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BFH-Urteil vom 14.12.1994 (X R 106/92) BStBl. 1995 II S. 410
Schadensersatzrenten
zum Ausgleich vermehrter Bedürfnisse (sog. Mehrbedarfsrenten nach § 843 Abs.
1, 2. Alternative BGB) sind weder als Leibrente noch als sonstige
wiederkehrende Bezüge einkommensteuerbar (Anschluß an BFH-Urteil vom 25.
Oktober 1994 VIII R 79/91, BFHE 175, 439, BStBl II 1995, 121).
BGB § 843 Abs. 1 und 2; EStG §§ 2 Abs. 1, 22 Nr. 1 Satz 1.
Vorinstanz: FG Baden-Württemberg
Sachverhalt
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist infolge eines
ärztlichen Kunstfehlers seit ihrer Geburt 1971 schwerstbehindert und ständig
pflegebedürftig. Im Jahr 1981 erhielt sie von der Haftpflichtversicherung
der Stadt X - als Trägerin der Städtischen Krankenanstalten - zunächst einen
Pflegekostenersatz bzw -vorschuß in Höhe von 25.000 DM sowie Schmerzensgeld
in Höhe von 100.000 DM. 1982 erhielt die Klägerin keine Zahlungen. Aufgrund
des erstinstanzlichen Urteils in dem Schadensersatzprozeß gegen die Stadt
und den behandelnden Arzt leistete die Haftpflichtversicherung an die
Klägerin im Jahr 1983 insgesamt einen Betrag von 111.024 DM, darin enthalten
rückständige Mehrbedarfsrente für die Zeit von Januar 1982 bis Mai 1983
einschließlich Zinsen in Höhe von 79.309 DM, sowie laufende Rentenzahlungen
in Höhe von insgesamt 31.715 DM.
Der Schadensersatzprozeß endete durch Vergleich im Jahr 1984 vor dem
Oberlandesgericht. Danach verpflichteten sich der behandelnde Arzt und die
Stadt als Gesamtschuldner ab 1. Januar 1984 zur Zahlung einer monatlich im
voraus zu entrichtenden Mehrbedarfsrente in Höhe von 90 v. H. des jeweiligen
Tagespflegesatzes in den Y-Anstalten für Schwerst- und Mehrfachbehinderte,
zu einer einmaligen Zahlung in Höhe von 105.760 DM für in der Vergangenheit
angefallene Pflegekosten, sowie zum Ersatz der etwaigen steuerlichen
Belastungen der Klägerin aufgrund dieser Zahlungen. Im Jahr 1984 erhielt die
Klägerin danach insgesamt einen Betrag von 159.518 DM. 1985 betrugen die
Rentenzahlungen insgesamt 53.611 DM und 1986 58.063 DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erfaßte die
der Klägerin zugeflossenen Zahlungen mit Ausnahme des Schmerzensgeldes
(100.000 DM) bei den Einkommensteuerveranlagungen der Streitjahre als in
vollem Umfang steuerpflichtige wiederkehrende Bezüge (§ 22 Nr. 1 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes - EStG -). Entsprechend dem Antrag der Klägerin
behandelte das FA dabei die Beträge, 90 v. H. der jeweiligen Pflegesätze der
Y-Anstalten überstiegen, als außerordentliche Einkünfte im Sinne des § 34
Abs. 3 EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung. In den
Nachzahlungen der Jahre 1981, 1983 und 1984 enthaltene Zinsen
berücksichtigte das FA mit Rücksicht auf die Subsidiarität der sonstigen
Einkünfte gegenüber den Einkünften aus Kapitalvermögen aus
Vereinfachungsgründen lediglich in Höhe von 400 DM als Einkünfte aus
Kapitalvermögen. Die für die Streitjahre festgesetzte Einkommensteuer betrug
danach ... DM (1981), ... DM (1983), ... DM (1984), ... DM (1985) und ... DM
(1986).
Die Klägerin machte nach erfolglosem Einspruch mit der Klage geltend, die
Mehrbedarfsrente gleiche nur den ihr durch den Schaden bereits entstandenen
Vermögensverlust aus. Sie dürfe deshalb ungeachtet dessen, daß ihr die
Leistungen "wiederkehrend" zuflössen, nicht besteuert werden.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Sein Urteil ist in
Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 81 abgedruckt. Mit der
Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 22 Nr. 1 EStG. Sie beantragt
1. die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung des FA
aufzuheben und unter Abänderung der Einkommensteuerbescheide vom 4. Januar
1988 (für 1981 und 1984), vom 13. November 1987 (für 1983), vom 30. Oktober
1987 (für 1985) und vom 27. Juli 1988 (für 1986) die Einkommensteuer auf 0
DM festzusetzen sowie
2. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für
notwendig zu erklären.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der
Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Schadensersatzrenten zum Ausgleich vermehrter Bedürfnisse (sog.
Mehrbedarfsrenten nach § 843 Abs. 1, 2. Alternative des Bürgerlichen
Gesetzbuches - BGB -) sind nicht als sonstige Einkünfte i. S. des § 33 Nr. 1
EStG steuerbar.
1. Sonstige Einkünfte sind nach § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG Einkünfte aus
wiederkehrenden Bezügen, soweit sie nicht zu den in § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 6
EStG bezeichneten Einkünften gehören.
a) Schadensersatz nach § 843 Abs. 1 2. Alternative BGB durch
Entrichtung einer Geldrente steht dem Verletzten zu, wenn infolge der
Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eine Vermehrung der Bedürfnisse
eintritt (sog. Mehrbedarfsrente). Die Geldrente ist ihrer Natur nach kein
Unterhalt, sondern Schadensersatz (Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch,
Kommentar 54. Aufl. § 843 Rdnr. 4). Zivilrechtlich entsteht der Anspruch als
Ganzes bereits mit der verursachenden Schädigung; lediglich die Fälligkeit
der einzelnen Rentenbeträge, deren Höhe jeweils von den konkreten
Bedürfnissen abhängt und ggf. angepaßt werden muß, ist hinausgeschoben
(Palandt, a. a. O., § 843 Rdnr. 4). Der Begriff "Vermehrung der Bedürfnisse"
in § 843 Abs. 1, 2. Alternative BGB umfaßt den schadensbedingt vermehrten
Bedarf für die persönliche Lebensführung. Das bedeutet: Zu ersetzen sind
alle unfallbedingt ständig wiederkehrenden vermögenswerten Aufwendungen, die
dem Ausgleich derjenigen Nachteile dienen sollen, die dem Verletzten infolge
der dauernden Störung seines körperlichen Wohlbefindens entstehen (Urteile
des Bundesgerichtshofes - BGH - vom 25. September 1973 IV ZR 49/72, Neue
Juristische Wochenschrift - NJW - 1974, 41; vom 11. Februar 1992 VI ZR
103/91, NJW- Rechtsprechungs-Report Zivilrecht - NJW-RR - 1992, 791).
b) Bei der Anwendung und Auslegung des § 22 Nr. 1 EStG sind die
normativen Grundaussagen des § 2 Abs. 1 EStG zu beachten (Urteil des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. November 1992 X R 187/87, BFHE 170, 98,
101, BStBl II 1993, 298). Diese Vorschrift gestaltet das Objektiv
"Einkommen" in der Weise aus, daß die Erwerbsgrundlage unvermindert erhalten
bleibt; erfaßt wird von der Einkommensteuer grundsätzlich nur ein
"erzielter" Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (vgl. z. B. BFH
in BFHE 170, 98, 101, BStBl II 1993, 298; Kirchhof in Kirchhof / Söhn,
Einkommensteuergesetz, § 2 Anm. A, 53 ff.; Fischer in Kirchhof / Söhn, a. a.
O., § 22 Anm. A 16 f.; Tipke / Lang, Steuerrecht, 14. Aufl., Rz. 580,
jeweils m. w. N.). Daran fehlt es bei Schadensersatzrenten zum Ausgleich der
durch die Verletzung höchstpersönlicher Güter entstandenen vermehrten
Bedürfnisse. Der erkennende Senat schließt sich insoweit dem Urteil des
VIII. Senats vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91 (BFHE 175, 439) an und
verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe dieses Urteils.
c) In den einzelnen Rentenleistungen ist - anders als bei der Tilgung
einer zum Privatvermögen gehörenden Forderung durch wiederkehrende
Leistungen (hierzu BFH in BFHE 170, 98, 100, BStBl II 1993, 298) - kein
steuerpflichtiger Zinsanteil enthalten (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994 VIII
R 79/91; vgl. hierzu Fischer in Wiederkehrende Bezüge und Leistungen, 1994,
Anm. 201). Bei der Mehrbedarfsrente wird nicht ein zunächst auf einen
bestimmten Stichtag ermittelter einheitlicher Anspruch - etwa ein nach
statistischen Werten typisierend ermittelter Ausgangswert - anschließend
verrentet. Die einzelne Rentenleistung wird konkret nach dem unfallbedingten
dauerhaft vermehrten Bedarf des Verletzten berechnet und ist den veränderten
Bedürfnissen anzupassen (vgl. z. B. Mertens in Münchener Kommentar zum
Bürgerlichen Gesetzbuch - MünchKomm - 2. Aufl., § 843 Anm. 34, 37, m. w. N.;
BGH in NJW-RR 1992, 791). Der Schadensersatz wird von Anfang an als
Geldrente geschuldet; der Anspruchsberechtigte kann eine Kapitalabfindung
nur verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt (§ 843 Abs. 3 BGB).
Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen; das Urteil war
deshalb aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Die Klägerin hat zusätzlich zu den
- wie unter I. ausgeführt - nicht steuerbaren laufenden Rentenbezügen auch
Zahlungen für zurückliegende Zeiträume erhalten. Soweit darin Verzugs- oder
Prozeßzinsen enthalten sind, unterliegen diese nach ständiger Rechtsprechung
(ausführlich zuletzt BFH-Urteil vom 25. Oktober 1994 VIII R 79/91 m. w. N.)
als Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG) der
Einkommensteuer. Das FG hat - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine
Feststellungen dazu getroffen, in welcher Höhe die in den Jahren 1981, 1983
und 1984 bezogenen Nachzahlungen Zinsen enthalten. Die Sache war deshalb zur
Nachholung entsprechender Feststellungen an das FG zurückzuverweisen.
3. Der Antrag der Klägerin, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für
das Vorverfahren für notwendig zu erklären (§ 139 Abs. 3 Satz 3 der
Finanzgerichtsordnung - FGO -), ist im Revisionsverfahren unzulässig. Die
Entscheidung nach § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO gehört sachlich zum
Kostenfestsetzungsverfahren; zuständig ist deshalb das Gericht des ersten
Rechtszuges (BFH-Beschluß vom 18. Juli 1967 GrS 5 - 7/66, BFHE 90, 150,
BStBl II 1968, 56; Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung 3. Aufl., § 139
Anm. 32).
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