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  BFH-Urteil vom 30.8.1995 (I R 162/94) BStBl. 1996 II S. 139

Verkündet ein FG ein erstes Endurteil nach mündlicher Verhandlung und sieht es sich später nicht in der Lage, das Urteil binnen fünf Monaten mit Entscheidungsgründen zu versehen, so darf es nicht erneut mündliche Verhandlung anberaumen und ein zweites Endurteil erlassen. Der entsprechende Fehler ist ein Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens, den der BFH von Amts wegen zu berücksichtigen hat.

FGO §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 118, 119 Nr. 6.

Sachverhalt

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH mit Sitz und Geschäftsleitung im Inland, die in dem Streitjahr 1982 ein positives Einkommen (vor Verlustrücktrag) in Höhe von rd. 3,5 Mio. DM und in den Streitjahren 1983 und 1984 negative Einkommen in Höhe von rd. 1,25 Mio. DM (1983) bzw. 0,91 Mio. DM (1984) erzielte. Die Verluste aus den Jahren 1983 und 1984 wurden nach 1982 rückgetragen. Für das Jahr 1982 verblieb ein positives Einkommen nach Verlustrücktrag von rd. 1,35 Mio. DM, das nach dem Körperschaftsteuerbescheid 1982 vom 27. September 1991 mit einer tariflichen Körperschaftsteuer in Höhe von 454.309 DM belastet war.

In den Einkommen 1982 bis 1984 sind im Inland steuerpflichtige, positive ausländische Einkünfte aus Nigeria, Pakistan, Gabun und Elfenbeinküste enthalten. Teilweise lasten auf diesen Einkünften auch ausländische Steuern. Für diese Einkünfte nahm die Klägerin die Anrechnung oder den Abzug ausländischer Steuern gemäß § 26 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) in Anspruch. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) ordnete die Einkünfte bei der Gliederung des verwendbaren Eigenkapitals (vEK) zum 31. Dezember 1982 vor Verlustrücktrag teils dem EK 56 und teils dem EK 36 zu. Die für 1983 und 1984 erzielten Verluste ordnete das FA insgesamt dem EK 02 zu (Bescheide vom 2. und 27. September 1991).

Mit Bescheid vom 27. September 1991 gliederte das FA das vEK zum 31. Dezember 1982 nach Verlustrücktrag neu. Dabei berechnete es den Anteil, den die in 1982 im Inland steuerpflichtigen ausländischen Einkünfte an den gesamten Einkünften ausmachten, mit 43,7978 v. H. Den Verlustrücktrag aus 1983 und 1984 verrechnete es in Höhe von 43,7978 v. H. mit den steuerpflichtigen ausländischen Einkünften. Dabei wurden die aus den verschiedenen Staaten stammenden ausländischen Einkünfte noch einmal nach ihrem Verhältnis untereinander aufgeteilt. Dadurch ergab sich ein Zugang der ausländischen Einkünfte per 31. Dezember 1982 zum EK 01 und zum EK 36.

Gegen die Bescheide legte die Klägerin erfolglos zunächst Einspruch und später Klage ein. Sie war und ist der Auffassung, daß auch im Verlustfall gliederungsrechtlich zwischen inländischen und ausländischen Einkünften zu differenzieren sei. Sie begehrte zum 31. Dezember 1982 eine Verminderung des EK 56 und des EK 01 und eine Erhöhung des EK 36 und des EK 02, zum 31. Dezember 1983 und 1984 eine Erhöhung des EK 01 und eine Verminderung des EK 02.

Das Finanzgericht (FG) raumte mündliche Verhandlung auf den 16. November 1993 an. In derselben war die Richterbank mit den Berufsrichtern A, B und C und den ehrenamtlichen Richtern W und X besetzt. Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde der Beschluß verkündet, daß eine Entscheidung am Schluß der Sitzung verkündet werde. Am Schluß der Sitzung wurde die Sache erneut aufgerufen, die Öffentlichkeit wieder hergestellt und das Urteil verkündet, daß die Klage abgewiesen werde und die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe.

Nach Aktenlage wurde das Urteil vom 16. November 1993 nicht mit Entscheidungsgründen versehen. Der Vorsitzende anberaumte eine erneute mündliche Verhandlung auf den 14. Juli 1994. In dieser Sitzung war die Richterbank mit den Berufsrichtern A, B und D sowie den ehrenamtlichen Richtern Y und Z besetzt. Die Klägerin war in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten. Wiederum wurde am Ende der Sitzung das Urteil verkündet, daß die Klage abgewiesen werde und die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe. Das vollständig begründete Urteil vom 14. Juli 1994 wurde der Klägerin am 9. August 1994 zugestellt. Sie legte am 9. September 1994 beim FG Nichtzulassungsbeschwerde ein, der das FG durch Beschluß vom 20. September 1994 stattgab. Der Beschluß wurde der Klägerin am 26. September 1994 zugestellt. Sie legte am 25. Oktober 1994 beim FG Revision ein, die fristgerecht mit der Verletzung materiellen Rechts begründet wurde.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des FG vom 14. Juli 1994 VI 665/88 aufzuheben und die angefochtenen Feststellungsbescheide entsprechend der Klagebegründung zu ändern.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Dem FG ist ein Verfahrensfehler unterlaufen, der die Grundordnung des Verfahrens berührt und deshalb vom Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen ist (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 118 Rdnr. 50). Das FG hat am 16. November 1993 aufgrund mündlicher Verhandlung gemäß § 104 Abs. 1 FGO das Urteil verkündet, daß die Klage abgewiesen werde und die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe. Bei diesem Urteil, das vom FG in der Besetzung mit den Berufsrichtern A, B und C und den ehrenamtlichen Richtern W und X gefällt wurde, handelt es sich um ein Endurteil, durch das über den Rechtsstreit in der Hauptsache für die Instanz endgültig entschieden wurde. Für dieselbe Instanz war innerhalb des ersten Rechtszuges ein weiteres Urteil in der Hauptsache nicht möglich. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß das Urteil vom 16. November 1993 nie mit Entscheidungsgründen versehen wurde. Aus § 119 Nr. 6 FGO folgt im Umkehrschluß, daß auch ein nicht mit Gründen versehenes Urteil als solches existent ist und ggf. mit der Revision angefochten werden muß. Das FG durfte deshalb kein zweites Endurteil aufgrund einer erneuten mündlichen Verhandlung erlassen, nachdem es festgestellt hatte, daß es das Urteil vom 16. November 1993 nicht fristgerecht mit Entscheidungsgründen versehen konnte (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1993, 674, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1993, 2603). Es hätte das Urteil vom 16. November 1993 ggf. verspätet mit Entscheidungsgründen versehen, den Beteiligten zustellen und es ihrer Entscheidung überlassen müssen, ob sie darauf eine Revision stützen wollten.

2. Der Erlaß eines zweiten Endurteils nach dem vorherigen Erlaß eines Ersturteils innerhalb desselben Rechtszuges und derselben Instanz berührt die sog. Grundordnung des Verfahrens. Der BFH kann das zweite Endurteil revisionsrechtlich nicht überprüfen, ohne die Frage nach den Rechtswirkungen des Ersturteils zu beantworten. Von der Antwort auf die Frage, ob das zweite Endurteil überhaupt ergehen durfte, hängt die Gültigkeit und Rechtswirksamkeit des Revisionsverfahrens ab. Die Revision der Klägerin muß schon deshalb durchgreifen, weil das zweite Endurteil mit Rücksicht auf das vorher erlassene keinen Bestand haben kann. Würde der BFH nur den Revisionsanträgen der Klägerin stattgeben, so bliebe ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen der gedachten Revisionsentscheidung und dem tatsächlich erlassenen ersten Endurteil bestehen. Deshalb muß der Senat den Verfahrensfehler von Amts wegen aufgreifen.

3. Die Klägerin hat keinen genauen Antrag im Revisionsverfahren gestellt. Der Senat geht jedoch davon aus, daß die Anfechtung und die Aufhebung beider Urteile im mutmaßlichen Interesse der Klägerin liegt. Er hält sich deshalb für befugt, sowohl das Urteil vom 16. November 1993 als auch das Urteil vom 14. Juli 1994 aufzuheben. Beide Urteile sind fehlerhaft. Das Urteil vom 14. Juli 1994 hätte mit Rücksicht auf das vorher verkündete Urteil vom 16. November 1993 nicht ergehen dürfen. Das Urteil vom 16. November 1993 ist i. S. des § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen (vgl. HFR 1993, 674; NJW 1993, 2603). Es wäre prozeßökonomisch sinnlos, wenn der Senat nur das Urteil vom 14. Juli 1994 aufheben würde. Zwar würde das FG auf diese Weise gezwungen, das Urteil vom 16. November 1993 mit Entscheidungsgründen zu versehen und den Beteiligten zuzustellen. Dies würde jedoch nur eine weitere Revision auslösen, deren Ergebnis schon heute feststeht. Angesichts dieser Rechtslage sind aufgrund der Revision der Klägerin beide Urteile als formell fehlerhaft aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Dies hat im zweiten Rechtszug eine formell fehlerfreie Entscheidung zu treffen. Sollte der Senat den Antrag der Klägerin falsch gedeutet haben, so hätte sie nach einem Antrag auf mündliche Verhandlung Gelegenheit, dies richtig zu stellen.