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  BFH-Urteil vom 31.8.1995 (VII R 58/94) BStBl. 1996 II S. 55

Die Aufrechnung des FA mit einem Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis stellt eine Vollziehung des zugrundeliegenden Bescheids dar. Das FA ist deshalb während der Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids an der Aufrechnung mit dem durch ihn festgesetzten Steueranspruch gehindert (Abweichung vom Urteil des Senats vom 17. September 1987 VII R 50-51/86, BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366).

AO 1977 § 218 Abs. 1, §§ 226, 361; BGB § 387; FGO § 69 Abs. 3.

Vorinstanz: FG Berlin (EFG 1994, 950)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) schuldeten dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) Einkommensteuer 1979. Durch Beschluß des Finanzgerichts (FG) vom 17. September 1985 wurde die Vollziehung des Einkommensteuerbescheides 1979 in voller Höhe ausgesetzt. Am 27. August und 19. Oktober 1992 rechnete das FA mit seiner Forderung aus der Einkommensteuerfestsetzung 1979 gegen Erstattungsansprüche der Kläger auf. Nachdem die Kläger der Aufrechnung widersprochen hatten, erließ das FA einen Abrechnungsbescheid, demzufolge die Erstattungsansprüche der Kläger durch die Aufrechnung erloschen seien. Der Einspruch gegen den Abrechnungsbescheid blieb erfolglos. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung aus, es sei trotz der Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1979 zur Aufrechnung mit dieser Steuerforderung berechtigt gewesen, da die Aussetzung die eingetretene Fälligkeit der Forderung nicht beseitigt habe.

Auf die Klage der Kläger hob das FG den Abrechnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf. Es vertrat die Auffassung, die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheides hindere die Aufrechnung des FA mit dem festgesetzten Steueranspruch. Die Entscheidungsgründe des FG-Urteils sind insoweit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 950 veröffentlicht.

Mit der Revision macht das FA unter Berufung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 17. September 1987 VII R 50-51/86 (BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366) geltend, die Aufrechnung könne nicht als - im Streitfall verbotene - Vollziehung des Steuerbescheids angesehen werden.

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG hat zu Recht entschieden, daß die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1979 das FA daran hindert, mit dem in diesem Steuerbescheid gegen die Kläger festgesetzten Steueranspruch gegenüber deren unstreitige Erstattungsansprüche aufzurechnen.

1. Für die Aufrechnung mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sowie für die Aufrechnung gegen diese Ansprüche gelten gemäß § 226 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sinngemäß die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, soweit nichts anderes bestimmt ist. Das Gesetz stellt damit - abgesehen von einigen in § 226 Abs. 2 bis 4 AO 1977 geregelten Besonderheiten, die für den Streitfall ohne Bedeutung sind - den Steuergläubiger und den Steuerpflichtigen hinsichtlich der Aufrechnungsbefugnis, wie die Parteien eines privatrechtlichen Schuldverhältnisses, rechtlich grundsätzlich gleich. Die Aufrechnungserklärung des FA mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis ist deshalb - wie der Senat im Urteil vom 2. April 1987 VII R 148/83 (BFHE 149, 482, BStBl II 1987, 536) entschieden hat - die rechtsgeschäftliche Ausübung eines Gestaltungsrechts und für sich allein kein Verwaltungsakt. Nach § 226 Abs. 1 i. V. m. § 387 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) setzt die Aufrechnung neben der Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der geschuldeten Leistungen sowie der Erfüllbarkeit der Hauptforderung (Erstattungsansprüche der Kläger) - die hier nicht zweifelhaft sind - die Fälligkeit der Gegenforderung des Aufrechnenden voraus.

2. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil in BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366 in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - (Urteil vom 27. Oktober 1982 3 C 6.82, BVerwGE 66, 218 mit Hinweisen auf vorangegangene BVerwG-Urteile) entschieden, daß die Finanzbehörde befugt ist, gegen eine unstreitige Hauptforderung auch mit einer Gegenforderung aufzurechnen, die auf einem angefochtenen und einstweilen nicht vollziehbaren Verwaltungsakt beruht. Er hat dies im wesentlichen damit begründet, daß durch die Aussetzung der Vollziehung die Fälligkeit der Forderung als Voraussetzung für die Aufrechnung nicht beseitigt oder hinausgeschoben werde, da die Fälligkeit zum materiellen Regelungsinhalt des Verwaltungsakts gehöre, der durch die Aussetzung nicht berührt wird (BFHE 151, 304, 309, BStBl II 1988, 366). Nach der genannten Senatsentscheidung kann die Aufrechnungserklärung der Behörde einer Vollziehung nicht gleichgesetzt werden, weil sie keine hoheitliche Maßnahme darstellt (BFHE 151, 304, 310, BStBl II 1988, 366).

Die Aufrechnungsbefugnis des FA mit Forderungen, die auf Bescheiden beruhen, deren Vollziehung ausgesetzt ist, ist unter Hinweis auf dieses Senatsurteil auch in späteren Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) bejaht worden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 14. März 1990 I S 5/89, BFH/NV 1991, 172; vom 26. Februar 1991 VII B 151/90, BFH/NV 1992, 86, und vom 11. Mai 1993 VII B 191/92, BFH/NV 1994, 218, 219), wobei in der letztgenannten Entscheidung des Senats ebenso wie im Senatsbeschluß vom 27. Februar 1994 VII B 103, 105/94 (BFH/NV 1995, 244, 245) bereits Zweifel anklingen, ob an dieser Rechtsauffassung im Hinblick auf die dagegen erhobene Kritik festgehalten werden kann.

Im steuerrechtlichen Schrifttum und in der Rechtsprechung der FG ist die vorstehende Rechtsprechung des Senats überwiegend auf Ablehnung gestoßen. Dabei wird teilweise die Auffassung vertreten, für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung entfalle die Leistungspflicht und damit auch die Fälligkeit des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis, weshalb auch keine Säumniszuschläge zur Entstehung gelangten (so: Dumke in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 69 Rdnr. 14; Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 226 Rdnr. 5; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 69 FGO Tz. 4, § 226 AO 1977 Tz. 14, 15, § 220 AO 1977 Tz. 5 d; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 361 AO 1977 Rdnr. 155; ähnlich: Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, 17. Aufl., § 226 Anm. 3 a, cc). Soweit der bisherigen Auffassung des Senats zugestimmt wird, daß die Fälligkeit durch die Aussetzung der Vollziehung nicht gehindert oder beseitigt wird, wird aber die Aufrechnung durch das FA als Gebrauchmachen von den Wirkungen des Verwaltungsakts und damit als - unzulässige - Vollziehung des Bescheides angesehen (so: Friedl, Aufrechnung des Finanzamts mit Steueranspruch: Keine Vollziehung des Steuerbescheids?, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1991, 1005; Söhn in der Anmerkung zum Urteil des BVerwG in BVerwGE 66, 218, Anmerkungen zur Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK-Anm. -, Abgabenordnung, § 226, Rechtsspruch 4; FG München, Beschluß vom 26. Januar 1989 3 V 4956/88, EFG 1989, 212; FG Hamburg, Beschluß vom 14. April 1994 IV 332/93 H, EFG 1994, 732, und die Anmerkung hierzu in EFG Beilage 9/1994 Nr. 2).

Die Vorentscheidung (EFG 1994, 950) hält schließlich die Aufrechnung mit Steueransprüchen, hinsichtlich derer die Vollziehung ausgesetzt ist, deshalb für unzulässig, weil darin sowohl eine verbotene Vollziehung des Bescheides liege, als auch die Fälligkeit des Gegenanspruchs als Folgewirkung der Steuerfestsetzung von der Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids erfaßt und damit suspendiert werde.

3. Der Senat hält nach Überprüfung der vorstehenden Einwendungen an seiner früheren Rechtsprechung zur Aufrechenbarkeit von Gegenforderungen, die auf einem einstweilen nicht vollziehbaren Verwaltungsakt beruhen, jedenfalls insoweit nicht mehr fest, als es sich um Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis handelt, deren Verwirklichung nach den Vorschriften der AO 1977 erfolgt.

a) Die Aussetzung der Vollziehung von Steuerverwaltungsakten nach § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bzw. § 361 AO 1977 bewirkt ebenso wie der Suspensiveffekt nach § 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die aufschiebende Wirkung des gegen den Verwaltungsakt eingelegten Rechtsbehelfs/Rechtsmittels (List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., § 69 FGO Rdnr. 96).

Wie der Senat in BFHE 151, 304, 309, BStBl II 1988, 366 ausgeführt hat, läßt die Aussetzung die Wirksamkeit und den Bestand des Verwaltungsakts unberührt, sie hindert lediglich seine Vollziehung. Aussetzung der Vollziehung bedeutet, daß der materielle Regelungsinhalt des nach wie vor wirksamen Verwaltungsakts bis auf weiteres nicht mehr verwirklicht werden kann, so daß rechtliche (und tatsächliche) Folgerungen aus dem Verwaltungsakt nicht gezogen werden dürfen (Beschluß des Großen Senats des BFH vom 3. Juli 1995 GrS 3/93, BFHE 178, 11, BStBl II 1995, 730, m. w. N.). Der Behörde ist jegliches Gebrauchmachen von den Wirkungen des Verwaltungsakts, die auf die Verwirklichung seines Regelungsinhalts, d. h. der in ihm ausgesprochenen Rechtsfolgen sowie der sich daraus ergebenden Nebenfolgen abzielt, einstweilen untersagt (vgl. List, a. a. O., § 69 FGO Rdnr. 96; BFH-Vorlagebeschluß an den Großen Senat vom 23. Juni 1993 X B 134/91, BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38, 40 m. w. N.).

Der BFH ist im Rahmen des § 69 FGO stets von einem weiten Begriff der Vollziehung ausgegangen und hat diesen nicht auf die Fälle der erzwungenen Leistung beschränkt. So hat er im Beschluß vom 22. Juli 1977 III B 34/74 (BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838) entschieden, daß auch eine ohne besondere Einwirkung des FA - also "freiwillig" - geleistete Steuerzahlung als Vollziehung des Steuerbescheids anzusehen ist, die im Wege der Aufhebung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 4 - jetzt Satz 3 - FGO vorläufig rückgängig gemacht werden kann mit der Folge, daß die freiwillig geleistete Zahlung zunächst zu erstatten ist (ebenso: BFH, Großer Senat im Beschluß vom 3. Juli 1995 GrS 3/93 in BFHE 178, 11, BStBl II 1995, 730 sogar für Einkommensteuervorauszahlungen nach Aufhebung der Vollziehung des Einkommensteuerjahresbescheids). Als Vollzug eines Steuerbescheids im Sinne jeglichen Gebrauchs seiner Wirkungen ist ferner der Anfall von Säumniszuschlägen nach Maßgabe des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 als Folge der nicht fristgerechten Beachtung des Leistungsgebots angesehen worden; auch diese "Vollziehung" des Steuerbescheids kann durch das FG mit der Maßgabe aufgehoben werden, daß die in der Vergangenheit entstandenen Säumniszuschläge entfallen (BFH-Beschluß vom 10. Dezember 1986 I B 121/86, BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389).

Mit dem weiten Begriff der Vollziehung, wie er von der herrschenden Meinung und der vorstehend zitierten BFH-Rechtsprechung verstanden wird, läßt sich die Begründung des Senats im Urteil in BFHE 151, 304, 310, BStBl II 1988, 366, wonach die Aufrechnung durch die Behörde deshalb nicht als Vollziehung anzusehen sei, weil es sich hierbei um die Ausübung eines schuldrechtlichen Gestaltungsrechts und nicht um eine hoheitliche Maßnahme handele, nicht vereinbaren. Wenn Vollziehung jegliches Gebrauchmachen von einem Verwaltungsakt, d. h. jede Verwirklichung seines materiellen Regelungsinhalts zur Herbeiführung der in ihm ausgesprochenen Rechtsfolge ist (BFHE 172, 9, BStBl II 1994, 38, 40), dann muß auch die Aufrechnung als Vollziehung angesehen werden. Denn eine Aufrechnung ist ohne Gebrauchmachen von dem materiellen Regelungsinhalt des Bescheids nicht möglich, weil erst der materielle Regelungsinhalt die entsprechend § 387 BGB notwendigen Voraussetzungen für eine Aufrechnung - u. a. die Fälligkeit der Forderung - schafft bzw. herbeiführt (FG Hamburg in EFG 1994, 732, 733; Söhn, StRK-Anm. , Abgabenordnung, § 226, Rechtsspruch 4; vgl. auch Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 226 Rdnr. 3: Erforderlichkeit der Festsetzung der Steuerforderung).

Daß die Aufrechnung durch das FA keine hoheitliche Maßnahme, sondern - wie der Senat entschieden hat - die rechtsgeschäftliche Ausübung eines Gestaltungsrechts darstellt, steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Denn - wie oben ausgeführt - ist als "Vollziehung" nicht nur die zwangsweise Durchsetzung (Vollstreckung), sondern jedes Gebrauchmachen vom Regelungsinhalt eines Verwaltungsakts anzusehen. Das gilt unabhängig davon, ob hierbei die Finanzbehörde oder - wie im Falle der freiwilligen Zahlung auf die Steuerschuld - allein der Bürger tätig wird oder ob gar - wie bei der Entstehung von Säumniszuschlägen - die Wirkung des Verwaltungsakts unmittelbar kraft Gesetzes eintritt.

Die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids - wie sie im Streitfall vorliegt - suspendiert die Verbindlichkeit der durch ihn getroffenen hoheitlichen Regelung in dem Sinne, daß sich kein Beteiligter auf diese Regelung berufen und sie zur Grundlage seines Handelns machen darf, solange die Vollziehung ausgesetzt ist. Von den Wirkungen des Verwaltungsakts darf kein Gebrauch gemacht werden, jede Verwirklichung der durch ihn getroffenen Regelung, auf welche Art und Weise auch immer, ist untersagt. Dies gilt auch für die Aufrechnung durch die Finanzbehörde, da auch sie der Realisierung der von dem Verwaltungsakt ausgehenden Rechtsfolge dient (so auch: FG München in EFG 1989, 212; FG Hamburg in EFG 1994, 732; FG Berlin in EFG 1994, 950 m. w. N.).

In den vorstehend zitierten Urteilen der FG München und Hamburg (ebenso Friedl, DStR 1991, 1005, 1006) wird mit Recht darauf hingewiesen, daß, wenn schon eine zur Tilgung der Steuerschuld führende Handlung des Steuerpflichtigen, die als solche nie hoheitlicher Natur sein kann, wie die freiwillige Zahlung - gleiches muß gelten, wenn der Steuerpflichtige seine Steuerschuld in der Form freiwillig tilgt, daß er seinerseits die Aufrechnung erklärt - eine - der Aufhebung gemäß § 69 FGO fähige - Vollziehung des zugrundeliegenden Verwaltungsakts darstellt, dies um so mehr für Handlungen der Verwaltungsbehörde gelten muß, die im Wege der Aufrechnung dem Steuerschuldner die Tilgung seiner Schuld - auch gegen seinen Willen - aufzwingen. Wenn der Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, die Folgen eigener Tilgungsleistungen, wie freiwilliger Zahlung oder Aufrechnungserklärung seinerseits, über einen Antrag auf Aufhebung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO vorläufig rückgängig zu machen, so muß er nach einer Aussetzung der Vollziehung der Steuerschuld auch vor aufgezwungenen Tilgungshandlungen seitens des FA für die Dauer der Aussetzung geschützt werden.

Daß das FA bei der Aufrechnung mit einer in der Vollziehung ausgesetzten Gegenforderung sein Selbstbefriedigungsrecht nur unter Preisgabe der eigenen Forderung durchsetzen könnte, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; denn das FA würde auf diesem Wege Befriedigung wegen einer Forderung erlangen, deren Durchsetzbarkeit im Zeitpunkt der Aufrechnung ausgeschlossen ist, während es zur Tilgung der Hauptforderung (hier: die Erstattungsansprüche der Kläger) ohnehin verpflichtet ist.

Gegen den Ausschluß der Aufrechnungsbefugnis während der Aussetzung der Vollziehung spricht - entgegen dem Senatsurteil in BFHE 151, 304, 311, BStBl II 1988, 366 - auch nicht die Tatsache, daß sich die Aussetzung der Vollziehung als Maßnahme vorläufigen Rechtsschutzes nur auf den Verwaltungsakt bezieht, der der Gegenforderung zugrunde liegt. Wenn man die Aufrechnung durch das FA als - hier unzulässige - Vollziehung ansieht, so wird dadurch - entgegen der Auffassung der Revision - der vorläufige Rechtsschutz nicht auf die Hauptforderung ausgedehnt, zu deren Durchsetzung (Erstattung) der Steuerpflichtige des einstweiligen Rechtsschutzes auch gar nicht bedarf.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, daß das FA mit einer Gegenforderung, die auf einem in der Vollziehung ausgesetzten Steuerbescheid beruht, nicht aufrechnen kann, solange die Aussetzung andauert. Nachteiligen Folgen (z. B. spätere Zahlungsunfähigkeit des Steuerpflichtigen), die sich daraus für die Finanzbehörde ergeben können, kann ggf. dadurch vorgebeugt werden, daß die Vollziehung des Steuerbescheids gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt wird.

b) Der Ausschluß der Aufrechnungsbefugnis des FA mit einer Steuerforderung, deren Vollziehung ausgesetzt ist, findet seine Bestätigung in den Vorschriften über das Erhebungsverfahren im Fünften Teil (§§ 218 ff.) der AO 1977, insbesondere in dessen Ersten Abschnitt, der die Verwirklichung, die Fälligkeit und das Erlöschen von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis regelt. Daß die Vollziehung und ihre Aussetzung insbesondere die "Erhebung" einer Abgabe betrifft, ergibt sich wiederum aus dem Wortlaut des § 69 Abs. 1 FGO, § 361 Abs. 1 AO 1977.

Nach § 218 Abs. 1 AO 1977 bedarf es für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis - mit Ausnahme der Säumniszuschläge - stets eines (Steuer-)Bescheids oder sonstigen Verwaltungsakts. Die Aufrechnung (§ 226 AO 1977) ist neben der Zahlung (§§ 224, 225 AO 1977) und dem Erlaß (§ 227 AO 1977) als Maßnahme genannt, die der Verwirklichung dieser Ansprüche dient; die vorstehenden Tilgungsmaßnahmen führen ebenso wie die Verjährung zum Erlöschen der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 47 AO 1977). Handelt es sich aber bei der Aufrechnung um eine Form der Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis i. S. von § 218 Abs. 1 AO 1977 und stellt - wie oben ausgeführt - die Vollziehung jegliches Gebrauchmachen von dem Verwaltungsakt, d. h. jede Verwirklichung seines materiellen Regelungsinhalts dar, so setzt die Aufrechnung voraus, daß der Anspruch, mit dem aufgerechnet wird, durch Steuerbescheid (oder sonstigen Verwaltungsakt) festgesetzt und die Vollziehung dieses Verwaltungsakts nicht ausgesetzt ist (vgl. FG München in EFG 1989, 212, 213; Friedl, DStR 1991, 1005, 1006; FG Hamburg in EFG 1994, 732, 733).

c) Nach den vorstehenden Ausführungen hat das FG den angefochtenen Abrechnungsbescheid, dem die Aufrechnungserklärung des FA zugrunde liegt, schon deshalb zu Recht aufgehoben, weil die Aufrechnung mit dem Einkommensteueranspruch 1979 eine Vollziehung i. S. des § 69 FGO darstellt, zu der das FA nach Ergehen des FG-Beschlusses über die Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1979 nicht (mehr) befugt war. Der Senat braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob von der Aussetzung der Vollziehung auch die Fälligkeit der Gegenforderung betroffen wird und die Aufrechnung auch deshalb nach § 226 Abs. 1 AO 1977, § 387 BGB unwirksam ist.

4. Die nunmehr vertretene Rechtsauffassung des Senats über die fehlende Aufrechnungsbefugnis der Finanzbehörde mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis, die auf einem in der Vollziehung ausgesetzten Steuerbescheid beruhen, stimmt mit der Entscheidung in BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366, in der der Senat die Aufrechnungsbefugnis des Hauptzollamts (HZA) mit Rückforderungsansprüchen auf Ausfuhrbeihilfen und Währungsausgleichsbeträgen, die auf angefochtenen und einstweilen nicht vollziehbaren Verwaltungsakten beruhten, bejaht hat, nicht überein. Es kann unentschieden bleiben, ob dem genannten Senatsurteil für den dortigen Streitfall im Hinblick darauf, daß sich die Erhebung der vom HZA aufgerechneten Gegenforderungen nicht nach den Vorschriften der AO 1977, sondern nach allgemeinem Verwaltungsrecht richtete, gefolgt werden kann (vgl. Friedl, DStR 1991, 1005).

Soweit der Senat in anderen, oben zitierten Entscheidungen die Aufrechnungsbefugnis des FA auch mit Gegenansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis, die in der Vollziehung ausgesetzt waren, bejaht hat, hält er im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen daran nicht mehr fest.

Zwar hat auch der I. Senat des BFH in seinem Beschluß in BFH/NV 1991, 172 für eine Körperschaftsteuerforderung unter Hinweis auf das Senatsurteil in BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366 ausgeführt, daß die Aufhebung (oder Aussetzung) der Vollziehung der Gegenforderung die Aufrechnungsbefugnis des FA nicht ausschließt. Er hat deshalb das Rechtsschutzbedürfnis für einen bei ihm gestellten Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO nach Aufrechnung des FA mit dieser Körperschaftsteuerforderung verneint, weil das FA keinen (weiteren) Gebrauch von der Körperschaftsteuerforderung machen könne, deren Aussetzung im Streitfall begehrt werde. Außerdem hat der I. Senat aber die Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung des entsprechenden Körperschaftsteuerbescheids damit begründet, daß keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheids bestünden (insoweit keine Veröffentlichung in BFH/NV 1991, 172). Da die letztgenannte Begründung die Entscheidung des I. Senats trägt, der Beschluß mithin nicht anders ausgefallen wäre, wenn die Frage der Aufrechnung bei Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung unerörtert geblieben wäre, stellt die neue Rechtsauffassung des Senats keine Abweichung von der Entscheidung des I. Senats dar, die eine Anrufung des Großen Senats gemäß § 11 Abs. 3 FGO rechtfertigen würde; denn die hier interessierende Rechtsfrage war für den I. Senat nicht entscheidungserheblich (vgl. BFH in BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838, 840).

Da die neue Entscheidung des Senats maßgeblich darauf abstellt, daß für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis und die Aufrechnung mit derartigen Ansprüchen besondere Vorschriften aus dem Erhebungsverfahren nach der AO 1977 (§ 218 Abs. 1, § 226) gelten, die in den Regeln des allgemeinen Verwaltungsrechts keine entsprechende Grundlage finden, weicht das vorliegende Senatsurteil, das sich auf die Frage der Aufrechnung mit Gegenforderungen aus dem Steuerschuldverhältnis beschränkt, jedenfalls nicht von den Entscheidungen des BVerwG vom 13. Oktober 1971 VI C 137.67 (Die Öffentliche Verwaltung 1972, 573), und in BVerwGE 66, 218 ab, die die Grundlage für die Senatsentscheidung in BFHE 151, 304, BStBl II 1988, 366 bildeten. Eine Anrufung des Gemeinsamen Senats nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist deshalb nicht geboten (vgl. FG München in EFG 1989, 212, 214). Ein weiterer Unterschied der vorliegenden Senatsentscheidung zu den zitierten Urteilen des BVerwG besteht darin, daß der Senat zu dem Fall der Aussetzung der Vollziehung der Gegenforderung durch Beschluß des FG nach § 69 Abs. 3 FGO entscheidet, während in den Fällen der BVerwG-Urteile der Verwaltungsakt, auf dem die Gegenforderung beruhte, allein durch seine Anfechtung nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hatte.