Beschlusses vom 19. Juli 1993 GrS 2/92 (BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897) auch bei der Besteuerung des Gewinns aus der Aufgabe eines Betriebs (§ 16 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) zu beachten. Es ist daher im Streitfall nicht auszuschließen, daß sich der Betriebsaufgabegewinn erhöht und damit die Veranlagung zur Einkommensteuer 1986 gegebenenfalls nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern wäre (vgl. auch Schmidt, Einkommensteuergesetz, 13. Aufl. 1994, § 16 Anm. 58 c). Diese Rechtsfrage bedarf indessen keiner abschließenden Prüfung; im summarischen Verfahren genügt es festzustellen, daß die Möglichkeit einer Anwendung der Rechtsgrundsätze des Beschlusses in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 als gewichtiger Grund gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 spricht.

2. Die Möglichkeit einer Änderung der Veranlagung für das dem Streitjahr vorangegangene Jahr zwingt jedoch nicht dazu, die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 der Höhe nach auf den Betrag zu begrenzen, der sich aus dem Vergleich der steuerlichen Auswirkungen im Streitjahr und dem vorangegangenen Jahr ergibt.

a) Der Senat vermag der auf das BMF-Schreiben in BStBl I 1992, 278 gestützten Auffassung des FA nicht zu folgen. Schon nach dem Wortlaut des § 361 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 sind nur die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des "angefochtenen Verwaltungsaktes" maßgebend für die Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheids. Da die Rechtmäßigkeit sonstiger Steuerbescheide nicht zu beurteilen ist, sind auch die Auswirkungen nicht zu berücksichtigen, die sich beim Fortfall derartiger Bescheide für den Steuerbetrag, dessen Aussetzung begehrt wird, ergeben würden. Dies hat der III. Senat des BFH für den Fall entschieden, daß ein anderer Steuerbescheid ebenfalls angefochten war und dazu ausgeführt, der Steuerpflichtige handele nicht rechtsmißbräuchlich, wenn er die Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich zweier verschiedener Steuerarten beantrage, die sich gegenseitig ausschließen (Beschluß vom 22. Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838; gl. A. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Tz. 10 a. E.; Haarmann in Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 4123/1). Nach Auffassung des Senats gilt dies um so mehr im Streitfall, in dem der andere Steuerbescheid, der Einkommensteuerbescheid des Jahres 1986, bestandskräftig geworden ist. Träfe die Auffassung der Verwaltung zu, könnte hinsichtlich eines wegen behebbarer Verfahrensmängel angefochtenen Verwaltungsakts Aussetzung nicht gewährt werden.

Soweit die in BStBl I 1992, 278 vertretene Saldierungsbefugnis mit einem Ermessensspielraum der Verwaltung bei Gewährung der Vollziehungsaussetzung begründet wird (so Szymczak in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 4. Aufl. 1993, § 361 Rz. 27/1), widerspricht dies der Rechtsprechung des BFH. Danach ist ungeachtet der gesetzlichen Formulierung, nach der die Verwaltung die Vollziehung aussetzen "kann", davon auszugehen, daß bei Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids, die Vollziehung auszusetzen ist (grundlegend Beschluß des BFH vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, 466, BStBl II 1968, 199). Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus der Regelung in § 361 Abs. 2 Satz 1 AO 1977, die eine teilweise Aussetzung der Vollziehung vorsieht und damit lediglich ermöglicht, den Umfang der Aussetzung dem Ausmaß der ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids anzupassen (Tipke/Kruse, a. a. O., § 69 FGO Tz. 35).

b) Die Auffassung des Senats entspricht nicht zuletzt dem Zweck der Regelung des § 361 Abs. 2 Satz 2 AO 1977. Danach ist vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn die überschlägige Prüfung der Sach- und Rechtslage gewichtige Gründe offenbart, die gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids sprechen. Der summarische Charakter des Verfahrens verbietet daher nach Auffassung des erkennenden Senats nicht nur eine Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. etwa BFH-Entscheidungen vom 31. Juli 1970 III B 44/69, BFHE 100, 166, BStBl II 1970, 846, und vom 5. Februar 1975 II B 29/74, BFHE 115, 12, BStBl II 1975, 465 zu § 69 FGO), sondern auch jede weitere Prüfung von Rechts- und Tatfragen, die mit dem angefochtenen Bescheid nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Dürfen danach schon gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids 1987 sprechende tatsächliche und rechtliche Zweifel im vorliegenden Aussetzungsverfahren nicht abschließend geklärt werden, so verbietet sich erst recht eine Prüfung der Fragen, die im Zusammenhang mit einer möglichen Änderung des Einkommensteuerbescheids 1986 stehen. Abgesehen davon, daß die Zulässigkeit einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 davon abhängt, ob die im Streitjahr empfangene Nachbesserungszahlung als rückwirkendes Ereignis im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist, würde diese Prüfung auch zu der Unterstellung zwingen, daß die Kläger mit ihrem Einspruch in der Hauptsache Erfolg haben. Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 hätte im übrigen zu unterbleiben, wenn der Kläger sein Wahlrecht ausübt, den Veräußerungsgewinn aus der Nachzahlung durch nachträgliche Bildung einer Rücklage nach § 6 b Abs. 3 EStG zu neutralisieren.

Eine Prüfung dieser Fragen würde der beabsichtigten Einfachheit des vorläufigen Verfahrens widersprechen und einen Prüfungsaufwand erfordern, der den Prüfungsaufwand für das Hauptsacheverfahren bei weitem überstiege. Entgegen der Auffassung des FA wäre damit aber dem aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleiteten Gebot effektiven Rechtsschutzes durch das Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung gerade nicht genügt. Dem Anliegen, einer Gefährdung des Steueranspruchs entgegenzuwirken, trägt das Gesetz auf andere Weise Rechnung. Nach § 361 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 kann die Aussetzung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden. Im Falle konkreter Gefährdung des Steueranspruchs wäre es daher nach Auffassung des Senats auch nicht zu beanstanden, wenn das FA das ihm durch § 361 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 eingeräumte Ermessen dahin gehend ausübt, daß es die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids von einer Sicherheitsleistung abhängig macht, die dem Steuerbetrag entspräche, der bei Änderung eines anderen Bescheids festzusetzen wäre.

Nach alledem war die Vorentscheidung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.