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  BFH-Urteil vom 7.9.1995 (III R 95/93) BStBl. 1996 II S. 63

Haben nach Aufnahme durch die Pflegeeltern noch schulpflichtige Kinder über zwei Jahre und länger keine ausreichenden Kontakte zu ihren leiblichen Eltern mehr, so reicht dies in der Regel aus, einen Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen den Kindern und ihren leiblichen Eltern anzunehmen.

EStG § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 6.

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg

Sachverhalt

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lebt mit seiner Ehefrau, die aus Bosnien stammt, in X und ist dort nichtselbständig beschäftigt. Die Eheleute haben ein gemeinsames Kind; ein weiterer, 1978 geborener Sohn des Klägers, für den dieser Unterhalt leistet, lebt in H.

Anfang Juni 1992 nahm der Kläger außerdem die 1977 und 1983 geborenen Kinder des Bruders seiner Ehefrau auf. Beide Eltern der Kinder befanden sich in Sarajewo, Bosnien. Die dortige Familienwohnung wurde im Juli 1992 zerstört. Die Mutter lebte im moslemischen Teil der Stadt und war dort in einem Rüstungsbetrieb tätig. Der Vater war im serbisch kontrollierten Teil der Stadt bei der UNO beschäftigt. Beide Elternteile waren jeweils getrennt in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Sie ließen ihre Kinder - im Hinblick auf die nicht absehbare Dauer der kriegerischen Auseinandersetzung in Bosnien - mit Hilfe der Großmutter der Kinder und des Roten Kreuzes in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) in den Haushalt des Klägers verbringen.

Die Kinder gingen in X in - zum Teil weiterführende - Schulen und wurden persönlich und auf Kosten des Klägers und dessen Ehefrau versorgt. Der Aufenthalt in X sollte mindestens bis zum Schulabschluß der Kinder fortdauern.

Seit September 1994 leben die Kinder - nach dem Vortrag des Klägers im Revisionsverfahren - nicht mehr in dessen Haushalt. Der Vater der Kinder wurde im Mai 1994 getötet. Die Mutter der Kinder hat daraufhin Sarajewo verlassen und wohnt seit September 1994 zusammen mit den beiden Kindern in X.

Die Stadt X als Ausländerbehörde hatte eine Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt, aber die Abschiebung der Flüchtlingskinder zunächst bis zum 30. September 1992 ausgesetzt und dann - zum Zeitpunkt der vorinstanzlichen Entscheidung - bis zum 30. September 1993 verlängert.

Der persönliche Kontakt zu den leiblichen Eltern war auf kurze Telefonate in mehrmonatigen Abständen über private Funktelefonverbindungen zum Vater und auf briefliche Verbindungen durch die Vermittlung von UNO-Bediensteten beschränkt.

Der Kläger erhielt für die in seinen Haushalt aufgenommenen Kinder Kindergeld und als Bediensteter einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft auch einen erhöhten Ortszuschlag.

Der Antrag des Klägers gemäß § 39 Abs. 3 a des Einkommensteuergesetzes (EStG), die auf der Lohnsteuerkarte 1992 eingetragene Steuerklasse III/1,5 abzuändern und stattdessen die Steuerklasse III/3,5 einzutragen, lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ab.

Einspruchs- und Klageverfahren hatten keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe

Das Finanzgericht (FG) hielt die Klage zwar für zulässig, aber für unbegründet und führte dazu im wesentlichen aus:

Der Kläger habe ein Feststellungsinteresse an der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit des die Berücksichtigung von weiteren Kinderfreibeträgen auf der Lohnsteuerkarte ablehnenden Verwaltungsakts, obgleich er eine lohnsteuerliche Entlastung für das Streitjahr 1992 wegen Zeitablaufs nicht mehr erreichen könne (§ 100 Abs. 1 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das Rechtsschutzinteresse des Klägers entfalle auch nicht deshalb, weil das FA die Eintragung eines Freibetrags nach § 33 a Abs. 1 EStG zugebilligt habe, da der Freibetrag nach § 33 a EStG nur zeitanteilig gewährt werde und ferner weiterreichende steuerliche Entlastungen nur mit der Gewährung eines Kinderfreibetrags verbunden seien.

Die Klage sei indessen unbegründet, weil das FA ein Pflegekindschaftsverhältnis zu den durch den Kläger in seinen Haushalt aufgenommenen und auf seine Kosten unterhaltenen Kindern zu Recht verneint habe.

Es fehle an einem auf längere Dauer angelegten familienähnlichen Band zwischen dem Kläger und den von ihm aufgenommenen Kindern. Die lediglich faktische Übernahme der elterlichen Gewalt durch Dritte vermöge - auch wenn diese Maßnahme sich auf mehrere Jahre erstrecken sollte - allenfalls dann für die Annahme eines Eltern-Kind-Verhältnisses auszureichen, wenn das natürliche Obhuts- und Pflegeverhältnis zu beiden leiblichen Elternteilen endgültig gelöst oder doch aus objektiv nachprüfbaren Gründen zumindest bis zur Volljährigkeit des Kindes dauerhaft und nachhaltig gestört sei und deshalb mit einem Wiederaufleben der Eltern-Kind-Beziehung zu den Eltern nach den Gesamtumständen des Einzelfalles nicht mehr gerechnet werden könne. Anderenfalls fehle es an einer Vergleichbarkeit der Beziehungen, wie sie zu Adoptiveltern oder leiblichen Eltern bestünden. Soweit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (BFH-Urteile vom 9. März 1989 VI R 94/88, BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680, und vom 12. Juni 1991 III R 108/89, BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20) entnommen werden könne, daß auch unter besonderen Umständen bei einer nur vorübergehenden Trennung von Eltern und Kindern die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i. S. des § 32 EStG gerechtfertigt sei, könne dem das FG nicht folgen. Die gebotene Abgrenzung gegenüber den durch § 32 EStG nicht erfaßten Fällen einer mehrjährigen auswärtigen Unterbringung von Kindern, die aus den verschiedensten Gründen geboten sein könne wie z. B. Berufsausbildung, politische Verfolgung der Eltern, berufliche Verhinderung der Eltern, Gefährdung des Lebensunterhalts von Kindern am Heimatort aus wirtschaftlichen Gründen, wäre dadurch so gut wie ausgeschlossen.

Im Streitfall fehle es auch an einer dauerhaften Lösung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses der durch den Kläger aufgenommenen Kinder zu deren Eltern. Der persönliche Kontakt zu den leiblichen Eltern sei jedenfalls nicht gänzlich und auf Dauer abgebrochen. Die Eltern hätten sich nicht vorbehaltlos von ihren Kindern auf Dauer trennen wollen, sondern nur für die Zeit der Wiederherstellung normaler Verhältnisse im Heimatland; auch Sorge und Erziehung hätten sie ggf. nur bis zum Abschluß der Schulausbildung der Kinder in der Bundesrepublik in die Hände des Klägers und dessen Ehefrau legen wollen.

Hinzu komme, daß die Dauerhaftigkeit der Trennung und des Aufenthalts der Kinder in der Bundesrepublik aus Rechtsgründen nicht gesichert sei. Die zuständige Ausländerbehörde habe eine unbefristete oder auch nur auf längere Dauer befristete Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt, sondern sich darauf beschränkt, den Aufenthalt gemäß § 54 des Ausländergesetzes vorübergehend zu dulden und deshalb von der sonst grundsätzlich gebotenen Einleitung des Abschiebungsverfahrens abgesehen. Nach den vorliegenden Umständen lasse sich nicht absehen, wie häufig die längstens auf ein halbes Jahr zulässige Duldung erneuert werde.

Unerheblich sei, daß der Arbeitgeber des Klägers diesem einen Anspruch auf Kindergeld nach § 2 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zugebilligt habe, da der identische Gesetzeswortlaut im Hinblick auf § 32 EStG nicht zu einer gleichlautenden Auslegung beider Gesetzesvorschriften zwinge. Das BKGG verfolge eine andere Zielsetzung als die Vorschrift des § 32 EStG.

Mit der Revision trägt der Kläger im wesentlichen vor, daß von einem auf längere Dauer angelegten familienähnlichen Band zwischen ihm und seiner Ehefrau auf der einen Seite und den aufgenommenen Kindern auf der anderen Seite auszugehen sei. Die Beziehung sei der einer Eltern-Kind-Beziehung vergleichbar. Die Kinder seien in die Familie integriert worden und von ihm und seiner Ehefrau wie das eigene Kind betreut worden. Er und seine Ehefrau hätten alle wesentlichen Entscheidungen, wie z. B. notwendige Arztbesuche und Auswahl der Schule, ohne Rücksprache mit den leiblichen Eltern getroffen und seien in allen Fragen Ansprechpartner der beiden Kinder gewesen, die keinerlei Möglichkeit gehabt hätten, mit ihren leiblichen Eltern Kontakt aufzunehmen.

Das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen den Kindern und den leiblichen Eltern bestehe nicht mehr. Die Eltern kümmerten sich nicht mehr um ihre Kinder, seit sie diese nach X geschickt hätten. Die sehr seltenen Telefonanrufe oder Briefe reichten nicht aus, ein Fortbestehen des natürlichen Obhuts- und Pflegeverhältnisses annehmen zu können. Dies stelle weder einen regelmäßigen Kontakt der Eltern zu den Kindern noch ein "Sich-kümmern" dar. Der Rechtsprechung des BFH könne ebensowenig wie dem Wortlaut des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG entnommen werden, daß für die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses nur dann Raum sein könne, wenn sich die Eltern um das Kind nicht mehr kümmern wollten. Beide Fallgruppen, die des "Nicht-kümmern-könnens" und die des "Nicht-kümmern-wollens", seien gleichermaßen im Urteil des BFH in BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20 für eine mögliche Anerkennung eines Pflegekindschaftsverhältnisses aufgeführt. Im Streitfall mache der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien ein Zusammenleben der leiblichen Eltern mit ihren Kindern unmöglich, obwohl die Eltern sich unzweifelhaft sehr gerne um ihre Kinder kümmern würden. Diese besonderen Umstände führten einen Bruch des natürlichen Obhuts- und Pflegeverhältnisses herbei. Die Eltern hätten insbesondere nicht - anders als in den vom FG aufgeführten Beispielsfällen - die Möglichkeit, sich während der auswärtigen Unterbringung der Kinder um diese zu kümmern und Einfluß auf deren Entwicklung zu nehmen.

Das FG enge mit seiner Auffassung die Möglichkeit der Anerkennung eines steuerlichen Pflegekindschaftsverhältnisses zu sehr ein. Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, weshalb das FG auf die Volljährigkeit der Kinder abstelle. Dies könne weder dem Wortlaut des Gesetzes noch der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der Kommentarliteratur entnommen werden. Objektiv feststellbar sei, daß der Bürgerkrieg zu einer dauerhaften und langfristigen Störung des Eltern-Kind-Verhältnisses geführt habe.

Das familienähnliche Band sei auch auf längere Dauer angelegt gewesen. Im Zeitpunkt der Übersiedlung der Kinder nach X sei damit zu rechnen gewesen, daß der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien noch längere Zeit andauern werde, so daß von vornherein klar gewesen sei, daß die Kinder auf unbestimmte Zeit, zumindest bis zur Beendigung des Bürgerkrieges, in X bleiben würden. Spätestens im Juli 1992, zum Zeitpunkt der Zerstörung der Familienwohnung in Sarajewo, sei deutlich geworden, daß die Kinder auch nach Beendigung des Krieges nicht zurückkehren könnten, zumal aufgrund der zunehmenden Zerstörungen in Sarajewo zunächst auch keine Ausbildungsmöglichkeit für die Kinder gegeben sein würde.

Wenn das FG das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses wegen fehlender Dauerhaftigkeit der Lösung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern und damit des Aufenthalts der Kinder in der Bundesrepublik verneine, so fordere das Gericht einen Dauerzustand und verkenne, daß nach § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG lediglich eine "längere Dauer" erforderlich sei. Dies müsse auch für das nicht mehr bestehende Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern gelten. § 32 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 EStG verlange nicht, daß dieses auf alle Zeit erlösche.

Das FG berufe sich weiter darauf, daß die Dauerhaftigkeit der Trennung und des Aufenthalts der Kinder in der Bundesrepublik aus Rechtsgründen nicht gesichert sei. Diese Auffassung sei falsch. Er - der Kläger - habe im erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich dargestellt, weshalb eine Aufenthaltserlaubnis für die Kinder bislang nicht beantragt worden sei. Im Erörterungstermin vor dem FG habe er darauf hingewiesen, daß er einen Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für die beiden Kinder stellen werde, sofern das Gericht diese Frage für entscheidungserheblich erachte. Nachdem sich das FG in seiner Urteilsbegründung nunmehr auf diesen Umstand berufe, hätte vorab ein entsprechender Hinweis ergehen müssen und ihm, dem Kläger, Gelegenheit gegeben werden müssen, die ausländerrechtlichen Voraussetzungen oder zumindest eine entsprechende schriftliche Bestätigung des Ausländeramtes beizubringen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und festzustellen, daß die Ablehnung der Berücksichtigung von zwei weiteren Kinderfreibeträgen durch entsprechende Eintragung auf der Lohnsteuerkarte 1992 rechtswidrig war.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

1. Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Das FG verkennt, daß die vom Kläger im Juli 1992 in seinen Haushalt aufgenommenen zwei Kinder Pflegekinder i. S. des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG waren und dem Kläger somit ein Anspruch gemäß § 39 Abs. 3 a EStG auf Änderung der Zahl der Kinderfreibeträge auf seiner Lohnsteuerkarte für 1992 zustand.

a) Auch auf der Grundlage der vom Kläger nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, ist von einem Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und den von ihm im Juni 1992 aufgenommenen Kindern auszugehen. Entgegen der Auffassung des FG war mithin die Ablehnung der Eintragung zweier zusätzlicher Kinderfreibeträge auf der Lohnsteuerkarte des Klägers rechtswidrig.

Gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 EStG bescheinigt die Gemeinde auf der Lohnsteuerkarte die Zahl der Kinderfreibeträge für die dem Arbeitnehmer zuzurechnenden Kinder mit Ausnahme u. a. der Pflegekinder. Hat der Arbeitnehmer Pflegekinder, so ist die Zahl der Kinderfreibeträge vom FA auf Antrag entsprechend zu ändern (§ 39 Abs. 3 a EStG).

Pflegekinder i. S. des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist und die er in seinen Haushalt aufgenommen hat. Weitere Voraussetzung ist, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält.

Das FG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger im Streitjahr die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen und zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhalten hat. Es verkennt die Vorschrift aber insoweit, als es ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band unter Lösung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern verneint.

aa) Mit der Aufnahme der Kinder in den Haushalt des Klägers fanden diese dort ihr Zuhause, der Kläger und seine Ehefrau standen zu den Kindern in einer familienähnlichen Beziehung wie zu einem eigenen Kind. Wenn das FG verlangt, daß eine solche Eltern-Kind-Beziehung in der Regel nur dann begründet werden kann, wenn die Aufnahme mit dem Ziel der Vorbereitung einer Annahme an Kindes Statt erfolgt, so ist diese Auslegung des Begriffs des familienähnlichen Bandes zu eng. Auch ohne die Absicht einer Adoption kann eine ausreichend enge Eltern-Kind-Beziehung gegeben sein, wenn nämlich - wie im Streitfall der Kläger und seine Ehefrau - die Pflegeeltern das Kind wie ein eigenes betreuen, sämtliche wesentlichen Entscheidungen für das Kind treffen und für das Kind zu den maßgebenden Ansprechpartnern und damit zu Ersatzeltern geworden sind (s. hierzu auch das Urteil des Senats vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582).

Dieses familienähnliche Band war im Streitfall auch auf längere Dauer berechnet. Entgegen der Ansicht des FG ist insoweit kein Dauerzustand oder ein Fortbestehen des Pflegekindschaftsverhältnisses bis zur Volljährigkeit des Kindes erforderlich; es ist lediglich erforderlich, daß bei der Aufnahme des Kindes beabsichtigt ist, das Kind auf längere Dauer aufzunehmen. Dabei wird es sich um einen Zeitraum handeln müssen, der die Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses erlaubt. Dies ist bei Kleinkindern sicherlich ein kürzerer Zeitraum als bei schulpflichtigen Kindern. Andererseits ist es nicht erforderlich, daß das Verhältnis zeitlich unbegrenzt oder etwa bis zur Volljährigkeit des Kindes andauern soll (vgl. Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 32 EStG, Anm. 46). Es genügt, wenn nur unter gewissen Voraussetzungen mit einer vorzeitigen Beendigung des Zustandes zu rechnen ist oder die Pflegekindschaft mit einer - möglicherweise auch absehbaren - Veränderung der Lebenslage endet (vgl. bereits BFH-Urteil vom 17. Dezember 1952 IV 359/52 U, BFHE 57, 186, BStBl III 1953, 74). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Denn bei der Aufnahme der Kinder durch den Kläger und dessen Ehefrau war nicht absehbar, wann die Kriegssituation im ehemaligen Jugoslawien beendet sein würde und ob oder ggf. wann die Kinder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren könnten. Ebensowenig war vorhersehbar, daß die leibliche Mutter eines Tages - nach dem Tod des (leiblichen) Vaters - in die Bundesrepublik kommen und die Kinder hier in einer eigenen Wohnung wieder bei sich aufnehmen würde.

Keine entscheidende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Umstand zu, daß der Aufenthalt der Kinder ausländerrechtlich (noch) nicht endgültig abgesichert war. Auch insoweit muß kein Dauerzustand vorliegen. Es ist ausreichend, daß der Kläger und dessen Ehefrau die Absicht hatten, die Kinder auf längere Dauer bei sich aufzunehmen, und daß die Kinder sich dann auch tatsächlich längere Zeit bei ihnen in der Bundesrepublik aufhielten, weil von der Einleitung eines Abschiebungsverfahrens abgesehen wurde. Die vom FG geforderte rechtliche Absicherung des Aufenthalts widerspricht dem Charakter des Pflegekindschaftsverhältnisses als eines tatsächlichen Zustands (vgl. auch Herrmann/Heuer/Raupach, a. a. O., Anm. 42, 49).

bb) Entgegen der Auffassung des FG war im Streitjahr das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen den beiden Kindern und ihren leiblichen Eltern auch schon in dem von § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG verlangten Umfang gelöst.

Das FG hat insoweit zu Unrecht gefordert, daß die leiblichen Eltern die Absicht haben müßten, sich endgültig von ihren Kindern zu trennen, und daß diese Trennung mindestens bis zur Volljährigkeit der Kinder andauern müßte.

Der erkennende Senat sieht die betreffende Voraussetzung des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG bereits dann als erfüllt an, wenn - aus welchen Gründen auch immer - die Obhut und Pflege gegenüber einem Kind von seiten der leiblichen Eltern derart zurücktreten, daß sie im wesentlichen nur noch durch die Pflegeeltern ausgeübt werden (s. zuletzt ausführlich das Urteil in BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582). Wann dieser Zustand erreicht ist, läßt sich nach demselben Urteil nicht einheitlich für alle in Betracht kommenden Fälle entscheiden. Es ist vielmehr auf den Einzelfall abzustellen. Dabei sind das Alter des Kindes, die Anzahl und Dauer der Besuche der leiblichen Eltern bei dem Kind sowie die Frage zu berücksichtigen, ob und inwieweit vor der Trennung bereits ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern bestanden hat. Diese Kriterien sind je nach Lage des Falles unterschiedlich zu gewichten; auch können andere Umstände eine Rolle spielen.

Im Streitfall waren die Kinder zwar schon fast 9 und 15 Jahre alt, als sie vom Kläger und dessen Ehefrau in Obhut und Pflege genommen wurden; es bestand deshalb zu den leiblichen Eltern bereits ein viele Jahre andauerndes Obhuts- und Pflegeverhältnis. Gleichwohl geht der Senat davon aus, daß die Kinder - vor allem angesichts der Geborgenheit und Sicherheit, die ihnen der Kläger und dessen Ehefrau nach den erlebten Kriegsereignissen vermittelten - sehr schnell ein praktisch ausschließliches Obhuts- und Pflegeverhältnis zum Kläger und dessen Ehefrau aufbauten. Hinzu kommt, daß die Kinder in ihrer früheren Heimat kein Zuhause mehr hatten; die Familienwohnung in Sarajewo war zerstört, und die Eltern lebten getrennt in Gemeinschaftsunterkünften.

Besonderes Gewicht kommt im Streitfall schließlich auch dem Umstand zu, daß sich der Kontakt der Kinder zu ihren leiblichen Eltern auf kurze Telefonate in mehrmonatigen Abständen und auf gelegentliche briefliche Verbindungen durch Vermittlung von UNO-Bediensteten beschränkte.

Nach alledem ist davon auszugehen, daß der Kläger und seine Ehefrau nach der Aufnahme der beiden Kinder in ihren Haushalt für diese im Laufe der Zeit zu Ersatzeltern geworden sind, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern abgerissen war.

Im o. g. Urteil in BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582 hat der Senat allerdings auch gefordert, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen den leiblichen Eltern und dem Pflegekind auf längere Zeit aufgelöst sein müsse; auch dem Tatbestandsmerkmal des Nichtbestehens dieses (früheren) Obhuts- und Pflegeverhältnisses wohne ein Zeitmoment inne. In jenem Urteilsfall hat es der Senat als vertretbar angesehen, bei noch nicht schulpflichtigen Kindern in der Regel dann kein bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern mehr anzunehmen, wenn zwischen diesen und dem Kind mindestens ein Jahr lang keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichenden Kontakt mehr bestanden haben.

Im Streitfall geht der Senat davon aus, daß beide Kinder noch schulpflichtig waren, als sie zum Kläger und seiner Ehefrau kamen. Sie hatten zwei Jahre bzw. länger keine ausreichenden Kontakte zu ihren leiblichen Eltern; der Vater ist im Mai 1994 verstorben, die Mutter erst im September 1994 mit ihnen in der Bundesrepublik zusammengezogen.

Der Senat hält diesen Zeitraum für ausreichend, einen Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen den beiden Kindern und ihren leiblichen Eltern anzunehmen. Er lehnt sich dabei an die Praxis der Arbeitsämter an, wonach für schulpflichtige Kinder bei einer vorgesehenen Dauer von mindestens zwei Jahren von einem Pflegekindschaftsverhältnis mit Kindergeldberechtigung ausgegangen wird (s. hierzu Hönsch, Erziehungs- und Kindergeldrecht, 2. Aufl., Erläuterungen zum Bundeskindergeldgesetz, Rz. 368). Es besteht insoweit Einheitlichkeit in der steuer- und der kindergeldrechtlichen Beurteilung. Der Senat ist der Auffassung, daß eine einheitliche Beurteilung - abgesehen von Gründen der Vereinfachung des Rechts - auch wegen des sog. dualen Systems des Kinderlastenausgleichs durch Gewährung von Kindergeld und steuerlichen Entlastungen in Form des Kinderfreibetrags wünschenswert und geboten ist (vgl. auch Urteil des Senats vom 2. Juli 1993 III R 66/91, BFHE 172, 321, BStBl II 1994, 101). Dies wird u. a. auch dadurch bestätigt, daß der Begriff Pflegekind in § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG ebenfalls auf ein nicht bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen Pflegekindern und ihren leiblichen Eltern abstellt. Diese Begriffsidentität rechtfertigt die gleiche Auslegung des entsprechenden Tatbestandsmerkmals.

b) Da danach dem Kläger die beiden Kinderfreibeträge für das Streitjahr zustanden, kommt es auf die möglicherweise erhobenen Verfahrensrügen im Hinblick auf eine Verletzung der Hinweispflicht des FG und damit auch des rechtlichen Gehörs nicht mehr an.