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  BFH-Urteil vom 20.9.1995 (X R 86/94) BStBl. 1996 II S. 53

Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Festsetzung von Nachforderungszinsen grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn das FA den Steuerbescheid 14 Monate nach Eingang der Steuererklärung erläßt und der Steuerpflichtige den Nachforderungsbetrag auf seinem Girokonto bereitgehalten hat.

AO 1977 § 233 a; BGB § 242.

Vorinstanz: FG Hamburg

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) reichte die Einkommensteuererklärung 1989 am 17. Dezember 1990 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ein. Der Einkommensteuerbescheid 1989 erging mit Datum vom 5. Februar 1992 und führte zu einer Steuernachzahlung in Höhe von 1.451 DM, die am 9. März 1992 fällig wurde. Das FA setzte für den Zeitraum vom 1. April 1991 bis zum 9. März 1992 Zinsen gemäß § 233 a der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 77 DM fest. Hiergegen hat der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage erhoben, mit welcher er u. a. vorgetragen hat: Das FA habe nahezu 14 Monate für die Bearbeitung des einfach gelagerten Veranlagungsfalles benötigt, ohne daß hinreichende Gründe für die überlange Bearbeitungszeit erkennbar wären. Allein das FA habe die überlange Bearbeitungszeit zu vertreten. Daher sei es unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit nicht hinnehmbar, ihn, den Kläger, mit Zinsen zu belasten. Er habe auch keinerlei Zinsvorteil gehabt, da er den nachgeforderten Betrag auf seinem Girokonto bereitgehalten habe.

Das Finanzgericht (FG) hat die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage abgewiesen.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts und Verletzung der Aufklärungspflicht. Das FG verletze § 233 a AO 1977 und Verfassungsrecht, wenn es sich ausschließlich auf die Grundsätze über die Typisierung berufe und damit "Ungerechtigkeiten im Einzelfall" sanktioniere. Der Gesetzgeber habe nicht den Fall geregelt, daß dem Steuerpflichtigen kein Vorteil entstanden sei. Im Streitfall hindere der Grundsatz von Treu und Glauben die Geltendmachung des Zinsanspruchs (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81). Was ein Verschulden der Finanzverwaltung anbelange, so müsse berücksichtigt werden, daß die Personalknappheit in der Verantwortung des Staates liege. Sofern es auf das schuldhafte Verhalten eines einzelnen Bediensteten ankomme, hätte das FG in dieser Richtung Ermittlungen anstellen müssen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil und die Festsetzung der Nachforderungszinsen ersatzlos aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Führt eine Festsetzung u. a. der Einkommensteuer zu einer Steuernachforderung, so ist diese nach § 233 a Abs. 1 AO 1977 i. d. F. des Steuerreformgesetzes (StRG) 1990 vom 25. Juli 1988 zu verzinsen. Diese Norm gilt für alle Steueransprüche, die nach dem 31. Dezember 1988 entstehen (Art. 15 Nr. 3, Art. 16 Nr. 2 StRG 1990). Der Zinslauf beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, für die Einkommensteuer 1989 mithin am 1. April 1991. Er endet mit der Fälligkeit der Steuernachforderung, spätestens vier Jahre nach seinem Beginn, im Streitfall also am 9. März 1992 (§ 233 a Abs. 2 AO 1977). Der Kläger hat die Höhe des auf der Rechtsgrundlage der § 233 a Abs. 3, § 238 AO 1977 errechneten Zinsanspruchs nicht beanstandet; ein Rechtsfehler ist insoweit auch anderweitig nicht erkennbar.

2. Die Einwände der Revision gegen die Festsetzung des Zinsanspruchs greifen nicht durch.

a) Das FA ist grundsätzlich verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steuer- und Zinsansprüche geltend zu machen. Ausnahmsweise kann es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) an der Geltendmachung und Durchsetzung entstandener Ansprüche gehindert sein. Nach dem BFH-Urteil in BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81 steht der Grundsatz von Treu und Glauben einer Festsetzung von Nachforderungszinsen grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn der Veranlagungsbeamte die Bearbeitung der Steuererklärung schuldhaft verzögert. Maßgebend für diese Entscheidung war die Erwägung, daß dem Kläger durch den verspäteten Erlaß des Einkommensteuerbescheides Liquiditätsvorteile entstanden waren, die nach dem Zweck des Gesetzes (vgl. BTDrucks 11/2157, S. 194) aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung jeweils für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehung der Steuer abgeschöpft werden sollen. Die Entscheidung läßt dahingestellt, ob der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachforderungszinsen entgegensteht oder ob diese Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn der Steuerpflichtige entgegen der § 233 a AO 1977 zugrundeliegenden Annahme die für die Nachzahlung benötigten Geldbeträge im Hinblick auf bevorstehende Steuernachzahlungen unverzinslich oder mit einem Zinssatz von unter 6 v. H. angelegt hat und ein schuldhaftes Verhalten eines Bediensteten der Finanzbehörde zu einer übermäßig langen Bearbeitungszeit und damit zur Entstehung von Nachforderungszinsen führt.

b) Der erkennende Senat braucht nicht zu entscheiden, ob im vorliegenden Zusammenhang auch ein allgemeines Organisationsverschulden ausreichen könnte, das darin bestünde, daß der Staat die Veranlagungsstellen der Finanzämter personell nur unzureichend ausstattet. Im Streitfall kommt es nicht auf die Frage an, ob der Steuerpflichtige tatsächlich mit Hilfe von für die Begleichung der noch nicht fälligen Steuerschuld bereitgehaltenen Mitteln Zinseinnahmen erzielt hat. Die von der Entscheidung in BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81 angesprochene Kumulation von unverzinslicher Anlage und Verschulden der Finanzbehörde ist im Streitfall nicht gegeben.

aa) Der Gesetzgeber wollte mit der allgemeinen Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen einen Ausgleich dafür schaffen, daß die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen, "aus welchen Gründen auch immer", zu unterschiedlichen Zeiten festgesetzt und fällig werden. "Aus Gründen der Praktikabilität" wurde am festen Zinssatz des geltenden Rechts festgehalten (BTDrucks 11/2157, S. 194). § 233 a AO 1977 bedarf einer Auslegung, welche die typisierenden Grundannahmen des Gesetzgebers zur Höhe der Verzinsung und zum Zinslauf respektiert.

bb) Die Festsetzung von Zinsen nach § 233 a AO 1977 ist grundsätzlich rechtmäßig, wenn der Schuldner der Steuernachforderung Liquiditätsvorteile gehabt hat oder zumindest erlangen bzw. anderweitige Zinsbelastungen vermeiden konnte (vgl. BFH-Beschluß vom 27. September 1994 VIII B 21/94, BFHE 175, 516). Die unter Umständen nur potentiellen Vorteile rechtfertigen die Erhebung von Nachforderungszinsen auch dann, wenn er den Nachzahlungsbetrag überhaupt nicht oder zu einem geringeren Prozentsatz als 6 v. H. angelegt hat. Der Gesetzgeber konnte, ohne gegen das Willkürverbot zu verstoßen, im Interesse einer einfachen Erhebung der Nachforderungszinsen den aus der Verfügung über Bargeld herrührenden Liquiditätsvorteil typisierend bewerten und damit die Berufung auf besondere Umstände des Einzelfalles - wie etwa den marktüblichen Zinssatz und eine fehlende Möglichkeit zinsgünstiger Anlageformen - ausschließen (im Ergebnis ebenso FG Hamburg, Beschluß vom 9. Juli 1993 II 56/93, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1994, 183; FG Bremen, Urteil vom 16. Februar 1993 2 92 150 K 2, EFG 1993, 361; FG Münster, Urteil vom 30. November 1993 1 K 5113/93 E, EFG 1994, 333). Dem entspricht es, daß auch Erstattungsansprüche unabhängig davon verzinst werden, ob und in welcher Höhe dem Berechtigten Zinsen entgangen sind.

cc) Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß auch Aussetzungszinsen nach § 237 AO 1977 unabhängig davon festgesetzt werden, ob der durch eine Aussetzung der Vollziehung Begünstigte den ausgesetzten Betrag zwischenzeitlich zinsbringend angelegt hat. Die Aussetzungszinsen sollen den Vorteil ausgleichen, den der Steuerpflichtige deswegen gehabt hat, weil er von der Zahlung geschuldeter Steuern vorerst freigestellt war. Dies gilt auch dann, wenn das Gerichtsverfahren über die streitige Steuerfestsetzung nicht innerhalb angemessener Zeit abgeschlossen worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 21. Februar 1991 V R 105/84, BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498; BFH-Beschluß vom 13. September 1991 IV B 105/90, BFHE 165, 469, 475, BStBl II 1992, 148). Der Senat hält dies für gerechtfertigt, weil der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich auch dann seinen Sinn behält, wenn staatliche Stellen für Entstehung und Höhe des Zinsanspruchs (mit-)verantwortlich sind.

dd) Grundsätzlich hat es der Steuerpflichtige selbst in der Hand, durch eine frühzeitige Abgabe der Steuererklärung die zeitliche "Gefahrenzone" des § 233 a AO 1977 zu meiden. Im Streitfall hätte der Kläger der Verzinsung der Steuernachforderung mutmaßlich entgehen können, wenn er seine Steuererklärung bereits Anfang des Jahres 1990 abgegeben hätte. In dem Umfang, wie er mit der Abgabe der Erklärung zuwartete, setzte er sich der "Gefahr" einer Überschreitung der 15-Monats-Frist des § 233 a Abs. 2 AO 1977 aus. Es liegt auf der Hand, daß im Streitfall bereits eine "normale" Bearbeitungsdauer zu einer Zinspflicht führen konnte. Es würde dem Typisierungscharakter der gesetzlichen Regelung widersprechen, könnten Finanzämter und Finanzgerichte jeweils im Einzelfall damit befaßt werden, die angemessene Dauer eines Veranlagungsverfahrens - vom Eingang der Steuererklärung bis zur Bekanntgabe des Steuerbescheides - von Fall zu Fall zu bestimmen und in diesem Zusammenhang tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen eines Individual- und/oder Organisationsverschuldens zu prüfen. Auch dieser Gesichtspunkt spricht dafür, § 233 a AO 1977 als Regelung auszulegen, welche die nach Ablauf von 15 Monaten seit Entstehung der Steuerschuld eintretenden Liquiditätsvorteile typisierend abschöpft. Die gesetzliche Frist von 15 Monaten zeigt zugleich den Rahmen, innerhalb dessen eine Bearbeitungszeit nicht unangemessen ist. Innerhalb dieser Frist kann von einer unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben rechtserheblichen Vermutung für ein Verschulden der Behörde nicht die Rede sein.

ee) § 233 a AO 1977 ist mit diesem Inhalt verfassungskonform. Der Gesetzgeber darf im Interesse der möglichst einfachen Handhabung der sog. Vollverzinsung dem Erfordernis der Praktikabilität Rechnung tragen (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 29. Mai 1990 1 BvL 20, 26, 84 und 4/86, BVerfGE 82, 60; Senatsbeschluß vom 5. November 1992 X B 85/92, BFH/NV 1993, 373). Dies ist insbesondere vertretbar angesichts des Umstands, daß der Steuerpflichtige seinerseits die Entstehung eines Zinsanspruchs vermeiden kann, indem er - unter den Voraussetzungen des § 37 Abs. 5 EStG - eine Erhöhung der Vorauszahlungen beantragt. Er hat stets die Möglichkeit, eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zu beantragen (§ 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Es bleibt ihm schließlich auch unbenommen, die Steuererklärung unter Umständen noch vor der in § 149 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bestimmten Frist abzugeben. Das Entstehen eines - im Streitfall übrigens betragsmäßig nicht übermäßig belastenden - Zinsanspruchs nach § 233 a AO 1977 ist daher in Fällen der Veranlagung aufgrund einer Steuererklärung nur selten unvermeidbar.