| Home | Index | EStG | Neuzugang | Impressum  
       

 

 

 

 

 

  BFH-Urteil vom 6.9.1995 (XI R 37/95) BStBl. 1996 II S. 148

Eine Änderung nach § 174 Abs. 2 AO 1977 ist nicht auf den Fall der irrtümlichen Doppelberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts beschränkt.

AO 1977 § 174 Abs. 2.

Sachverhalt

I.

In der am 26. Januar 1981 beim damals zuständigen Finanzamt X eingegangenen Umsatzsteuer-Erklärung für 1979 machte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) u. a. Vorsteuerbeträge aus dem Bauvorhaben der Bauherrengemeinschaft B (BHG) in Höhe von 17.849,40 DM geltend. Das Finanzamt X erteilte seine Zustimmung zur Steuerfestsetzung gemäß § 168 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977).

Das Finanzamt W teilte dem Finanzamt X als Ergebnis einer steuerlichen Außenprüfung bei der BHG mit, daß umsatzsteuerrechtlich eine Innengesellschaft vorliege und jeder Beteiligte selbst Unternehmer sei. Die 1979 abgezogenen Vorsteuerbeträge wurden dem Jahr 1980 zugeordnet. Unter dem 8. Dezember 1987 erließ das Finanzamt X entsprechende Änderungsbescheide für 1979 und 1980. Der Einspruch der Klägerin gegen den Änderungsbescheid für 1979, in dem die Vorsteuerbeträge von 17.849,40 DM nicht mehr berücksichtigt waren, wurde von dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) zurückgewiesen. Die Klage vor dem Finanzgericht (FG) hatte Erfolg. Das FG vertrat die Auffassung, daß der ursprüngliche Bescheid wegen Fehlens einer Änderungsnorm nicht habe geändert werden dürfen. § 174 Abs. 2 AO 1977 betreffe nur die Fälle, in denen irrtümlich derselbe Sachverhalt doppelt erfaßt worden sei.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 174 Abs. 2 AO 1977.

Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat sich nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das angefochtene Urteil verletzt § 174 Abs. 2 AO 1977; die Feststellungen des FG reichen nicht aus, um über die Anwendung des § 174 Abs. 2 AO 1977 entscheiden zu können.

1. Gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ist ein fehlerhafter Bescheid aufzuheben oder zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise mehrfach zugunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist. Der fehlerhafte Bescheid darf nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 jedoch nur dann geändert werden, wenn die Berücksichtigung des Sachverhalts auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.

2. Entgegen der Auffassung des FG kommt auch bei bewußt herbeigeführten widerstreitenden Steuerfestsetzungen eine Änderung nach § 174 Abs. 2 AO 1977 in Betracht. Der Auffassung des FG, daß § 174 Abs. 2 AO 1977 nur die Fälle der irrtümlichen (unbewußten) Doppelberücksichtigung erfasse, ist nicht zu folgen. Dem Wortlaut der Regelung entspricht - wie auch das FG anerkennt - eine solche Auslegung nicht. Der Zweck der Norm gebietet keine einschränkende Auslegung. Dem Vertrauen in die Bestandskraft eines Steuerbescheids wird dadurch Rechnung getragen, daß nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 eine Änderung nur dann möglich ist, wenn der Steuerpflichtige selbst (allein oder überwiegend) die fehlerhafte Berücksichtigung verursacht hat (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. September 1983 IV R 227/80, BFHE 139, 347, BStBl II 1984, 510; dazu auch Begründung zu § 155 des Regierungsentwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks VI/1982, S. 154; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 174 AO 1977, Tz. 9 a). Ist das der Fall, kann das FA einen zutreffenden Bescheid erlassen und den fehlerhaften Bescheid nach § 174 Abs. 2 AO 1977 ändern.

Auch nach der Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 153/154) erfaßt § 174 Abs. 2 AO 1977 nicht nur die Fälle irrtümlicher Doppelberücksichtigung. Dort wird der Fall der irrtümlichen Zuordnung einer Einnahme zu verschiedenen Besteuerungszeiträumen nur beispielhaft erwähnt. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 174 Abs. 1 und 2 AO 1977 ausschließlich auf diese Fälle ist der Begründung nicht zu entnehmen.

3. Im Streitfall sind die Vorsteuerbeträge infolge der gebotenen Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 1980 sowohl im Zeitraum 1979 als auch im Zeitraum 1980 abgezogen worden; der dem Abzug der Vorsteuerbeträge zugrunde liegende Sachverhalt ist daher in unvereinbarer Weise mehrfach zugunsten der Klägerin berücksichtigt worden.

Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Änderungsbescheides für 1979 hängt davon ab, ob die (fehlerhafte) Berücksichtigung des Sachverhalts in dem fehlerhaften ursprünglichen Bescheid auf einen Antrag oder eine Erklärung der Klägerin zurückzuführen ist (dazu vgl. BFH-Urteile vom 21. Oktober 1980 VIII R 186/78, BFHE 132, 182, BStBl II 1981, 388, und in BFHE 139, 347, BStBl II 1984, 510; Begründung zu § 155 des Regierungsentwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks VI/1982, S. 154; Tipke/Kruse, a. a. O., Tz. 9 a f.). Dies kann der Senat nicht beurteilen, da das FG zu dieser Frage keine Sachverhaltsfeststellungen getroffen hat.